David Copperfield

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Ich stel­le mir mein eig­nes klei­nes Ich vor, wie ich in dem schwach er­hell­ten Zim­mer, den Kopf in die Hand ge­stützt, sit­ze und der kläg­li­chen Mu­sik Mr. Mells zu­hö­re und die Auf­ga­ben für den nächs­ten Tag ler­ne. Ich sehe mich, wie ich die Bü­cher weg­ge­legt habe und im­mer noch den kläg­li­chen Me­lo­di­en Mr. Mells lau­sche, und ich höre dar­in, was mir frü­her das müt­ter­li­che Haus war, höre den Wind we­hen über die Dü­nen von Yar­mouth und füh­le mich be­drückt und ein­sam. Ich sehe, wie ich zu Bet­te gehe in dem un­gast­li­chen Zim­mer und mich auf das Bett set­ze und mich mit Trä­nen nach ei­nem trös­ten­den Wort von Peg­got­ty seh­ne. Ich sehe mich, wie ich früh die Trep­pe her­un­ter­kom­me und durch ein Gang­fens­ter auf dem Da­che ei­nes Häu­schens drau­ßen die große Schul­glo­cke be­trach­te mit ei­ner Wet­ter­fah­ne dar­über, und wie ich mich vor der Zeit fürch­te, wo sie J. Steer­forth und die üb­ri­gen zur Ar­beit ru­fen wird, was an Schreck­lich­keit nur von dem Zeit­punkt über­trof­fen wird, wo der Mann mit dem Holz­bein das ros­ti­ge Tor auf­schlie­ßen und den furcht­ba­ren Mr. Cre­akle ein­las­sen wird. Ich glau­be nicht, dass ich in mei­ner Fan­ta­sie mir ge­fähr­lich vor­kam, aber ich trug doch die War­nung auf dem Rücken!

Mr. Mell sprach nie­mals viel mit mir, aber er war nie­mals rau ge­gen mich. Ich glau­be, wir leis­te­ten ein­an­der gute Ge­sell­schaft, auch ohne mit­ein­an­der zu spre­chen. Manch­mal re­de­te er mit sich selbst, lach­te vor sich hin, ball­te die Faust, knirsch­te mit den Zäh­nen und rauf­te sich die Haa­re in gar nicht zu schil­dern­der Wei­se. Er hat­te nun ein­mal die­se Ei­gen­tüm­lich­kei­ten. Erst flö­ßten sie mir Furcht ein, aber bald ge­wöhn­te ich mich dar­an.

6. Kapitel – Ich erweitere den Kreis meiner Bekanntschaft

So hat­te ich un­ge­fähr einen Mo­nat ge­lebt, als der Mann mit dem höl­zer­nen Bein mit dem Be­sen und dem Was­serei­mer her­um­zu­hum­peln be­gann, wor­aus ich schloss, dass man sich auf den Empfang Mr. Cre­akles und der Schü­ler vor­be­rei­te­te. Ich hat­te mich nicht ge­irrt. Es dau­er­te nicht lan­ge, so kam der Be­sen in die Schul­stu­be und ver­dräng­te Mr. Mell und mich. Ein paar Tage lang muss­ten wir uns im gan­zen Hau­se her­um­drücken und wa­ren be­stän­dig zwei oder drei Mäd­chen, die ich vor­her nie ge­se­hen hat­te, im Wege und fort­wäh­rend so in Staub gehüllt, dass ich im­mer­fort nie­sen muss­te, als ob Sa­lem­haus eine ein­zi­ge große Schnupf­ta­baks­do­se ge­we­sen wäre.

