Dombey und Sohn

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Vierzehntes Kapitel. Paul wird immer altmodischer und geht nach Hause in die Ferien.

Beim Nahen der Sommerferien zeigten sich keine besonderen Kundgebungen von Freude unter den bleiäugigen jungen Gentlemen, die in Doktor Blimbers Haus versammelt waren; denn ein ungestümer Ausbruch von Wonne hätte sich durchaus nicht für eine so feine Anstalt geschickt. Die jungen Gentlemen fuhren jeder halbjährlich in ihre Heimat; von einem eigentlichen Aufbrechen dahin war keine Rede, denn eine solche Tätigkeit würden sie geringschätzig von sich abgelehnt haben.

Tozer, der beharrlich durch eine steife weiße Halsbinde gequält wurde – er trug diese lästige Beigabe auf den ausdrücklichen Wunsch der Mrs. Tozer, seiner Mutter, die ihn für die Kirche bestimmt hatte und der Meinung war, er könne diese vorbereitende Stufe nicht zu früh beginnen – Tozer meinte sogar, wenn man ihm zwischen zwei Übeln die Wahl ließe, würde er lieber bleiben, wo er wäre, als nach Hause gehen. Diese Erklärung war jedenfalls sehr aufrichtig, wie sehr sie auch im Widerspruch war mit einem Aufsatz Tozers über diesen Gegenstand, in dem er bemerkt hatte, »die Gedanken an die Heimat und alle Erinnerungen weckten in ihm die angenehmsten Empfindungen der Wonne und des Glücks;« ja er hatte sich, um ein passendes Bild einflechten zu können, mit einem römischen General verglichen, der in triumphierendem Taumel über eine kürzliche Besiegung der Izener oder beladen mit der karthagischen Beute nur noch wenige Stunden von dem Kapitol stand. Es hatte nämlich den Anschein, als besäße Tozer einen schrecklichen Onkel, der ihn während der Ferien nicht nur über dunkle Punkte examinierte, sondern auch unschuldige Anlässe und Dinge mit einflocht, um sie zu demselben schnöden Zwecke an den Haaren herbeizuziehen. Wenn ihn z.B. sein Onkel in ein Schauspiel oder unter einem ähnlichen Vorwand des Wohlwollens zu einem Riesen, Zwerg, Taschenspieler oder sonst wohin mitnahm, so wußte Tozer im voraus, der alte Gentleman habe über den beabsichtigten Gegenstand irgendeine klassische Anspielung gelesen, und geriet dabei in wahre Todesangst, weil er nicht vorauswissen konnte, wo die Sache losbrechen oder welche Autorität gegen ihn zitiert würde. Was Briggs betraf, so bediente sich sein Vater keiner derartigen Kunstgriffe, sondern erklärte ihm zu allen Stunden und bei jeder Gelegenheit das Gewehr. Ja, diese geistigen Prüfungen waren während der Ferienzeit für diesen unglücklichen Menschen so zahlreich und grausam, daß die Freunde der Familie, die damals in der Nähe von Bayswater bei London wohnte, sich selten jenem künstlich angelegten Teiche in den Kensington-Gärten näherten, ohne sich der Besorgnis hinzugeben, sie würden den Hut des Master Briggs auf dem Spiegel des Wassers schwimmen und eine unvollendete Aufgabe an dem Ufer liegen sehen. Briggs war daher in betreff der Ferien durchaus nicht sanguinisch; und diese beiden Schlafkameraden des kleinen Paul waren so schöne Proben von der Gemütsstimmung der jungen Gentlemen im allgemeinen, daß auch die schwungkräftigsten darunter der Annäherung solcher festlichen Perioden mit gelassener Resignation entgegensahen.

Ganz anders verhielt sich's bei dem kleinen Paul. Das Ende dieser ersten Ferienzeit sollte ihn von Florence trennen; aber wer denkt je an das Ende von Ferien, die noch nicht begonnen haben? Paul gewiß nicht. Mit dem Näherkommen dieser glücklichen Zeit wurden die Löwen und Tiger, die an den Schlafkammerwänden hinaufkletterten, ganz zahm und lustig. Die grimmigen schiefen Gesichter in dem eingelegten Stubenboden erschienen milder und guckten mit weniger boshaften Augen heraus. Die ernste alte Wanduhr legte in die Weise ihrer Frage mehr persönliches Interesse, und die rastlose See rollte die ganze Nacht durch unter wehmütigen, aber doch angenehmen Lauten, als wollte sie durch das Spiel ihrer Wellen ihn in Schlaf wiegen.

