David Copperfield

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Und das war fol­gen­der. Mein Va­ter hat­te eine klei­ne Bü­cher­samm­lung in ei­ner Dach­stu­be ne­ben mei­nem Schlaf­raum, um die sich nie­mand küm­mer­te, hin­ter­las­sen. Aus die­sem ge­seg­ne­ten klei­nen Stüb­chen ka­men Ro­de­rick Ran­dom, Pe­re­gri­ne Pick­le, Hum­phrey Clin­ker, Tom Jo­nes, der Land­pre­di­ger von Wa­ke­field, Don Qui­cho­te, Gil Blas und Ro­bin­son Cru­soe – eine glor­rei­che Schar – zu mir, um mir Ge­sell­schaft zu leis­ten. Sie er­hiel­ten mei­ne Fan­ta­sie le­ben­dig – und mei­ne Hoff­nung auf et­was über die­sen Ort und die­se Zeit hin­aus; sie und Tau­send­und­ei­ne Nacht und die per­si­schen Mär­chen brach­ten mir kei­nen Scha­den, denn was in ei­ni­gen von ih­nen Schäd­li­ches sein moch­te, war für mich nicht da; ich ver­stand nichts da­von. Es ist mir nur un­be­greif­lich, wo­her ich in­mit­ten mei­nes Ho­ckens und Brü­tens über schwie­ri­ge­re The­men die Zeit nahm, alle die­se Bü­cher zu le­sen. Es ist mir jetzt wun­der­bar, wie es für mich in mei­nen klei­nen und doch so großen Lei­den tröst­lich sein konn­te, dass ich die Rol­len mei­ner Lieb­ling­s­cha­rak­tere in die­sen Ge­schich­ten auf mich über­trug und Mr. und Miss Murd­sto­ne mit al­len schlech­ten be­dach­te. Eine gan­ze Wo­che lang war ich Tom Jo­nes in Kin­der­ge­stalt. Die Rol­le Ro­de­rick Ran­doms habe ich wohl einen Mo­nat lang ge­spielt.

Ich fraß förm­lich ein paar Bän­de Rei­se­be­schrei­bun­gen, ich weiß nicht mehr, wel­che, und ta­ge­lang bin ich in der obe­ren Re­gi­on des Hau­ses heim­lich um­her­ge­streift, be­waff­net mit dem Mit­tel­stück ei­nes al­ten Stie­fel­hol­zes, als Ka­pi­tän Sound­so von der kö­nig­lich bri­ti­schen Flot­te, der von Wil­den be­droht war und sein Le­ben so teu­er wie mög­lich ver­kau­fen woll­te. Nie­mals ver­lor der Ka­pi­tän sei­ne Wür­de, wenn ihm die la­tei­ni­sche Gram­ma­tik um die Ohren ge­schla­gen wur­de. Ich litt wohl dar­un­ter, der Ka­pi­tän aber blieb Ka­pi­tän und ein Held trotz al­ler Gram­ma­ti­ken, al­ler le­ben­den und to­ten Spra­chen.

Das bil­de­te mei­nen ein­zi­gen und be­stän­di­gen Trost. Wenn ich dar­an den­ke, steht mir ein Som­mer­abend vor Au­gen, wo die Kin­der drau­ßen auf dem Kirch­hof spiel­ten und ich auf dem Bet­te saß und auf Tod und Le­ben drauf­los­las. Jede Scheu­ne in der Nach­bar­schaft, je­der Stein in der Kir­che, je­der Fuß­breit des Fried­hofs stan­den in mei­ner See­le in Ver­bin­dung mit die­sen Bü­chern und ver­tra­ten die Stel­le ei­nes in ih­nen be­rühmt ge­w­ord­nen Or­tes. Ich habe ge­se­hen, wie Tom Pi­pes den Kirch­turm hin­auf­klet­ter­te, habe Strab mit dem Schnapp­sack auf dem Rücken be­ob­ach­tet, wie er an der Git­ter­pfor­te am Zaun aus­ruh­te, und ich weiß, dass Com­mo­do­re Trun­ni­on sei­ne Klub­sit­zung mit Mr. Pick­le in der Gast­stu­be un­se­rer klei­nen Dorf­schen­ke ab­hielt. So war ich da­mals ge­ar­tet, als das Er­eig­nis ein­trat, von dem ich jetzt be­rich­ten will.

Ei­nes Mor­gens, als ich mit mei­nen Bü­chern in das Wohn­zim­mer trat, be­merk­te ich, dass mei­ne Mut­ter sehr ängst­lich aus­sah und Miss Murd­sto­ne sehr fest, wäh­rend Mr. Murd­sto­ne et­was um das un­te­re Ende ei­nes Rohr­stockes wi­ckel­te. Es war ein ge­schmei­di­ges und schäch­ti­ges Rohr, das er in der Hand wipp­te und durch die Luft sau­sen ließ, als ich her­ein­kam.

»Ich sage dir doch, Kla­ra«, be­merk­te Mr. Murd­sto­ne, »ich selbst bin oft durch­ge­hau­en wor­den.«

»Ge­wiss, selbst­ver­ständ­lich«, sag­te Miss Murd­sto­ne.

»Ge­wiss, lie­be Jane«, stam­mel­te mei­ne Mut­ter de­mü­tig. »Aber – aber meinst du, dass es Ed­ward gut­ge­tan hat?«

»Glaubst du, dass es Ed­ward ge­scha­det hat, Kla­ra?« frag­te Mr. Murd­sto­ne ernst.