Ei­nes Ta­ges sag­te mir Mr. Mell, dass Mr. Cre­akle abends an­kom­men wer­de. Nach dem Tee hör­te ich, dass er da war. Vor dem Schla­fen­ge­hen hol­te mich der Mann mit dem höl­zer­nen Bein zu ihm. Mr. Cre­akles Teil des Hau­ses sah viel an­ge­neh­mer aus als der un­se­re, hat­te einen klei­nen Gar­ten, der sich sehr hübsch aus­nahm ver­gli­chen mit dem stau­bi­gen Spiel­platz, der so sehr eine Wüs­te in Mi­nia­tur war, dass sich bloß ein Ka­mel oder ein Dro­me­dar dar­in hät­te wohl füh­len kön­nen. Ich ge­trau­te mich kaum, al­les das an­zu­bli­cken, als ich zit­ternd durch­ging. Ich war so ver­schüch­tert, dass ich kaum Mrs. Cre­akle oder Miss Cre­akle be­merk­te oder über­haupt et­was an­de­res sah als Mr. Cre­akle, einen di­cken Herrn mit ei­ner mäch­ti­gen Uhr­ket­te und Ber­lo­ques dar­an, der in ei­nem Lehn­stuhl saß und Glas und Fla­sche ne­ben sich ste­hen hät­te.

»So«; sag­te Mr. Cre­akle, »das ist also der jun­ge Herr, dem die Zäh­ne ab­ge­feilt wer­den müs­sen! Dreh ihn um.«

Der Mann mit dem höl­zer­nen Bein dreh­te mich um und zeig­te das Pla­kat. Dann, als Mr. Cre­akle es ge­le­sen, dreh­te er ihm wie­der mein Ge­sicht zu und stell­te mich ne­ben ihn. Mr. Cre­akles Ge­sicht glüh­te förm­lich, und sei­ne klei­nen Au­gen la­gen tief im Kopf. Er hat­te di­cke Adern auf der Stirn, eine klei­ne Nase, ein großes Kinn, eine Glat­ze und spär­li­ches, feucht aus­se­hen­des Haar, das an­fing, grau zu wer­den, und so von den Schlä­fen nach oben ge­bürs­tet war, dass sich die En­den auf dem Schei­tel be­geg­ne­ten. Was mir am meis­ten auf­fiel, war, dass er mit flüs­tern­der Stim­me sprach. Die An­stren­gung, die ihn das kos­te­te, oder das Be­wusst­sein, nicht lau­ter re­den zu kön­nen, mach­ten sein zor­ni­ges Ge­sicht noch zor­ni­ger, und die di­cken Adern noch di­cker beim Spre­chen, so­dass ich mich nicht wun­de­re, wenn die­ser Zug sei­nes Äu­ßern am le­ben­digs­ten in mei­ner Erin­ne­rung fort­lebt.

»Was ist von dem Kna­ben zu mel­den?« frag­te er.

»Es liegt noch nichts ge­gen ihn vor«, er­wi­der­te der Mann mit dem Stelz­fuß. »Es hat sich noch kei­ne Ge­le­gen­heit er­ge­ben.«

Mr. Cre­akle schi­en ent­täuscht zu sein. Mrs. und Miss Cre­akle hin­ge­gen, die ich jetzt zum ers­ten Mal an­sah, und die bei­de ha­ger und dünn wa­ren, durch­aus nicht.

»Komm her«, sag­te Mr. Cre­akle und wink­te mir.

»Komm her«, sag­te der Mann mit dem Stelz­fuß und wie­der­hol­te die Ge­bär­de.

»Ich habe das Glück, dei­nen Stief­va­ter zu ken­nen«, flüs­ter­te Mr. Cre­akle und nahm mich beim Ohr. »Er ist ein wür­di­ger Mann und ein Mann von star­kem Cha­rak­ter. Er kennt mich und ich ken­ne ihn. Kennst du mich auch? He?« und er zwick­te mich mit grau­sa­mer Scherz­haf­tig­keit ins Ohr.

»Noch nicht, Sir«, sag­te ich, vor Schmerz zu­rück­wei­chend.

»Noch nicht? He?« wie­der­hol­te Mr. Cre­akle. »Aber du wirst es bald. He?«

»Wirst bald!« wie­der­hol­te der Mann mit dem Stelz­fuß.

Ich fand spä­ter her­aus, dass er mit sei­ner star­ken Stim­me als Mr. Cre­akles Sprach­rohr den Kna­ben ge­gen­über auf­trat.

Ich war ganz ver­schüch­tert und sag­te, ich hoff­te es, wenn er er­laub­te.