Auch Mr. Feeder, B.A.,schien sich auf die Ferien recht sehr zu freuen, und Mr. Toots entwarf sich von dieser Periode an einen Plan zu lauter Festtagen. Er pflegte nämlich Paul regelmäßig jeden Tag mitzuteilen, dies sei sein letztes halbes Jahr, das er bei Doktor Blimber zubringe, und dann werde er ohne weiteres in den Genuß seines Vermögens eintreten.

Zwischen Paul und Mr. Toots stand es vollkommen fest, daß sie, ungeachtet des Abstandes der Jahre und der Stellung sehr innige Freunde waren. Wie nun die Ferien näher heranrückten und Mr. Toots, so oft er in Pauls Gesellschaft kam, schwerer atmete und die Augen weiter aufriß, las Paul darin ein Leid darüber, daß sie sich so bald aus dem Gesicht verlieren sollten, und war ihm für seine Gönnerschaft und gute Meinung dankbar.

Ebenso war es für Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber sowohl als für die jungen Gentlemen im allgemeinen kein Geheimnis, daß Toots sich in irgendeiner Weise selbst zum Beschützer und Vormund von Paul aufgeworfen habe, und der Umstand war sogar für Mrs. Pipchin so notorisch, daß die gute alte Dame eine bittere Eifersucht gegen Toots fühlte, weshalb sie ihn auch in dem Heiligtum ihres Heimwesens wiederholt als einen dickköpfigen Einfaltspinsel bezeichnete. Der nichts ahnende Toots dagegen hatte ebensowenig eine Idee davon, daß er Mrs. Pipchins Groll geweckt haben könnte, als er überhaupt an irgendeine andere bestimmte Möglichkeit oder Folgerung dachte. Im Gegenteil, er war geneigt, sie in dem Lichte eines ziemlich merkwürdigen Charakters zu betrachten, der viele interessante Punkte darbot. Aus diesem Grunde lächelte er ihr mit großer Leutseligkeit zu und fragte sie bei Gelegenheit ihrer kleinen Besuche bei Paul so oft, wie sie sich befinde, daß sie ihm zuletzt eines Abends unverhohlen erklärte, sie sei an dergleichen nicht gewöhnt, was er auch von ihr denken möge; sie könne und wolle es nun einmal nicht dulden, weder von ihm noch von irgendeinem anderen Gecken in der Welt. Über diese unerwartete Erwiderung seiner Höflichkeiten geriet Mr. Toots so in Schrecken, daß er sich, bis sie fort war, in einen abgeschiedenen Platz verkroch und sein Gesicht nie wieder blicken ließ, wenn sich die mannhafte Mrs. Pipchin unter Doktor Blimbers Dache zeigte.

Es waren noch zwei oder drei Wochen bis zum Beginn der Ferien, als eines Tages Miß Cornelia Blimber Paul in ihr Zimmer berief und zu ihm sagte:

»Dombey, ich bin im Begriff, deinem Vater deine Analysis zu schicken.«

»Danke Euch, Ma'am«, versetzte Paul.

»Du weißt doch, was ich damit sagen will, Dombey?« fragte Miß Blimber, indem sie den Knaben scharf durch ihre Brille ins Auge faßte.

»Nein, Ma'am«, entgegnete Paul.

»Dombey, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich fange an, zu fürchten, daß du ein kläglicher Knabe bist. Wenn du den Sinn eines Ausdrucks nicht verstehst, warum verlangst du nicht Belehrung darüber?«

»Mrs. Pipchin sagte mir, ich solle keine Fragen stellen«, erwiderte Paul.

»Ich muß dich bitten, Dombey, mich ja nicht Mrs. Pipchin gegenüber zu erwähnen«, sagte Miß Blimber. »Ich kann dies durchaus nicht gestatten. Der Studienplan in unserer Anstalt verträgt sich ganz und gar nicht mit etwas der Art. Eine Wiederholung solcher Anspielungen würde mich nötigen, dir aufzuerlegen, daß du morgen früh vor dem Frühstück vom verbum personale an bis hinab zum simillima cigno den ganzen Abschnitt ohne Anstoß auswendig hersagst.«

»Das habe ich nicht wollen, Ma'am«, begann der kleine Paul.

»Ich muß dich bitten, mich nicht mit dem zu behelligen, was du nicht meinst, Dombey«, versetzte Miß Blimber, die in ihren Ermahnungen stets eine ehrfurchtgebietende Feinheit beobachtete. »Dies wäre eine Art von Erwiderung, an deren Zulassung ich nicht im Traume denken möchte.«

Paul hielt es für das Geratenste, gar nichts mehr zu sagen, und blickte deshalb nur zu Miß Blimbers Brille auf. Nachdem diese dann gravitätisch den Kopf geschüttelt hatte, deutete sie auf ein vor ihr liegendes Papier.