»Das ist der sprin­gen­de Punkt«, sag­te sei­ne Schwes­ter.

»Ge­wiss, lie­be Jane«, wei­ter sag­te mei­ne Mut­ter nichts mehr.

Mich be­schlich das Ge­fühl, dass sich das Zwie­ge­spräch auf mich be­zö­ge. Und ich such­te und be­geg­ne­te Mr. Murd­sto­nes Blick.

»Nun, Da­vid?« sag­te er und sein Auge blitz­te. »Du musst dich heu­te viel mehr in acht neh­men als ge­wöhn­lich.« Er hieb wei­ter mit dem Rohr durch die Luft, und nach­dem er die­se Vor­be­rei­tung be­en­digt hat­te, leg­te er es mit aus­drucks­vol­lem Blick ne­ben sich hin und nahm ein Buch zur Hand.

Nur für den Be­ginn war dies eine gute Auf­fri­schung mei­ner Geis­tes­ge­gen­wart. Dann fühl­te ich, wie die Wor­te mir beim Auf­sa­gen ent­schwan­den, nicht ein­zeln oder zei­len­wei­se, son­dern gleich gan­ze Sei­ten lang. Ich ver­such­te mei­ne Ge­dan­ken wie­der ein­zu­fan­gen, aber es war, als ob sie Schlitt­schu­he an­hät­ten und mit un­auf­halt­sa­mer Ge­schwin­dig­keit weg­g­lit­ten.

Wir fin­gen schlecht an und fuh­ren noch schlech­ter fort. Ich war her­ein­ge­kom­men mit dem Be­wusst­sein, dass ich mich heu­te so­gar aus­zeich­nen wür­de, denn ich glaub­te recht gut vor­be­rei­tet zu sein, aber es stell­te sich als voll­stän­di­ger Irr­tum her­aus. Ein Buch nach dem an­de­ren ver­mehr­te den Hau­fen der Rück­stän­de, und Miss Murd­sto­ne wand­te die gan­ze Zeit über den Blick nicht von uns. Und als wir end­lich zu den fünf­tau­send Kä­sen ka­men, – er mach­te an die­sem Tage Rohr­stö­cke dar­aus –, fing mei­ne Mut­ter zu wei­nen an.

»Kla­ra!« sag­te Miss Murd­sto­ne mit war­nen­der Stim­me.

»Ich füh­le mich nicht ganz wohl, mei­ne lie­be Jane, glau­be ich«, sag­te mei­ne Mut­ter.

Ich sah Mr. Murd­sto­ne fei­er­lich sei­ner Schwes­ter zu­win­ken, als er auf­stand, das Rohr nahm und sag­te:

»Nun, Jane, wir kön­nen kaum er­war­ten, dass Kla­ra mit un­er­schüt­ter­li­cher Fes­tig­keit den Är­ger und die Qual trägt, die Da­vid ihr heu­te ver­ur­sacht hat. Das wür­de sto­isch sein. Kla­ra hat sich sehr ge­fes­tigt und ist viel stär­ker ge­wor­den, aber wir kön­nen kaum so viel von ihr er­war­ten. Da­vid, wir wol­len jetzt bei­de hin­auf­ge­hen.«

Als er mich aus der Türe zog, rann­te mei­ne Mut­ter auf uns zu. Miss Murd­sto­ne sag­te: »Kla­ra! Bist du denn ganz när­risch!« und trat da­zwi­schen. Ich sah, wie sich mei­ne Mut­ter die Ohren zu­hielt, und hör­te sie wei­nen.

Er führ­te mich in mein Zim­mer, lang­sam und fei­er­lich; ich weiß be­stimmt, es mach­te ihm Freu­de, die Exe­ku­ti­on so förm­lich zu ge­stal­ten – und als wir oben an­ge­kom­men wa­ren, klemm­te er plötz­lich mei­nen Kopf un­ter sei­nen Arm.

»Mr. Murd­sto­ne! Sir!« schrie ich auf. »O bit­te, schla­gen Sie mich nicht. Ich habe mir sol­che Mühe beim Ler­nen ge­ge­ben, Sir, aber ich kann es nicht auf­sa­gen, wenn Sie und Miss Murd­sto­ne da­bei sind. Ich kann es wirk­lich nicht!«

»Kannst du wirk­lich nicht, Da­vid?« frag­te er. »Wir wol­lens mal ver­su­chen.«

Er hielt mei­nen Kopf fest wie in ei­nem Schraub­stock. Aber ich ent­wand mich doch noch, und es ge­lang mir, ihn einen Au­gen­blick auf­zu­hal­ten. Nur einen Au­gen­blick, denn gleich dar­auf ver­setz­te er mir einen hef­ti­gen Schlag. In dem­sel­ben Au­gen­blick er­hasch­te ich sei­ne Hand mit mei­nem Mund und biss sie durch und durch. Es zuckt mir jetzt noch in den Zäh­nen, wenn ich dar­an den­ke.

Er schlug mich dann, als ob er mich tot­peit­schen woll­te. Durch all den Lärm, den wir mach­ten, hör­te ich die an­de­ren die Trep­pe her­auf­ren­nen und auf­schrei­en – ich hör­te mei­ne Mut­ter auf­schrei­en – und Peg­got­ty. Dann war er fort, und die Tür war von au­ßen ver­schlos­sen. Und ich lag fie­ber­heiß und zer­ris­sen und wund auf dem Bo­den und ras­te in ohn­mäch­ti­ger Wut.