Mir war die gan­ze Zeit über, als ob mein Ohr in Flam­men stün­de, so fest hat­te er mich ge­knif­fen.

»Ich will dir sa­gen, was ich bin«, flüs­ter­te Mr. Cre­akle und kniff mich noch ein­mal zum Ab­schied, dass mir das Was­ser in die Au­gen trat. »Ich bin ein Ei­sen­schä­del.«

»Ein Ei­sen­schä­del«, sag­te der Mann mit dem höl­zer­nen Bein.

»Wenn ich sage, ich will et­was tun, so tue ich es, und wenn ich sage, es soll et­was ge­sche­hen, so muss es ge­sche­hen.«

»Soll et­was ge­sche­hen, so muss es ge­sche­hen«, wie­der­hol­te der Mann mit dem Stelz­fuß.

»Ich bin ein un­beug­sa­mer Cha­rak­ter. Das bin ich. Ich tue mei­ne Pf­licht. Die tue ich im­mer. Mein eig­nes Fleisch und Blut – er sah bei die­sen Wor­ten Mrs. Cre­akle an – ist nicht mehr mein Fleisch und Blut, wenn es sich mir wi­der­setzt. Ich ver­sto­ße es. Ist der Kerl wie­der da­ge­we­sen?« frag­te er dann den Mann mit dem höl­zer­nen Bein.

»Nein«, war die Ant­wort.

»Nein«, sag­te Mr. Cre­akle. »Er weiß, warum. Er kennt mich. Er soll sich vor mir hü­ten. Ich sage, er soll sich vor mir hü­ten.« Und Mr. Cre­akle schlug mit der Faust auf den Tisch und sah Mrs. Cre­akle an. »Denn er kennt mich. Jetzt hast du an­ge­fan­gen, mich auch ken­nen­zu­ler­nen, jun­ger Freund. Du kannst ge­hen. Führ ihn fort.«

Ich war sehr froh, ge­hen zu dür­fen, denn Mrs. und Miss Cre­akle wisch­ten sich bei­de die Au­gen und ich fühl­te mich ih­ret­we­gen noch un­be­hag­li­cher als mei­net­hal­ben, aber ich hat­te eine Bit­te auf dem Her­zen, die mich so drück­te, dass sie her­aus muss­te, ob­gleich ich mich selbst über mei­nen Mut wun­der­te.

»Ver­zei­hen Sie, Sir.«

Mr. Cre­akle flüs­ter­te: »Ha, was ist das!« und bohr­te sei­ne Au­gen in mei­ne, als ob er mich ver­bren­nen woll­te.

»Ver­zei­hen Sie, Sir«, stot­ter­te ich, »wenn Sie mir er­lau­ben woll­ten, Sir, – ich be­reue doch so sehr, was ich ge­tan habe, – den Zet­tel mit der Schrift ab­zu­le­gen, ehe die Kna­ben zu­rück­kom­men –«

Ob Mr. Cre­akle Ernst mach­te oder nur so tat, um mich zu er­schre­cken, weiß ich nicht. Aber er sprang mit sol­cher Hef­tig­keit von sei­nem Stuh­le auf, dass ich ei­lig re­ti­rier­te, ohne die Beglei­tung des Man­nes mit dem Stelz­fuß ab­zu­war­ten, und erst wie­der in mei­nem Schlaf­zim­mer Halt mach­te. Als ich mich nicht ver­folgt sah, ging ich zu Bett und lag zit­ternd und be­bend ein paar Stun­den da.

Am nächs­ten Mor­gen kehr­te Mr. Sharp zu­rück. Mr. Sharp war ers­ter Leh­rer und stand über Mr. Mell. Mr. Mell aß mit den Schü­lern, er hin­ge­gen an Mr. Cre­akles Tisch. Er war ein schmäch­ti­ger, zart aus­se­hen­der Mann mit ei­ner großen Nase und ei­ner Art, den Kopf auf der Sei­te zu tra­gen, als ob er ihm ein we­nig zu schwer wäre. Sein Haar war sehr weich und ge­lockt. Der ers­te Schü­ler, der zu­rück­kam, sag­te, es wäre eine Perücke, – eine »ab­ge­leg­te«, wie er es nann­te, und Mr. Sharp gin­ge je­den Sams­tagnach­mit­tag aus, um sie sich bren­nen zu las­sen.