»›Analysis des Charakters von P. Dombey‹. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, fügte Miß Blimber abbrechend hinzu, »so wird das Wort Analysis im Gegensatz von Synthesis von Walker also definiert: ›die Auflösung eines Objekts, mag dies nun ein solches für die Sinne oder den Verstand sein, in seine ersten Elemente‹. Du bemerkst – im Gegensatz zur Synthesis. Jetzt weißt du, was Analysis ist, Dombey?«

Es hatte den Anschein, als sei Dombey nicht absolut geblendet von dem Licht, das seinem Geiste vorgeführt wurde; er machte daher vor Miß Blimber eine kleine Verbeugung.

»›Analysis‹, nahm Miß Blimber wieder auf, indem sie ihre Blicke über das Papier gleiten ließ, »›des Charakters von P. Dombey. Ich finde, daß die natürlichen Anlagen Dombeys ungemein gut sind, und daß im allgemeinen seine Geneigtheit zum Studium in gleicher Weise prädiziert werden kann. Nehmen wir nun acht als unsere höchste und erforderliche Nummer an, so stellt es sich heraus, daß Dombeys derartige Qualifikationen je mit 6 ¾ bezeichnet werden dürften‹.«

Miß Blimber hielt inne, um zu sehen, wie Paul diese Neuigkeit aufnahm. Da der Knabe nun nicht wußte, ob unter sechs drei Viertel, sechs Pfund fünfzehn Schillinge, oder sechs Pence und drei Farthings, vielleicht auch sechs Fuß drei Zoll, drei Viertel über sechs Uhr, oder sechs andere Dinge nebst drei Bruchteilen darüber, von denen er noch nichts gehört hatte, gemeint waren, so rieb er sich die Hände und schaute Miß Blimber gerade ins Gesicht. Zufälligerweise stimmte dies ebenso gut als irgend etwas anderes, was er hätte sagen können, und Cornelia fuhr fort.

»›Gewalttätigkeit – zwei. Selbstsucht – zwei. Vorliebe für gemeine Gesellschaft, wie sich im Falle einer Person namens Glubb herausgestellt hat – ursprünglich sieben, seitdem aber gemindert. Gentlemanisches Benehmen – vier, sich bessernd mit fortschreitenden Jahren‹. Worauf ich nun aber zuvörderst deine Aufmerksamkeit lenken möchte, Dombey, dies ist der allgemeine Überblick am Schluß dieser Analysis.«

 

Paul schickte sich an, demselben mit großer Sorgfalt zu folgen. »Im allgemeinen kann von Dombey bemerkt werden,« sprach Miß Blimber, mit lauter Stimme vorlesend und nach jedem zweiten Wort ihre Brille auf die kleine Gestalt vor ihr richtend, »daß seine Fähigkeiten und Neigungen gut sind, er außerdem auch so viele Fortschritte gemacht hat, als den Umständen nach nur von ihm erwartet werden konnte. Indes ist zu beklagen, daß dieser junge Gentleman in seinem Charakter und Benehmen eine Eigentümlichkeit hat, die man gewöhnlich altmodisch nennt – daß er oft ganz und gar nicht ist wie andere junge Gentlemen seines Alters und seiner gesellschaftlichen Stellung, ohne sich übrigens etwas dabei zu Schulden kommen zu lassen, was entschieden eine Rüge verdiente. »Nun, Dombey«, fügte Miß Blimber bei, indem sie das Papier niederlegte, »verstehst du dies?«

»Ich glaube, Ma'am«, sagte Paul.

»Du siehst, Dombey«, fuhr Miß Blimber fort, »diese Analysis soll an deinen wertgeschätzten Vater geschickt werden. Es wird ihm natürlich sehr schmerzlich fallen, wenn er finden muß, daß du so absonderlich in deinem Charakter und Benehmen bist. Auch uns wird es, wie sich begreifen läßt, zu einem peinlichen Gefühl, denn du siehst selbst ein, Dombey, daß wir dich um dieses Umstandes willen nicht so lieben können, wie wir gern möchten.«