Ich weiß mich gut zu er­in­nern, welch un­na­tür­li­che Stil­le im gan­zen Haus herrsch­te, als ich wie­der ru­hig wur­de. Ich kann mich gut ent­sin­nen, als Schmerz und Lei­den­schaft sich leg­ten, wie schlecht ich mir vor­kam.

Ich saß lan­ge Zeit lau­schend da, aber es war kein Laut zu ver­neh­men. Ich raff­te mich vom Bo­den auf und sah mein Ge­sicht im Spie­gel so ver­schwol­len und ent­stellt, dass ich mich ent­setz­te. Die Strie­men wa­ren wund und hart, und ich muss­te auf­schrei­en, wenn ich mich rühr­te. Aber sie wa­ren nichts ge­gen mein Schuld­be­wusst­sein. Es las­te­te schwer auf mei­ner Brust, wie wenn ich der schlimms­te Ver­bre­cher ge­we­sen wäre.

Es fing an zu dun­keln, und ich mach­te das Fens­ter zu, – ich hat­te die gan­ze Zeit über mit dem Kopf auf dem Fens­ter­brett ge­le­gen und ab­wech­selnd ge­weint, halb ge­schla­fen oder ge­dan­ken­los hin­aus­ge­se­hen, – als sich der Schlüs­sel her­um­dreh­te und Miss Murd­sto­ne mit Brot, Fleisch und Milch her­ein­trat. Ohne ein Wort zu spre­chen, setz­te sie es auf den Tisch und starr­te mich wäh­rend­des­sen un­un­ter­bro­chen mit größ­ter Fes­tig­keit an, ent­fern­te sich dann und schloss die Türe hin­ter sich zu.

Noch lan­ge saß ich im Dun­keln da und grü­bel­te, ob sonst noch je­mand kom­men wer­de. Als das für die­sen Abend un­wahr­schein­lich wur­de, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furcht­sam zu fra­gen, was jetzt wohl mit mir ge­sche­hen wür­de. War es ein Ver­bre­chen, das ich be­gan­gen hat­te? Wür­de man mich ver­haf­ten und ins Ge­fäng­nis ste­cken, mich am Ende gar hän­gen?!

Ich wer­de nie das Er­wa­chen am nächs­ten Mor­gen ver­ges­sen: Im ers­ten Au­gen­blick froh und hei­ter, war ich plötz­lich durch die er­wa­chen­de Erin­ne­rung wie nie­der­ge­schmet­tert. Miss Murd­sto­ne er­schi­en wie­der, ehe ich mich er­hob, sag­te mir mit kur­z­en Wor­ten, dass ich eine hal­be Stun­de, aber nicht län­ger, spa­zie­ren­ge­hen dürf­te, und ver­schwand. Sie ließ dies­mal die Türe of­fen, da­mit ich von der Er­laub­nis Ge­brauch ma­chen könn­te.

Ich tat es und je­den fol­gen­den Mor­gen mei­ner Ge­fan­gen­schaft, die fünf Tage dau­er­te. Wenn ich mei­ne Mut­ter al­lein hät­te se­hen kön­nen, wäre ich vor ihr auf die Knie ge­fal­len und hät­te sie um Ver­zei­hung ge­be­ten, aber ich be­kam nie­mand zu Ge­sicht, au­ßer Miss Murd­sto­ne. Eine Aus­nah­me bil­de­te nur die Zeit des Abend­ge­be­tes in der Wohn­stu­be; dort­hin führ­te mich Miss Murd­sto­ne, und ich muss­te wie ein jun­ger Sträf­ling an der Tür ste­hen blei­ben, wäh­rend alle ihre Plät­ze ein­nah­men; und ehe sie sich er­ho­ben, führ­te mich mei­ne Ker­ker­meis­te­rin mit großer Fei­er­lich­keit wie­der ins Ge­fäng­nis. Ich be­merk­te, dass mei­ne Mut­ter, am al­ler­wei­tes­ten von mir ent­fernt, ihr Ge­sicht von mir ab­ge­wandt hielt, und dass Mr. Murd­sto­nes Hand mit ei­nem großen lei­ne­nen Tuch ver­bun­den war.

 