Es war nie­mand an­ders als Tom­my Tradd­les, der mir dies ver­riet. Er war der ers­te Kna­be, der zu­rück­kehr­te. Er stell­te sich mir mit den Wor­ten vor, sein Name stün­de in der rech­ten Ecke des Tors auf dem obers­ten Qu­er­bal­ken.

»Tradd­les?« frag­te ich, wor­auf Tom­my er­wi­der­te: »Der­sel­bi­ge.« Und dann for­der­te er von mir vol­le Aus­kunft über mich und mei­ne Fa­mi­lie ab.

Ein Glück für mich, dass Tradd­les zu­erst zu­rück­ge­kom­men war. Ihm mach­te das Pla­kat so viel Spaß, dass er mich aus ei­ner großen Ver­le­gen­heit ret­te­te, in­dem er mich je­dem ein­zel­nen Jun­gen mit den Wor­ten vor­stell­te: »Schau her, das ist ein Jux.« Ein wei­te­res Glück war, dass der größ­te Teil der Schü­ler sehr nie­der­ge­schla­gen zu­rück­kehr­te, und sich auf mei­ne Kos­ten nicht so viel Spä­ße er­laub­te, als ich ge­fürch­tet hat­te. Ei­ni­ge tanz­ten al­ler­dings um mich her­um, wie wil­de In­dia­ner; die meis­ten konn­ten der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen, zu tun, als ob ich ein Hund wäre, und mich zu strei­cheln und zu be­sänf­ti­gen, da­mit ich nicht bis­se, und zu sa­gen: »Schön le­gen« und mich Schnap­sel zu nen­nen. Das war na­tür­lich un­ter so viel Frem­den un­an­ge­nehm und kos­te­te mich man­che Trä­ne, aber im gan­zen großen lief es viel bes­ser ab, als ich mir vor­ge­stellt hat­te.

 

In al­ler Form in die Schu­le auf­ge­nom­men galt ich je­doch nicht eher, als bis J. Steer­forth an­kam. Vor die­sen Kna­ben, der für un­ge­mein ge­lehrt galt und sehr hübsch aus­sah und min­des­tens ein hal­b­es Dut­zend Jah­re äl­ter war als ich, führ­te man mich wie vor einen Rich­ter. Un­ter ei­nem Schutz­dach auf dem Spiel­platz be­frag­te er mich über die Ein­zel­hei­ten mei­ner Stra­fe und ge­ruh­te sei­ne Mei­nung da­hin aus­zu­spre­chen, dass das eine Af­fen­schan­de sei und ein Rie­sen­jux, wo­für ich ihm für alle Zeit dank­bar blieb.

»Wie viel Geld hast du mit, Cop­per­field?« frag­te er, als er nach­her mit mir bei­sei­te­ging und die An­ge­le­gen­heit mit be­sag­ten Aus­drücken er­le­digt hat­te.

Ich sag­te ihm, ich hät­te sie­ben Schil­lin­ge.

»Es ist bes­ser, du gibst sie mir zum Auf­he­ben. Üb­ri­gens kannst du das tun, wenn du willst. Du brauchst es auch nicht zu tun, wenn du nicht willst.«

Ich be­eil­te mich, sei­nem freund­li­chen Wink zu fol­gen, öff­ne­te Peg­got­tys Bör­se und schüt­te­te sie in sei­ne Hand aus.

»Willst du jetzt et­was da­von aus­ge­ben?« frag­te er mich.

»Nein, ich dan­ke«, ent­geg­ne­te ich.

»Du kannst, wenn du Lust hast. Du brauchst es nur zu sa­gen.«

»Nein, ich dan­ke«, wie­der­hol­te ich.