Sie faßte hier den Knaben an einem verfänglichen Punkte, denn in seinem Innern war es, da die Zeit der Abreise herannahte, mit jedem Tage mehr sein angelegentliches Verlangen gewesen, daß alle im Hause ihn lieben möchten. Aus irgendeinem geheimen Grunde, den er – wenn überhaupt – nur unvollkommen verstand, fühlte er eine allmählich sich steigernde Zuneigung fast für jeden Gegenstand und für alle Personen seiner Umgebung, Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man gleichgültig gegen ihn sein könnte, wenn er weg wäre, und sehnte sich deshalb danach, man möchte ihn in freundlicher Erinnerung behalten. Ja, er hatte sich's sogar zur Aufgabe gemacht, einen großen, wilden, zottigen Hund, der an der Hinterseite des Hauses an einer Kette lag und früher der Schrecken seines Lebens gewesen war, so für sich zu gewinnen, daß das Tier ihn vermissen möchte, wenn er nicht länger da wäre. Wenig daran denkend, daß er hierin aufs neue nur wieder den Unterschied zwischen sich und seinen Kameraden zeigte, machte der arme kleine Paul Miß Blimber Vorstellungen, so gut er konnte, und bat sie, daß sie, ungeachtet der offiziellen Analysis, die Güte haben möchte, es doch zu versuchen, ob sie ihn nicht lieben könne. Da eben Mrs. Blimber kam, so stellte er an diese Dame dasselbe Gesuch, und als sie sich sogar in seiner Gegenwart nicht enthalten konnte, ihrer oft wiederholten Ansicht Worte zu leihen und zu erklären, daß er ein merkwürdiges Kind sei, entgegnete Paul, er sei überzeugt, daß sie hierin vollkommen recht habe; er wisse es freilich nicht, und er glaube, es müsse in ihm liegen, aber eben deshalb hoffe er, sie werde es übersehen, denn er habe sie alle so lieb.

»So lieb natürlich nicht«, fuhr Paul mit einer Mischung von Schüchternheit und unverhohlenem Freimut fort, die zu den eigentümlichsten und gewinnendsten Eigenschaften des Kindes gehörten – »so lieb nicht wie Florence, denn dies wäre unmöglich. Dies könnt Ihr gewiß auch nicht erwarten, Ma'am.«

»O, die altmodische kleine Seele!« bemerkte Mrs. Blimber im Flüstertone.

»Aber ich liebe jedermann hier recht sehr«, fuhr Paul fort, »und es würde mir leid tun, wenn ich bei meinem Weggehen denken müßte, es sei irgend jemand froh, daß ich fort sei, oder es kümmerte sich niemand um mich.«

Mrs. Blimber kam nicht recht mit sich ins klare, ob Paul nicht das seltsamste Kind von der Welt sei, und als sie dem Doktor den Vorfall mitteilte, wußte dieser der Ansicht der Gattin nichts entgegenzuhalten. Er bemerkte übrigens, wie schon bei einer früheren Gelegenheit, als Paul zum erstenmal ins Haus kam, das Studium werde viel tun, weshalb er denn auch jetzt seiner Tochter den Rat gab, sie solle nur rasch vorwärts mit ihm zu kommen suchen.

Cornelia hatte freilich schon alles aufgeboten, was in ihren Kräften lag, und dadurch Pauls Leben bitterlich vergällt. Aber abgesehen davon, daß der Knabe sich alle Mühe gab, seine Aufgaben zu erlernen, hatte er sich doch auch noch ein anderes Ziel gesteckt, an dem er eifrig festhielt. Er war ein sanftes, anstelliges, ruhiges Bürschlein, das sich stets Mühe gab, sich die Liebe und Anhänglichkeit seiner Umgebung zu erringen, und obgleich man ihn oft auf seinem alten Posten an der Treppe oder an seinem einsamen Fenster sah, wo er die Wellen und Wolken beobachtete, so fand man ihn doch noch öfter unter den übrigen Knaben, denen er in aller Bescheidenheit manche freiwillige kleine Dienste leistete. So kam es denn, daß selbst unter diesen starren, vom Studium in Anspruch genommenen jungen Anachoreten, die sich unter Doktor Blimbers Dach abquälten, Paul ein Gegenstand allgemeinen Interesses war – ein gebrechliches kleines Spielzeug, das man insgesamt gern hatte, und das niemand rauh behandelt haben würde. Aber sie konnten weder Pauls Wesen ändern, noch seine Analysis umschreiben, und so waren alle darin einig, daß der kleine Dombey ein altmodischer Knabe sei.