Wie ent­setz­lich lang mir die­se fünf Tage wur­den, kann ich nicht be­schrei­ben. Sie neh­men in mei­ner Erin­ne­rung den Raum von Jah­ren ein. Die Span­nung, mit der ich al­len Vor­komm­nis­sen im Hau­se lausch­te, das Klin­geln, das Öff­nen und Schlie­ßen von Tü­ren, das Mur­meln von Stim­men, die Schrit­te auf den Trep­pen, das La­chen, Pfei­fen und Sin­gen drau­ßen, das mir in mei­ner Ein­sam­keit und Ver­sto­ßen­heit furcht­ba­rer er­schi­en, als al­les an­de­re, das un­ge­wis­se Schlei­chen der Stun­den, be­son­ders des Nachts, wenn ich in dem Glau­ben auf­wach­te, es sei schon Mor­gen, wäh­rend die Fa­mi­lie noch nicht zu Bett ge­gan­gen war und ich noch die gan­ze lan­ge Nacht vor mir hat­te, – die quä­len­den Träu­me mit ih­rem Alp­drücken, – die Wie­der­kehr von Mor­gen, Mit­tag, Nach­mit­tag und Abend, wo die Jun­gen drau­ßen auf dem Kirch­hof spiel­ten, und ich sie vom Hin­ter­grund des Zim­mers aus be­ob­ach­te­te, weil ich mich schäm­te, mich wie ein Ge­fan­ge­ner am Fens­ter zu zei­gen, – das fremd­ar­ti­ge Ge­fühl, dass ich mich nie spre­chen hör­te, – die flüch­ti­gen Pau­sen schnell ent­schwin­den­der Er­leich­te­rung, die mit dem Es­sen und Trin­ken kam und wie­der ging, der Re­gen ei­nes Abends mit sei­nem fri­schen Duft, wie er im­mer dich­ter und dich­ter wur­de zwi­schen mir und der Kir­che, bis er und die her­ein­bre­chen­de Nacht mich in ei­ner Fins­ter­nis von Furcht und Reue zu er­sti­cken droh­ten, – al­les das scheint Jah­re statt Tage ge­dau­ert zu ha­ben, so le­ben­dig und tief hat es sich mir ein­ge­prägt.

In der letz­ten Nacht mei­ner Haft wach­te ich auf und hör­te mei­nen Na­men flüs­tern. Ich rich­te­te mich im Bett auf, brei­te­te mei­ne Arme im Dun­keln aus und frag­te:

»Bist dus, Peg­got­ty?«

Es kam nicht so­gleich eine Ant­wort. Aber nicht lan­ge dar­auf hör­te ich wie­der mei­nen Na­men in ei­nem so ge­heim­nis­vol­len und schau­ri­gen Ton, dass ich vor Schre­cken wahr­schein­lich ohn­mäch­tig ge­wor­den wäre, hät­te ich nicht plötz­lich be­grif­fen, dass er durch das Schlüs­sel­loch kom­men müs­se. Ich tapp­te mich zur Tür, leg­te den Mund an das Schlüs­sel­loch und flüs­ter­te:

»Bist dus, lie­be Peg­got­ty?«

»Ja, mein ein­zi­ger lie­ber Davy. Sei so lei­se wie eine Maus, sonst hört uns die Kat­ze.«

Ich ver­stand so­gleich, dass Miss Murd­sto­ne ge­meint war, und fühl­te die Not­wen­dig­keit der Vor­sicht, denn ihr Zim­mer stieß dicht an mei­nes.

»Was macht Mama, lie­be Peg­got­ty? Ist sie sehr böse auf mich?«

Ich konn­te hö­ren, dass Peg­got­ty lei­se vor der Tür wein­te, – wie ich, ehe sie ant­wor­ten konn­te:

»Nein, nicht sehr.«

»Was wird mit mir ge­sche­hen, lie­be Peg­got­ty? Weißt du es?«

»Schu­le. Bei Lon­don«, war Peg­got­tys Ant­wort. Sie muss­te es noch ein­mal wie­der­ho­len, denn sie hat­te es das ers­te Mal in mei­nen Hals hin­ein­ge­spro­chen, weil ich ver­gaß, den Mund vom Schlüs­sel­loch weg­zu­neh­men und das Ohr dar­an­zu­le­gen. Ihre Wor­te kit­zel­ten mich sehr, aber ver­ste­hen konn­te ich sie nicht.

»Wann, Peg­got­ty?«

»Mor­gen.«

»Hat des­halb Miss Murd­sto­ne mei­ne Klei­der aus der Kom­mo­de ge­nom­men?«

»Ja«, sag­te Peg­got­ty. »Kof­fer.«

»Wer­de ich Mama nicht mehr wie­der­se­hen?«

»Ja«, sag­te Peg­got­ty. »Mor­gen früh.« Dann leg­te sie ihre Lip­pen dicht an das Schloss und sprach die fol­gen­den Wor­te so ge­fühl­voll und in­nig, wie sie wohl nie durch ein Schlüs­sel­loch mit­ge­teilt wor­den sind, und stieß je­den Satz ab­ge­bro­chen mit ei­nem krampf­haf­ten klei­nen Ruck her­vor:

»Lie­ber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herz­lich – mit dir bin, wie frü­her, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr lie­be, mein lie­bes Her­zen­spüpp­chen, – son­dern bloß weil ich glau­be, es ist bes­ser für dich – und für je­mand an­ders. Davy, mein Lieb­ling, hörst du mich? Kannst du hö­ren?«

»Ja-a-a-a, Peg­got­ty«, schluchz­te ich.

»Du mein Her­zens­kind«, flüs­ter­te Peg­got­ty mit un­end­li­chem Mit­leid. »Ich will dir nur sa­gen, du darfst mich nie­mals ver­ges­sen. Auch ich will dich nie­mals ver­ges­sen. Und ich will dei­ne Mama, Davy, so in acht neh­men, wie ich dich in acht ge­nom­men habe. Und ich wer­de sie nie ver­las­sen. Der Tag wird noch kom­men, wo sie gern ih­ren ar­men Kopf ih­rer dum­men, mür­ri­schen, al­ten Peg­got­ty wie­der auf den Arm le­gen wird. Ich wer­de dir schrei­ben, mein Lieb­ling. Wenn ich auch kein Ge­lehr­ter bin, und ich will – ich will –« Peg­got­ty fing an, das Schlüs­sel­loch zu küs­sen, da sie mich nicht küs­sen konn­te.