»Vi­el­leicht möch­test du ein paar Schil­lin­ge an eine Fla­sche Jo­han­nis­beer­wein wen­den«, mein­te Steer­forth. »Du ge­hörst doch zu mei­nem Schlaf­raum, nicht?«

Es war mir vor­her nichts der­glei­chen ein­ge­fal­len, aber ich sag­te: »Ja, das möch­te ich.«

»Sehr gut«, sag­te Steer­forth. »Und einen Schil­ling viel­leicht in Man­del­ku­chen.«

»Ja, auch das.«

»Und einen Schil­ling für Bis­kuits und einen für Obst, nicht wahr?« sag­te Steer­forth. »Cop­per­field, du machst dich.«

Ich lä­chel­te, weil er lach­te. Aber in­ner­lich fühl­te ich mich doch ein we­nig be­un­ru­higt.

»Gut«, sag­te Steer­forth, »wir müs­sen se­hen, dass es recht lang reicht, nur dar­auf kommts an. Ich will al­les tun, was in mei­ner Macht steht. Üb­ri­gens kann ich aus­ge­hen, wann ich will, und wer­de den Plun­der schon her­ein­schmug­geln.«

Mit die­sen Wor­ten steck­te er das Geld in die Ta­sche und sag­te mir gü­tig, ich sol­le mich nicht grä­men, er wer­de schon al­les in die Hand neh­men.

Er hielt Wort; in­ner­lich kam es mir wie ein Un­recht vor, dass ich mei­ner Mut­ter bei­de hal­be Kro­nen so un­nütz ver­schwen­de­te. Das Stück Pa­pier aber, in dem das Geld ein­ge­wi­ckelt ge­we­sen, be­wahr­te ich auf wie einen kost­ba­ren Schatz. Als wir zu Bet­te gin­gen, wi­ckel­te er aus, was er für die gan­zen sie­ben Schil­lin­ge ge­kauft hat­te, und leg­te es im Mond­schein auf das Bett und sag­te:

»So, klei­ner Cop­per­field, ein kö­nig­li­ches Mahl hast du be­kom­men.«

So lang er an­we­send war, konn­te ich bei mei­nem Al­ter nicht dar­an den­ken, die Hon­neurs des Fes­tes zu ma­chen. Bei dem blo­ßen Ge­dan­ken dar­an zit­ter­te mir die Hand. Ich bat ihn, den Vor­sitz zu über­neh­men, und da die an­de­ren Schü­ler im Schlaf­zim­mer mei­nen Wunsch un­ter­stütz­ten, gab er nach und nahm auf mei­nem Kopf­kis­sen Platz. Er teil­te die Le­bens­mit­tel aus; ich muss sa­gen, voll­kom­men un­par­tei­isch, und ließ den Jo­han­nis­beer­wein in ei­nem klei­nen Gla­se ohne Fuß, das ihm ge­hör­te, her­um­ge­hen. Ich saß zu sei­ner Lin­ken, und die üb­ri­gen hat­ten sich auf die nächs­ten Bet­ten und auf dem Fuß­bo­den um uns her­um grup­piert.