Indes knüpften sich an diesen Charakter manche Vorrechte, deren sich niemand anders erfreute. Man hätte weit eher ein neumodisches Kind missen können, und dies allein war schon viel. Wenn an Abenden, ehe man zu Bett ging, die übrigen sich nur vor Doktor Blimber und seiner Familie verbeugten, pflegte Paul sein Händchen auszustrecken und es sowohl dem Doktor, als auch Mrs. Blimber und Cornelia hinzureichen. Handelte sich's darum, von jemand eine Strafe durch Fürbitte abzuwenden, so war Paul stets der Abgesandte. Sogar der blödsichtige junge Mann hatte sich einmal mit ihm beraten, als es eine Ungeschicklichkeit in betreff von Glas und Porzellan zu vermitteln gab, und man trug sich mit dem unbestimmten Gerücht, daß selbst der Aufwärter ihm eine Geneigtheit erweise, wie dieser finstere Mann sie nie zuvor gegen einen sterblichen Knaben an den Tag gelegt hatte, indem er zuweilen in sein Tischbier etwas Porter mischte, um ihm mehr zu Kräften zu verhelfen.

Außer diesen sehr umfangreichen Privilegien erfreute sich Paul noch des Rechtes, frei in Mr. Feeders Zimmer treten zu dürfen, aus dem er Mr. Toots zweimal in die Luft hinausgeführt hatte, weil dieser Gentleman infolge eines unglücklichen Versuchs, eine sehr starke Zigarre zu rauchen, fast ohnmächtig geworden war. Diese Zigarre war ein Exemplar aus einem Bündel, das Mr. Toots am Ufer heimlich einem verzweifelten Schmuggler abgekauft hatte, der ihm selbst im Vertrauen mitteilte, daß von der Zollbehörde zweihundert Pfund, tot oder lebendig, auf seinen Kopf gesetzt seien. Mr. Feeders Zimmer war klein, und in einem Alkoven nebenan stand das Bett des Lehrgehilfen. Über dem Kamin hing eine Flöte, die Mr. Feeder noch nicht spielen konnte, obschon er, wie er sagte, im Begriffe war, sie nächstens zu lernen. Man sah auch einige Bücher und eine Angelrute, denn Mr. Feeder versicherte, er werde sich's sicherlich angelegen sein lassen, fischen zu lernen, sobald er Zeit dazu finde. In ähnlicher Absicht hatte sich Mr. Feeder auch ein schönes kleines Klapphorn aus zweiter Hand angeschafft – ferner ein Schachbrett mit Figuren, eine spanische Grammatik, Zeichenmaterial und ein Paar Boxhandschuhe. Die Kunst der Selbstverteidigung, meinte Mr. Feeder, müsse er sich ohne Zweifel zunächst zu eigen machen; dies sei die Pflicht eines jeden Mannes, da sie leicht dazu Anlaß gebe, zum Schutze für ein bedrängtes Frauenzimmer einzustehen.

Das Hauptbesitztum des Mr. Feeder bestand jedoch in einer großen grünen Flasche mit Schnupftabak, die Mr. Toots beim Schlusse der letzten Ferien als Geschenk mitgebracht und für die er einen hohen Preis bezahlt hatte, weil sie versichertermaßen früher im Besitz des Prinz-Regenten gewesen war. Zwar konnte weder Mr. Toots noch Mr. Feeder von diesem oder irgendeinem andern Schnupftabak, selbst in den winzigsten Dosen, Gebrauch machen, ohne von einem wahren Nieskrampfe befallen zu werden, aber dennoch machte es ihnen großes Vergnügen, eine Dosis mit kaltem Tee anzufeuchten, die Masse auf einem Pergamentstreifen mit der Papierschere durchzukneten und hin und wieder etwas davon zu konsumieren. Während sie so ihre Nasen vollstopften, ertrugen sie die erstaunlichsten Plagen mit der Beharrlichkeit von Märtyrern, und wenn sie in Zwischenräumen Tafelbier dazu tranken, empfanden sie an sich alle die Herrlichkeit üppiger Verschwendung.

Für den kleinen Paul, der oft stumm in ihrer Gesellschaft an der Seite seines Hauptgönners Mr. Toots saß, hatten diese Schlemmerstunden einen wahren Zauber, und wenn Mr. Feeder von den dunkeln Mysterien Londons sprach, oder Mr. Toots sich dahin äußerte, daß er in den nächsten Ferien alle Verzweigungen derselben persönlich aufs genaueste beobachten wolle – ja, daß er zu diesem Zwecke bereits Vorkehrungen getroffen habe, um bei zwei alten Jungfern zu Peckham in die Kost gehen zu können, sah ihn Paul an, als sei er der Held irgendeines Buchs voll von wilden Reise- und andern Abenteuern, und kriegte fast Angst vor einer so mutigen Person.