»Ich dan­ke dir, mei­ne lie­be Peg­got­ty«, sag­te ich. »Ich dan­ke, dan­ke dir. Willst du mir nur eins ver­spre­chen, Peg­got­ty? Wirst du Mr. Peg­got­ty und der klei­nen Emly und Mrs. Gum­mid­ge und Ham sa­gen, dass ich nicht so schlecht bin, wie sie viel­leicht den­ken, und dass ich sie alle von Her­zen grü­ßen las­se, be­son­ders die klei­ne Emly? Willst du so gut sein, Peg­got­ty?«

Die gute See­le ver­sprach mirs, und wir küss­ten bei­de das Schlüs­sel­loch mit der größ­ten Zärt­lich­keit, – ich strei­chel­te es mit der Hand, ent­sin­ne ich mich noch, als ob es ihr ehr­li­ches Ge­sicht ge­we­sen wäre, – und trenn­ten uns. Seit die­ser Nacht wuchs in mir ein Ge­fühl für Peg­got­ty, das ich nicht recht be­schrei­ben kann. Sie er­setz­te mir nicht mei­ne Mut­ter, nie­mand hät­te das kön­nen, aber sie füll­te eine Lee­re in mei­nem Her­zen aus, die sich über ihr schloss, und ich fühl­te et­was für sie, was ich nie für ein an­de­res mensch­li­ches We­sen emp­fun­den habe. Es misch­te sich das Ge­fühl des Ko­mi­schen wohl un­ter mei­ne Zärt­lich­keit, und den­noch kann ich mir nicht vor­stel­len, wie ich den Schmerz er­tra­gen hät­te, wenn sie ge­stor­ben wäre.

Früh­mor­gens er­schi­en Miss Murd­sto­ne wie ge­wöhn­lich und sag­te mir, dass ich in die Schu­le ge­schickt wür­de, was mich durch­aus nicht so über­rasch­te, wie sie wohl an­ge­nom­men hat­te. Sie sag­te mir auch, dass ich hin­un­ter­kom­men soll­te in die Wohn­stu­be zum Früh­stück. Dort fand ich mei­ne Mut­ter sehr blass und mit ro­ten Au­gen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tief­be­weg­ter See­le um Ver­zei­hung.

»O Davy!« sag­te sie, »dass du je­mand weh tun konn­test, den ich lie­be. Ver­su­che dich zu bes­sern, bete dar­um, dass du bes­ser wer­dest. Ich ver­zei­he dir, aber ich bin voll Kum­mer, Davy, dass du ein so bö­ses Herz hast.«

Sie hat­ten ihr ein­ge­re­det, dass ich ein ver­wor­fe­nes Ge­schöpf wäre, und das schmerz­te sie mehr als mein Fort­ge­hen. Auf mich mach­te es einen tie­fen Ein­druck.

Ich ver­such­te mein Ab­schieds­früh­stück zu es­sen, aber die Trä­nen tröp­fel­ten auf mein But­ter­brot und in mei­nen Tee.

Ich sah, wie mei­ne Mut­ter mich von Zeit zu Zeit an­blick­te und dann auf Miss Murd­sto­ne sah und die Au­gen nie­der­schlug oder weg­schau­te.

»Ist Mas­ter Cop­per­fields Kof­fer da?« frag­te Miss Murd­sto­ne, als drau­ßen der Wa­gen vor­fuhr. Ich sah mich nach Peg­got­ty um, aber we­der sie noch Mr. Murd­sto­ne er­schi­en. Mein al­ter Be­kann­ter, der Fuhr­mann, stand an der Tür, nahm den Kof­fer und hob ihn auf den Wa­gen.

»Kla­ra!« sag­te Miss Murd­sto­ne in war­nen­dem Ton.

»Ich bin be­reit, lie­be Jane«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Leb wohl, Davy, du gehst zu dei­nem eig­nen Bes­ten. Leb wohl, mein Kind, du wirst in den Fei­er­ta­gen nach Hau­se kom­men und ein bes­se­rer Jun­ge sein.«

»Kla­ra!« wie­der­hol­te Miss Murd­sto­ne.

»Ge­wiss, mei­ne lie­be Jane«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter und hielt mei­ne Hand noch im­mer fest. »Ich ver­zei­he dir, mein lie­ber Jun­ge. Gott seg­ne dich!«

»Kla­ra!« wie­der­hol­te Miss Murd­sto­ne. Sie hat­te die Güte, mich zum Wa­gen zu füh­ren und mir un­ter­wegs zu sa­gen, sie hof­fe, ich wür­de in mich ge­hen, ehe es ein schlim­mes Ende mit mir näh­me, und dann stieg ich in den Wa­gen und das fau­le Pferd trot­te­te mit mir da­von.

5. Kapitel – Man schickt mich fort

Wir wa­ren kaum eine Vier­tel­stun­de ge­fah­ren, und mein Ta­schen­tuch war ganz durch­nässt, als der Kut­scher plötz­lich an­hielt.