Wir sa­ßen da zu­sam­men und spra­chen flüs­ternd mit­ein­an­der. Oder bes­ser ge­sagt, die an­de­ren spra­chen, und ich hör­te ehr­er­bie­tig zu. Das Mond­licht fiel ins Zim­mer und mal­te ein blei­ches Fens­ter auf den Fuß­bo­den; die meis­ten von uns sa­ßen im Dun­keln, nur Steer­forth tauch­te zu­wei­len ein Zünd­hölz­chen in die Phos­phor­büch­se, wenn er et­was auf dem Ti­sche su­chen woll­te, was je­des Mal einen blau­en Schein über uns er­goss, der gleich wie­der er­losch. Ein Ge­fühl des Ge­heim­nis­vol­len, her­vor­ge­ru­fen durch die Dun­kel­heit, die Heim­lich­keit des Ge­la­ges und den flüs­tern­den Ton, in dem sich alle un­ter­hiel­ten, be­schleicht mich wie­der, und ich höre al­len zu mit ei­nem dunklen Ge­fühl der Ehr­furcht und des Grau­ens, das mich froh sein lässt, dass sie alle so nahe sind. Und wenn ich auch tue, als la­che ich, so klopft mir doch das Herz, wenn Tradd­les ein Ge­s­penst in der Ecke zu se­hen be­haup­tet. Ich höre al­ler­lei Ge­schich­ten über die Schu­le und was mit ihr zu­sam­men­hängt, höre, dass Mr. Cre­akle nicht ohne Grund ein Ei­sen­schä­del zu sein be­haup­tet, dass er der strengs­te al­ler Leh­rer sei und je­den Tag scho­nungs­los und un­barm­her­zig über die Kna­ben her­fal­le und um sich schlü­ge; – dass er wei­ter nichts kön­ne als die Kunst des Prü­gelns und, wie J. Steer­forth sag­te, un­wis­sen­der sei als der letz­te in der Schu­le und vor vie­len, vie­len Jah­ren ein klei­ner Hop­fen­händ­ler in ei­nem Markt­fle­cken ge­we­sen sei und das Schul­leh­rer­ge­schäft erst an­ge­fan­gen habe, als er in Hop­fen Bank­rott ge­macht und Mrs. Cre­akles Ver­mö­gen ver­braucht habe. Ich er­fuhr noch vie­ler­lei der Art und staun­te, dass sie so viel wuss­ten.

Ich hör­te, dass der Mann mit dem Stelz­fuß, der Ton­gay hieß, ein hart­her­zi­ger Bar­bar, frü­her auch im Hop­fen­ge­schäft ge­we­sen und mit Mr. Cre­akle zum Schul­fach über­ge­gan­gen sei, weil er das Bein in Mr. Cre­akles Dienst ge­bro­chen und man­cher­lei schmut­zi­ge Ge­schäf­te für ihn ver­rich­tet hat­te und um alle sei­ne Ge­heim­nis­se wüss­te, hör­te, dass Ton­gay mit Aus­nah­me Mr. Cre­akles die gan­ze An­stalt, Schul­leh­rer und Kna­ben, als sei­ne na­tür­li­chen Fein­de be­trach­te, und dass es die ein­zi­ge Freu­de sei­nes Le­bens sei, mür­risch und bos­haft zu sein. Ich hör­te, dass Mrs. Cre­akle einen Sohn habe, den Ton­gay nicht hat­te aus­ste­hen kön­nen, und der ein­mal als Un­ter­leh­rer in der Schu­le sei­nem Va­ter Vor­stel­lun­gen über die zu grau­sa­me Züch­ti­gung ei­nes Kna­ben ge­macht und ge­gen die Art, wie Cre­akle sei­ne Gat­tin be­han­del­te, pro­tes­tiert hät­te. Ich hör­te, dass Mr. Cre­akle ihn des­we­gen ver­sto­ßen hät­te, und dass Mrs. und Miss Cre­akle dar­über sehr be­küm­mert sei­en.

Das Wun­der­bars­te aber war, dass ein Kna­be in der Schu­le sei, an den Mr. Cre­akle nie­mals wag­te, die Hand an­zu­le­gen, näm­lich J. Steer­forth. Steer­forth selbst be­stä­tig­te das und sag­te, er möch­te es gern ein­mal se­hen, wenn Cre­akle so was pro­bie­ren woll­te. Als ein klei­ner schüch­ter­ner Jun­ge frag­te, was er in so ei­nem Fall denn tun wür­de, brann­te er ein Zünd­holz an, wie um einen hel­len Schein über sei­ne Ant­wort zu ver­brei­ten, und sag­te, er wür­de ihn zu­erst ein­mal mit der schwe­ren Tin­ten­fla­sche, die im­mer auf dem Ka­min stand, zu Bo­den schla­gen. Eine Zeit lang sa­ßen wir dann atem­los im Dun­keln da.