Eines Abends, als die Ferien nur noch um einige Tage entfernt waren, kam Paul in dieses Zimmer und traf Mr. Feeder, wie dieser eben in einigen gedruckten Schreiben freigelassene Stellen ausfüllte, während einige andere, deren Lücken bereits ergänzt waren, zerstreut umherlagen und von Mr. Toots gefaltet und gesiegelt wurden.

»Ah, bist du'«, Dombey?« – denn die beiden waren stets sehr freundlich gegen ihn und freuten sich, ihn zu sehen. Dann fuhr der Lehrgehilfe fort, indem er einen der Briefe ihm hinwarf: »Wir haben dich auch da, Dombey. Dieses Schreiben gilt dir.«

»Mir, Sir?« fragte Paul.

»Ja, 's ist deine Einladung«, entgegnete Mr. Feeder.

Paul betrachtete das Papier und fand, mit Ausnahme seines Namens und des Datums, die von Mr. Feeder eingetragen waren, in Kupferdruck, daß Doktor und Mrs. Blimber sich das Vergnügen von Mr. P. Dombeys Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monats erbäten; die Stunde sei halb acht Uhr und der Zweck seien Quadrillen. Mr. Toots zeigte ihm dann, indem er einen ähnlichen Bogen Papier entfaltete, daß Doktor und Mrs. Blimber sich auch das Vergnügen von Mr. Toots Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monate erbaten: die Stunde gleichfalls um halb acht Uhr und der Zweck wären Quadrillen. Während nun Paul den Tisch überblickte, an dem Mr. Feeder saß, bemerkte er, daß Doktor und Mrs. Blimber zu derselben gentilen Gelegenheit sich nicht nur das Vergnügen der Gesellschaft von Mr. Briggs und Mr. Tozer, sondern auch von einem jeden jungen Gentleman der Anstalt erbaten.

Mr. Feeder teilte ihm sofort zu seiner großen Freude mit, daß auch Florence eingeladen sei. Es handle sich um ein halbjährlich wiederkehrendes Fest, und da mit diesem Tage auch die Ferien beginnen würden, so könne er, wenn er wolle, unmittelbar von dieser Partie aus mit seiner Schwester den Heimweg antreten – eine Mitteilung, die Paul mit großer Freude aufnahm, indem er sagte, daß er sich recht sehr auf die Rückreise freue. Mr. Feeder gab ihm sodann zu verstehen, man erwarte von ihm, er werde Doktor und Mrs. Blimber in einem sehr schönen Handschreiben mitteilen, daß Mr. P. Dombey sich glücklich schätze, wenn er infolge der höflichen Einladung die Ehre haben könne, seine Aufwartung zu machen. Zum Schluß bemerkte der Lehrgehilfe noch weiter, er werde gut tun, in der Nähe des Doktors und der Miß Blimber des festlichen Anlasses nicht zu erwähnen, da die Präliminarien und sämtliche Vorbereitungen nach den Grundsätzen der Klassizität und der seinen Bildung eingeleitet würden; es müsse nämlich den Anschein gewinnen, als hätten einerseits der Doktor und Mrs. Blimber, andererseits aber die jungen Gentlemen in ihren scholastischen Kapazitäten nicht die mindeste Vorstellung von dem, was in Aussicht stehe.

Paul dankte Mr. Feeder für diese Andeutungen, steckte seine Einladung in die Tasche und setzte sich, wie gewöhnlich, neben Mr. Toots auf einen Schemel nieder. Aber Paul fühlte diesen Abend, daß sein Kopf, der ihn schon lange Zeit mehr oder weniger geschmerzt hatte, recht schwer und leidend wurde – so schwer, daß er ihn mit der Hand stützen mußte. Gleichwohl sank er allmählich immer weiter und weiter nieder, bis er auf Mr. Toots' Knie zu liegen kam, wo er ruhen blieb, als habe er nicht im Sinn, sich je wieder aufzurichten.

Dies war nun gerade kein Grund, warum er taub sein mußte; indes mochte es doch, wie er meinte, bei ihm so weit gekommen sein, denn er vernahm endlich, wie ihm Mr. Feeder in die Ohren rief und ihn leicht schüttelte, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Und als er ganz verschüchtert den Kopf erhob und umherschaute, fand er, daß sich Doktor Blimber im Zimmer befand, das Fenster offen stand und seine Stirne von zum Besprengen gebrauchtem Wasser feucht war, obschon er sich durchaus nicht denken konnte, wie all dies ohne sein Wissen vor sich gegangen sein sollte.

 

»Ah! recht so! So ist's gut! Wie geht es jetzt meinem kleinen Freund?« sagte Doktor Blimber ermutigend.