Als ich hin­aus­sah, brach zu mei­nem Er­stau­nen Peg­got­ty aus ei­ner He­cke her­vor und klet­ter­te in den Wa­gen. Sie schloss mich in die Arme und press­te mich der­ar­tig an ih­ren Schnür­leib, dass mir die Nase weht­at. Nicht ein ein­zi­ges Wort sprach Peg­got­ty. Sie ließ mich mit dem einen Arm los, griff bis an den Ell­bo­gen in ih­ren Rock und hol­te ein paar in Pa­pier ge­wi­ckel­te Ku­chen her­vor, die sie mir in die Ta­sche stopf­te. Ei­nen Geld­beu­tel drück­te sie mir in die Hand. Sie sprach da­bei kein Wort.

Sie press­te mich noch ein letz­tes Mal an ih­ren Schnür­leib, stieg aus und lief da­von, wie ich glau­be und stets ge­glaubt habe, ohne einen ein­zi­gen Knopf an ih­rem Kleid. Ich hob einen der vie­len, die her­um­roll­ten, auf und be­wahr­te ihn lan­ge Zeit als ein teu­res An­den­ken.

Der Fuhr­mann sah mich fra­gend an, ob sie zu­rück­käme. Ich schüt­tel­te den Kopf und sag­te, ich däch­te nicht. »Also los«, rief er sei­nem fau­len Pfer­de zu, das sich dar­auf­hin in Be­we­gung setz­te.

Da ich mich or­dent­lich aus­ge­weint hat­te, fing ich jetzt an zu über­le­gen, dass Trä­nen doch nichts nütz­ten, umso mehr, als we­der Ro­de­rick Ran­dom, noch je­ner Ka­pi­tän der eng­li­schen Flot­te je­mals in schwie­ri­gen La­gen ge­weint hät­ten, so viel ich mich ent­sin­nen konn­te. Als der Fuhr­mann mich so ge­fasst sah, schlug er mir vor, mein Ta­schen­tuch zum Trock­nen dem Pferd auf den Rücken zu le­gen. Ich dank­te ihm und gab es ihm, und merk­wür­dig klein sah es aus, als es dort lag.

Ich hat­te jetzt Muße, die Bör­se zu un­ter­su­chen. Es war ein stei­fer Le­der­beu­tel mit ei­nem Schloss und drin be­fan­den sich drei glän­zen­de Schil­lin­ge, die Peg­got­ty mit Putz­pul­ver po­liert hat­te, da­mit es mich noch mehr freu­en soll­te. Aber sein kost­bars­ter In­halt be­stand aus zwei hal­b­en Kro­nen in ei­nem Stück Pa­pier, wor­auf mit mei­ner Mut­ter Hand­schrift stand: »Für Davy. Mit herz­li­chem Gruß.« Ich war da­von so ge­rührt, dass ich den Fuhr­mann bat, mir wie­der mein Ta­schen­tuch her­ein­zu­rei­chen, aber er mein­te, es gin­ge wohl auch so, und so wisch­te ich mei­ne Au­gen mit dem Rock­är­mel und be­zwang mich.

Es ge­lang mir, wenn mich auch noch hier und da das Schluch­zen riss. Nach ei­ner Wei­le Trot­tes frag­te ich den Fuhr­mann, ob er die gan­ze Rei­se ma­che.

»Wel­che Rei­se?« frag­te er.

»Da­hin«, sag­te ich.

»Wo, da­hin?« frag­te der Fuhr­mann.

»Nun bei Lon­don«, sag­te ich.

»Das Pferd«, sag­te der Fuhr­mann und schlen­ker­te mit dem Zü­gel statt hin­zu­deu­ten, »wäre to­ter als Schwei­ne­fleisch, ehe wir noch halb hin­kämen.«

»Sie fah­ren also nur bis Yar­mouth?« frag­te ich.

»Stimmt«, sag­te der Fuhr­mann. »Dort brin­ge ich Sie zur Post­kut­sche und die bringt Sie nach – wos eben ist.«

Da das für den Fuhr­mann, der Mr. Bar­kis hieß, bei sei­nem phleg­ma­ti­schen und we­nig ge­sprä­chi­gen Tem­pe­ra­ment eine sehr lan­ge Rede war, bot ich ihm als Zei­chen mei­ner Er­kennt­lich­keit einen Ku­chen an, den er auf einen Bis­sen ver­schlang, ge­ra­de wie ein Ele­fant, und der auf sein brei­tes Ge­sicht nicht mehr Ein­druck mach­te, als er auf das ei­nes Ele­fan­ten ge­macht hät­te.

»Hat sie den ge­ba­cken?« frag­te Mr. Bar­kis, der im­mer vor­wärts­ge­beugt auf sei­nem Sit­ze hock­te, auf je­des Knie einen Arm ge­stützt.

»Peg­got­ty, mei­nen Sie, Sir?«

»Hm«, sag­te Mr. Bar­kis. »Sie.«

»Ja, sie backt alle un­se­re Ku­chen und kocht für uns.«

»Wahr­haf­tig!«

Er spitz­te den Mund, als woll­te er pfei­fen, aber er pfiff nicht. Er saß da und ziel­te nach den Ohren des Pfer­des, als sähe er dort et­was ganz Be­son­de­res. So saß er eine ge­rau­me Zeit. End­lich sag­te er: »Kei­ne Schät­ze?«

 

»Sag­ten Sie Plätz­chen, Mr. Bar­kis?« Ich dach­te, er woll­te noch et­was zu es­sen ha­ben und hät­te auf die­se Art Er­fri­schung an­ge­spielt.