Ich ver­nahm, dass Mr. Sharp und Mr. Mell ver­mut­lich bei­de sehr schlecht be­zahlt wür­den, und dass, wenn war­mes und kal­tes Fleisch auf Mr. Cre­akles Ta­fel stün­de, man beim Mit­ta­ges­sen von Mr. Sharp stets er­war­te, er wer­de kal­tes vor­zie­hen, was wie­der­um von Steer­forth, der al­lein an der Ta­fel des Vor­ste­hers aß, be­stä­tigt wur­de. Ich ver­nahm, dass Mr. Sharp sei­ne Perücke nicht ge­nau pas­se, und dass er da­mit gar nicht so groß zu tun – auf­zu­dre­hen, wie es ei­ner nann­te – brauch­te, da man ganz deut­lich se­hen könn­te, wie sein ro­tes Haar dar­un­ter her­vor­schaue. Ich hör­te fer­ner, dass ein Schü­ler, der Sohn ei­nes Koh­len­händ­lers, da wäre in Ge­gen­rech­nung für be­zo­ge­ne Koh­len, und dass man ihn des­halb Wech­sel- oder Tausch­ge­schäft, wel­che Be­zeich­nung aus dem Arith­me­tik­buch stamm­te, be­nann­te. Ich hör­te, dass das Tisch­bier eine an den El­tern ver­üb­te Räu­be­rei und der Pud­ding eine Un­ver­schämt­heit wäre. Ich hör­te, dass man in der Schu­le all­ge­mein an­neh­me, Miss Cre­akle sei ver­liebt in Steer­forth, und wenn ich im Dun­keln saß und an sei­ne ge­win­nen­de Stim­me, sein fei­nes Ge­sicht, die un­ge­zwun­ge­nen Ma­nie­ren und sein lo­cki­ges Haar dach­te, hielt ich es für sehr wahr­schein­lich.

Ich er­fuhr, dass Mr. Mell kein üb­ler Mensch wäre, aber kei­nen Six­pence be­sä­ße, um sich et­was leis­ten zu kön­nen, und dass die alte Mrs. Mell, sei­ne Mut­ter, so arm sei wie Hiob. Ich muss­te an mein da­ma­li­ges Früh­stück den­ken und an das, das wie »Mein Char­ley« ge­klun­gen hat­te, aber ich schwieg dar­über mäus­chen­still.

Die Er­zäh­lung die­ser und vie­ler an­de­rer Sa­chen dau­er­te viel län­ger als das Fest­mahl. Der grö­ße­re Teil der Gäs­te ging schla­fen, als das Es­sen und Trin­ken vor­bei war, und wir, die wir halb ent­klei­det in flüs­tern­dem Ge­spräch noch auf­ge­blie­ben, ver­füg­ten uns end­lich auch ins Bet­t…

»Gute Nacht, klei­ner Cop­per­field«, sag­te Steer­forth. »Ich wer­de dich un­ter mei­nen Schutz neh­men.«

»Sie sind sehr freund­lich«, er­wi­der­te ich dank­bar. »Ich bin Ih­nen au­ßer­or­dent­lich ver­pflich­tet.«

»Du hast wohl kei­ne Schwes­ter?« frag­te dann Steer­forth gäh­nend.

»Nein«, ant­wor­te­te ich.

»Das ist scha­de«, mein­te Steer­forth. »Wenn du eine hät­test, müss­te es ein klei­nes, schüch­ter­nes, hüb­sches Mäd­chen mit hel­len Au­gen sein, glau­be ich. Ich müss­te sie ken­nen­ler­nen. Gute Nacht, klei­ner Cop­per­field.«

»Gute Nacht, Sir«, ant­wor­te­te ich.

Ich muss­te sehr viel an ihn den­ken, als ich dann im Bet­te lag, und rich­te­te mich manch­mal auf, um ihn an­zu­se­hen, wie er im Mond­schein dalag, das schö­ne Ge­sicht auf­wärts ge­wen­det und den Kopf auf dem Arme ru­hend. Mei­ne Ge­dan­ken be­schäf­tig­ten sich so viel mit ihm, weil er in mei­nen Au­gen eine Per­son von großer Macht be­deu­te­te. Kei­ne un­ge­wis­se Zu­kunft um­schim­mer­te ihn trüb im Mond­licht und kei­ne dunkle Spur hin­ter­lie­ßen sei­ne Trit­te in dem Gar­ten, in dem zu wan­deln ich die gan­ze Nacht träum­te.