»O, ganz gut, danke Euch, Sir«, sagte Paul.

Mit dem Boden schien es übrigens eine eigentümliche Bewandtnis zu haben, denn Paul konnte nicht fest darauf stehen, und etwas Ähnliches mußte mit den Wänden der Fall sein, denn sie hatten Lust, stets sich im Kreise zu drehen, und konnten nur dann festgehalten werden, wenn er recht scharf darnach hinsah. Mr. Toots' Kopf sah aus, als sei er mit einem Male viel größer geworden und befinde sich in einem weit größeren Abstand als sonst, und als dieser Gentleman Paul auf seine Arme nahm, um ihn die Treppe hinaufzutragen, bemerkte der Knabe mit großem Erstaunen, daß sich die Tür an einem ganz anderen Platz befand, als er sie zu finden erwartete, ja, es kam ihm anfangs vor, als gehe Mr. Toots mit ihm geradeswegs den Schornstein hinauf.

Es war von Mr. Toots sehr freundlich, daß er Paul mit so viel Zartheit nach dem oberen Teile des Hauses hinauftrug, und der Kleine drückte ihm seine Anerkennung aus. Mr. Toots aber sagte, er würde gern noch viel mehr für ihn tun, wenn er könnte, und tat es auch, indem er Paul auskleiden half, ihn aufs liebevollste zu Bett brachte und dann unter vielem Kichern neben dem Lager Platz nahm. Mr. Feeder, B. A., dagegen lehnte sich über die untere Seite der Bettstelle weg, strich mit seinen knöchernen Händen die kleinen Borsten seines Kopfes bolzgerade, als habe er Lust, nun alles wieder recht sei, mit großer Wissenschaftlichkeit und als echter Kampfhahn gegen Paul anzurennen. Dies war so ungemein spaßhaft und obendrein so freundlich von Mr. Feeder, daß Paul, der nicht recht mit sich ins klare kommen konnte, ob er über ihn lachen oder weinen sollte, lieber beides zugleich tat.

Wie sodann Mr. Toots hinwegging und Mr. Feeder sich in Mrs. Pipchin umwandelte, – Paul dachte nicht daran, hierüber eine Frage zu stellen und war durchaus nicht neugierig, es zu erfahren – als er übrigens statt Mr. Feeder Mrs. Pipchin an der Unterseite des Bettes stehen sah, rief er ihr zu:

»O, Mrs. Pipchin, sagt es Florence nicht.«

»Was soll ich Florence nicht sagen, mein kleiner Paul«, fragte Mrs. Pipchin, indem sie um das Bettchen herum ging und sich auf den Stuhl setzte.

»Wie es mit mir steht«, sagte Paul.

»Nein, nein«, entgegnete Mrs. Pipchin.

»Was glaubt Ihr wohl, was ich zu tun gedenke, wenn ich groß bin, Mrs. Pipchin?« sagte Paul, indem er auf seinem Kissen das Antlitz gegen sie kehrte und das Kinn auf seinen gefalteten Händchen ruhen ließ.

Mrs. Pipchin konnte es nicht erraten.

»Ich habe im Sinne«, fuhr Paul fort, »all mein Geld miteinander in eine einzige Bank zu legen. Ich werde nie versuchen, noch mehr zu kriegen, sondern will mit meiner lieben Florence aufs Land ziehen, mir einen schönen Garten mit Feldern und Wäldern anschaffen und dort mein ganzes Leben mit ihr zubringen.«

»Wirklich?« rief Mrs. Pipchin.

»Ja«, sagte Paul, »So will ich's halten, wenn ich –«

Er hielt inne und sann einen Augenblick nach.

Mrs. Pipchins graues Auge forschte in seinem sinnigen Gesicht.

»Wenn ich groß bin«, sagte Paul.

Dann fuhr er fort, Mrs. Pipchin von der Abendpartie, von Florences Einladung und von der Freude zu erzählen, die es ihm machen werde, Zeuge der Bewunderung zu sein, die alle die Knaben für sie fühlen müßten; sie seien auch so freundlich gegen ihn, liebten ihn, und er liebe sie gleichfalls – ein Verhältnis, über das er recht froh sei. Auch von der Analysis wußte er zu erzählen: er sei freilich ein altmodischer Knabe, möchte aber doch auch Mrs. Pipchins Ansicht darüber hören, – ob sie nämlich nicht wisse, warum es so sei und was man darunter verstehen müsse. Mrs. Pipchin leugnete, um sich der Schwierigkeit auf die kürzeste Weise zu entwinden, die Tatsache geradezu ab: Paul war jedoch mit dieser Antwort durchaus nicht zufrieden und sah Mrs. Pipchin, um ihr eine wahrere Antwort abzuringen, so spähend an, daß sie aufstehen und zum Fenster hinaussehen mußte, um seine Augen zu vermeiden.