»Schät­ze«, sag­te Mr. Bar­kis. »Schät­ze! Nie­mand geht mit ihr?«

»Mit Peg­got­ty?«

»Hm. Mit ihr.«

»O nein, sie hat nie­mals einen Schatz ge­habt.«

»Wahr­haf­tig!?«

Wie­der spitz­te er den Mund zum Pfei­fen, aber wie­der pfiff er nicht, son­dern ziel­te nach den Ohren des Pfer­des.

»Sie macht also die Ap­fel­tor­ten und be­sorgt die Kü­che, was?« frag­te er nach ei­ner lan­gen Pau­se des Nach­den­kens.

Ich be­jah­te.

»Gut. Ich will Ih­nen was sa­gen; schrei­ben Sie ihr ’leicht?«

»Ich schrei­be je­den­falls an sie.«

»Hm«, sag­te er und wand­te mir lang­sam sei­ne Au­gen zu. »Gut. Wenn Sie ihr schrei­ben, sa­gen Sie ihr, dass Bar­kis will. Ja?«

»Dass Bar­kis will?« frag­te ich un­schul­dig. »Ist das al­les?«

»Ja­woll«, sag­te er nach­denk­lich. »Ja­woll. Bar­kis will.«

»Aber Sie sind doch mor­gen wie­der zu­rück in Blun­der­sto­ne, Mr. Bar­kis«, sag­te ich, und mei­ne Stim­me beb­te ein we­nig bei dem Ge­dan­ken, dass ich dann so weit fort sein wür­de, »und könn­ten Ihre Bot­schaft doch sel­ber viel bes­ser aus­rich­ten.«

Da er aber die­sen Vor­schlag mit ei­nem Ruck sei­nes Kop­fes zu­rück­wies und sei­nen ers­ten Wunsch mit tiefs­tem Ernst wie­der­hol­te: »Bar­kis will«, über­nahm ich be­reit­wil­lig den Auf­trag. Spä­ter nach­mit­tags, wäh­rend wir im Gast­hof in Yar­mouth auf die Post­kut­sche war­te­ten, ließ ich mir einen Bo­gen Pa­pier und ein Tin­ten­fass brin­gen und schrieb fol­gen­den Brief an Peg­got­ty: »Mei­ne lie­be Peg­got­ty. Ich bin hier glück­lich an­ge­kom­men. Bar­kis will. Vie­le herz­li­che Grü­ße an Mama. Dein ge­treu­er Davy. Nach­schrift. Es ist mir noch­mals auf­ge­tra­gen wor­den: Bar­kis will.«

Als ich Mr. Bar­kis noch im Wa­gen mein Ver­spre­chen ge­ge­ben hat­te, ver­fiel er wie­der in sein tie­fes Schwei­gen, und ich, ganz er­mat­tet von den letz­ten Er­eig­nis­sen, leg­te mich auf einen Sack im Wa­gen und schlief ein. Ich schlief ge­sund, bis wir in Yar­mouth an­ka­men, das mir von dem Gast­hof aus, vor dem wir hiel­ten, so neu und selt­sam vor­kam, dass ich so­gleich die stil­le Hoff­nung auf­gab, hier je­mand von Mr. Peg­got­tys Fa­mi­lie oder viel­leicht gar die klei­ne Emly selbst zu tref­fen.

Die Post­kut­sche stand, über und über glän­zend, im Hofe, aber noch wa­ren kei­ne Pfer­de vor­ge­spannt, und sie sah in die­sem Zu­stan­de aus, als wäre nichts un­wahr­schein­li­cher, als dass sie je nach Lon­don fah­ren könn­te. Ich frag­te mich, was wohl aus mei­nem Kof­fer wer­den soll­te, den Mr. Bar­kis auf das Pflas­ter ge­setzt hat­te, und aus mir, als eine Frau aus ei­nem Bo­gen­fens­ter, an dem Ge­flü­gel und Fleisch­stücke auf­ge­han­gen wa­ren, her­aus­sah und frag­te:

»Ist das der jun­ge Herr aus Blun­der­sto­ne?«

»Ja, Ma’am«, sag­te ich.

»Wie hei­ßen Sie?« frag­te die Frau.

»Cop­per­field, Ma’am«, sag­te ich.

»Stimmt nicht. Für Cop­per­field ist nichts be­stellt.«

»Vi­el­leicht für Murd­sto­ne«, sag­te ich.

»Wenn Sie Mas­ter Murd­sto­ne sind, warum sa­gen Sie da zu­erst einen an­de­ren Na­men?«

Ich er­klär­te ihr den Zu­sam­men­hang, wor­auf sie eine Glo­cke zog und rief: »Wil­liam, bring ihn ins Früh­stücks­zim­mer.« Aus der Kü­che am an­de­ren Ende des Ho­fes kam ein Kell­ner her­aus­ge­rannt und schi­en sehr er­staunt, als er bloß mich sah.

Es war ein sehr ge­räu­mi­ges Zim­mer mit ver­schie­de­nen großen Land­kar­ten an den Wän­den. Ich setz­te mich scheu mit der Müt­ze in der Hand auf die Ecke des Stuh­les, der der Tür am nächs­ten stand, und als der Kell­ner für mich einen Tisch deck­te, muss ich ganz rot vor Be­schei­den­heit ge­wor­den sein.

Er brach­te mir ei­ni­ge Ko­te­let­ten mit Ge­mü­se und nahm den De­ckel in so hef­ti­ger Wei­se her­un­ter, dass ich glaub­te, ich hät­te ihn ir­gend­wie be­lei­digt. Aber ich be­ru­hig­te mich wie­der, als er mir den Stuhl an den Tisch schob und sehr leut­se­lig sag­te: »Nun, Sechs­fuß­hoch, kom­men Sie her.«

Ich dank­te ihm und setz­te mich an den Tisch, fand es aber sehr schwer, mit Mes­ser und Ga­bel zu han­tie­ren, ohne mich zu be­sprit­zen. Wäh­rend­des­sen stand er mir ge­gen­über und wand­te kein Auge von mir und mach­te mich im­mer schreck­lich er­rö­ten, wenn ich sei­nem Blick be­geg­ne­te.

Nach­dem er mir bis zum zwei­ten Ko­te­lett zu­ge­se­hen, sag­te er:

»Es ist auch eine hal­be Pin­te Ale für Sie be­stellt. Wol­len Sie sie jetzt ha­ben?«

Ich dank­te und sag­te: »Ja.« Hier­auf goss er das Bier aus ei­nem Krug in ein großes Glas und hielt es ge­gen das Licht.

»Mei­ner Seel«, sag­te er, »s scheint eine gan­ze, gan­ze Men­ge, was?«

»Ja, es scheint eine gan­ze Men­ge«, ant­wor­te­te ich lä­chelnd, denn ich war ganz ent­zückt, dass er zu mir so freund­lich war. Er war ein Mann mit zwin­kern­den Au­gen und sin­ni­gem Ge­sicht, und das Haar stand ihm zu Ber­ge. Wie er den Arm in die Sei­te ge­stemmt hat­te und das Glas ge­gen das Licht hielt, sah er je­doch ganz ge­müt­lich aus.

»Ges­tern war ein Gent­le­man hier«, fing er wie­der an, »ein großer, star­ker Gent­le­man, der hieß Ober­nie­der­sä­ger. Ken­nen Sie ihn viel­leicht?«

»Nein«, sag­te ich, »ich glau­be nicht.«

»Kur­ze Ho­sen und Ga­ma­schen, breit­krem­pi­gen Hut, sche­cki­ges Hals­tuch«, sag­te der Kell­ner.

»Nein«, sag­te ich ge­drückt. »Ich habe nicht das Ver­gnü­gen.«

»Er kehr­te hier ein«, sag­te der Kell­ner und sah im­mer noch durch das Glas, »be­stell­te auch Ale, trotz­dem ich ihm ab­riet, trank es und war tot auf der Stel­le. War zu alt für ihn. Es soll­te nicht aus­ge­schenkt wer­den. Das ist die Sa­che.«

Der tra­gi­sche Vor­fall mach­te mich ganz be­stürzt und ich sag­te, ich wür­de ein Glas Was­ser vor­zie­hen.

»Ja, se­hen Sie«, sag­te der Kell­ner, im­mer noch mit dem einen Auge durch das Glas spä­hend, das an­de­re hat­te er zu­ge­macht, »uns­re Leu­te se­hens nicht gern, wenn et­was be­stellt wird und ste­hen bleibt. Neh­mens übel. Aber ich wills trin­ken, wenn Sie er­lau­ben. Bin dran ge­wöhnt und Ge­wohn­heit kann al­les. Ich glau­be nicht, dass es mir scha­det, wenn ich den Kopf zu­rück­le­ge und es rasch hin­un­ter­gie­ße. Was?«

Ich er­wi­der­te, ich wäre ihm sehr ver­pflich­tet, wenn er es trän­ke und es ihm nicht scha­den wür­de. Sonst aber möge er es ja nicht tun. Als er den Kopf zu­rück­leg­te und es rasch hin­un­ter­goss, er­fass­te mich eine schreck­li­che Angst, er könn­te das Schick­sal des be­dau­erns­wer­ten Mr. Ober­nie­der­sä­ger tei­len und tot zu Bo­den fal­len. Aber es tat ihm nichts. Im Ge­gen­teil, es schi­en ihn nur er­frischt zu ha­ben.

»Was ha­ben wir denn da?« sag­te er und fuhr dann mit ei­ner Ga­bel in mei­ne Schüs­sel. »Doch nicht Ko­te­let­ten?«

»Ko­te­let­ten«, sag­te ich.

»Gott be­wah­re!« rief er aus. »Ich wuss­te gar nicht, dass es Ko­te­let­ten sind. Ein Ko­te­lett ist das bes­te ge­gen das Bier. Ist das ein Glück, was?«

Da­mit nahm er ein Ko­te­lett, den Kno­chen in die eine Hand und eine Kar­tof­fel in die an­de­re, und ver­schlang bei­de zu mei­ner größ­ten Be­frie­di­gung mit au­ßer­or­dent­li­chem Ap­pe­tit. Dann nahm er noch ein Ko­te­lett und noch eine Kar­tof­fel und noch ein Ko­te­lett und noch eine Kar­tof­fel. Hier­auf brach­te er mir einen Pud­ding, setz­te ihn auf den Tisch und schi­en ein paar Au­gen­bli­cke ganz in Ge­dan­ken zu ver­sin­ken.

»Wie ist die Pas­te­te?« frag­te er, wie aus ei­nem Traum er­wa­chend.

»Es ist Pud­ding«, gab ich zur Ant­wort.