Es gab einen gewissen zuverlässigen Apotheker, der, wenn einer von den jungen Gentlemen krank war, die Anstalt ärztlich zu beraten pflegte, und auch dieser geriet – Gott weiß wie – in das Zimmer, um sich neben Mrs. Blimber an dem Bett aufzustellen. Paul hatte wenigstens nicht die mindeste Idee davon, wie sie hereingekommen und wie lange sie dagewesen waren: als er sie aber sah, richtete er sich in seinem Bett auf, beantwortete sämtliche Fragen des Apothekers ausführlich und flüsterte ihm zu, Florence dürfe um alles in der Welt nichts davon erfahren, denn er habe sich's in den Kopf gesetzt, daß sie sich bei der Abendgesellschaft einfinden müsse. Er plauderte viel mit dem Apotheker und sie schieden als die besten Freunde: als er sich jedoch mit geschlossenen Augen wieder niederlegte, hörte er außerhalb des Zimmers und in weiter Entfernung den Apotheker sagen – oder träumte er nur davon –, es handle sich um einen Mangel an vitalen Kräften (Paul hätte gar gern wissen mögen, was dieser Ausdruck zu bedeuten habe) und um eine große konstitutionelle Schwäche. Da der Kleine darauf erpicht sei, am siebenzehnten sich von seinen Schulkameraden zu verabschieden, so könne man ihm wohl den Willen lassen, falls es bis dahin nicht schlimmer mit ihm werde. Er sei froh, von Mrs. Pipchin zu erfahren, daß der Knabe am achtzehnten zu seinen Freunden nach London abreise. Sobald er in der Sache klarer sehe, wolle er noch vor Beginn der Ferien an Mr. Dombey schreiben. Es sei kein unmittelbarer Grund vorhanden, zu – was? Dieses Wort war Paul entgangen. Das Bürschlein habe ein recht liebes Gemüt, sei aber gleichwohl ein altmodischer Knabe.

Welche alte Mode mochte man wohl damit im Auge haben? Paul wunderte sich darüber mit klopfendem Herzen. Sie mußte ihm wohl sehr deutlich aufgedrückt sein, weil sie von so vielen Leuten bemerkt wurde.

Er konnte jedoch in der Sache nicht ins klare kommen und mochte sich auch nicht lange damit abmühen. Mr«. Pipchin befand sich wieder an seinem Bett, wenn sie sich überhaupt je davon entfernt hatte. Er meinte zwar, sie sei mit dem Doktor weggegangen, aber dies war vielleicht bloß ein Traum gewesen. Kurz, sie nahm in geheimnisvoller Weise eine Flasche und ein Glas in die Hand und schenkte den Inhalt für ihn ein. Sodann genoß er eine wirklich gute Brühe, die ihm Mrs. Blimber selbst gebracht hatte, und er fühlte sich so wohl nachher, daß Mrs. Pipchin, seinen dringenden Bitten entsprechend, nach Hause ging und Mrs. Briggs und Tozer heraufkamen, um sich zu Bett zu legen. Der arme Briggs räsonierte schrecklich über seine eigene Analysis, die ihn kaum mehr hätte dekomponieren können, wenn sie ein wirklicher chemischer Prozeß gewesen wäre: indes benahm er sich sehr freundlich gegen Paul, und Tozer, wie auch alle übrigen, taten das gleiche, denn von den jungen Gentlemen schaute vor dem Schlafengehen einer nach dem andern herein und fragte, wie es Dombey jetzt gehe – er solle nur wohlgemut sein, und dergleichen. Nachdem Briggs in die Federn gekrochen war, blieb er noch lange Zeit wach liegen und lamentierte in einem fort über seine Analysis, indem er sagte, »er wisse wohl, sie sei durchaus falsch, und man hätte einen Mörder nicht schlechter analysieren können – wie es wohl Doktor Blimber gefallen würde, wenn er wisse, daß sein Taschengeld davon abhänge. Es sei sehr leicht, meinte Briggs, einen Knaben für ein halbes Jahr zum Galeerensklaven zu machen und ihn dann als einen Müßiggänger anzuschwärzen – zweimal in der Woche ihn um sein Mittagessen zu verkürzen und ihn dann als einen Fresser zu bezeichnen. So etwas«, sagte er, »könne man sich unmöglich gefallen lassen«, und dann ging es noch geraume Zeit mit Ach und O fort.