David Copperfield

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Wie sich die klei­ne lus­ti­ge Emly dar­über lus­tig mach­te! Mit ei­ner Mie­ne, als sei sie un­end­lich viel ge­schei­ter und äl­ter als ich! Sie sag­te, die klei­ne Hexe, ich sei ein kin­di­scher Jun­ge, und lach­te dann so ent­zückend, dass ich den Schmerz über die de­mü­ti­gen­de Be­nen­nung über der blo­ßen Freu­de, sie an­se­hen zu dür­fen, ver­gaß.

Mr. Bar­kis und Peg­got­ty blie­ben ziem­lich lang in der Kir­che, ka­men aber end­lich wie­der her­aus. Dann fuh­ren wir hin­aus aufs Land. Un­ter­wegs wen­de­te sich Mr. Bar­kis nach mir um und sag­te, in­dem er lis­tig ein Auge zu­kniff:

»Was fürn Na­men hab ich in den Wa­gen ge­schrie­ben?«

»Kla­ra Peg­got­ty«, ant­wor­te­te ich.

»Was fürn Na­men müsst ich jetzt an­schrei­ben, wenn ein Dach da wäre?«

»Nicht wie­der Kla­ra Peg­got­ty?« frag­te ich.

»Kla­ra Peg­got­ty-Bar­kis!« er­wi­der­te er und brach in ein Ge­läch­ter aus, dass die gan­ze Chai­se wa­ckel­te.

Kurz, sie wa­ren ver­hei­ra­tet und wa­ren zu kei­nem an­de­ren Zweck in die Kir­che ge­gan­gen. Peg­got­ty hat­te ge­wünscht, dass es in al­ler Stil­le ge­schä­he, und hat­te kei­ne Zeu­gen zu der Fei­er­lich­keit ein­ge­la­den. Sie wur­de et­was ver­le­gen, als Mr. Bar­kis mit die­ser Mit­tei­lung her­aus­platz­te, und konn­te mich nicht ge­nug um­ar­men, um mir ihre un­ver­än­der­te Lie­be zu zei­gen. Bald be­ru­hig­te sie sich wie­der und sag­te, sie sei froh, dass al­les vor­bei wäre.

Wir hiel­ten dann an ei­nem klei­nen Wirts­haus, wo wir er­war­tet wur­den und ein sehr gu­tes Mit­ta­ges­sen ein­nah­men und den Tag sehr an­ge­nehm zu­brach­ten. Wenn Peg­got­ty täg­lich ein­mal in den letz­ten zehn Jah­ren ge­hei­ra­tet ha­ben wür­de, hät­te sie nicht un­be­fan­ge­ner sein kön­nen. Sie war ganz wie sonst und mach­te mit der klei­nen Emly und mir vor dem Tee einen klei­nen Spa­zier­gang, wäh­rend Mr. Bar­kis phi­lo­so­phisch sei­ne Pfei­fe rauch­te, of­fen­bar da­mit be­schäf­tigt, sich sein künf­ti­ges Glück aus­zu­ma­len. Das schi­en sei­nen Ap­pe­tit an­zu­re­gen, denn ich er­in­ne­re mich ge­nau, dass er zum Tee noch eine ziem­li­che Men­ge kal­ten Schin­ken zu sich nahm, trotz­dem er schon zu Mit­tag ziem­lich viel Schwei­ne­bra­ten und Ge­mü­se ge­ges­sen und dann mit ein oder zwei jun­gen Hüh­nern noch nach­ge­hol­fen hat­te.

Ich habe seit­dem oft dar­an den­ken müs­sen, was für eine selt­sa­me un­schul­di­ge und un­ge­bräuch­li­che Hoch­zeit das da­mals war.

Bald nach Dun­kel­wer­den stie­gen wir wie­der in den Wa­gen und fuh­ren ge­müt­lich zu­rück und be­trach­te­ten die Ster­ne und spra­chen über sie. Ich führ­te haupt­säch­lich die Kon­ver­sa­ti­on und klär­te Mr. Bar­kis’ Geist in ganz er­staun­li­cher­wei­se auf. Er hät­te wahr­schein­lich al­les ge­glaubt, was ihm zu er­zäh­len mir ein­ge­fal­len wäre, denn er emp­fand die größ­te Hochach­tung vor mei­ner Ge­scheit­heit und sag­te sei­ner Frau, ich sei der reins­te »Roes­hus«. Da­mit mein­te er ein Wun­der­kind.

Als wir das The­ma Ster­ne er­schöpft hat­ten, oder bes­ser ge­sagt, als ich die geis­ti­gen Fä­hig­kei­ten Mr. Bar­kis’ er­schöpft hat­te, nah­men die klei­ne Emly und ich ein al­tes Um­schlag­tuch als ge­mein­sa­men Man­tel um und blie­ben so wäh­rend der gan­zen Rück­fahrt sit­zen. Ach, wie sehr ich sie lieb­te! Wel­che Se­lig­keit, dach­te ich, wenn wir ver­hei­ra­tet wä­ren und hin­aus in die wei­te Welt ge­hen könn­ten, um un­ter den Bäu­men und in den Fel­dern zu le­ben, – wenn wir nie­mals äl­ter und klü­ger zu wer­den brauch­ten, im­mer Kin­der Hand in Hand im Son­nen­schein über blu­mi­ge Wie­sen wan­deln und abends im Schlum­mer der Un­schuld und des Frie­dens das Haupt aufs wei­che Moos le­gen dürf­ten; wel­che Se­lig­keit, der­einst von den Vö­geln des Him­mels be­gra­ben zu wer­den, wenn wir stür­ben. Sol­che Traum­bil­der, licht­strah­lend wie un­se­re Un­schuld, un­er­reich­bar wie die Ster­ne über un­sern Häup­tern, gau­kel­te mir mein Geist vor den gan­zen Weg. Es freut mich, dass zwei so un­schuld­vol­le Her­zen wie Emly und ich Peg­got­tys Hoch­zeit ver­schön­ten.

Wir ka­men noch bei­zei­ten zu dem al­ten Boot; dort nah­men Mr. und Mrs. Bar­kis Ab­schied von uns und fuh­ren ge­mäch­lich nach Hau­se in ihr eig­nes Heim. Da fühl­te ich das ers­te Mal, dass ich Peg­got­ty ver­lo­ren hat­te. Un­ter je­dem an­de­ren Da­che als hier, wo ich die klei­ne Emly bei mir wuss­te, wäre ich mit blu­ten­dem Her­zen zu Bett ge­gan­gen.

Mr. Peg­got­ty und Ham sa­hen mir an, wor­un­ter ich litt, hiel­ten ein Abendes­sen be­reit und setz­ten ihre gast­lichs­ten Ge­sich­ter auf, um mir mei­ne trau­ri­gen Ge­dan­ken zu ver­trei­ben. Die klei­ne Emly saß ne­ben mir auf dem Kof­fer – das ers­te Mal, seit ich hier weil­te, und es war ein wun­der­vol­ler Schluss für einen herr­li­chen Tag.

Die­se Nacht war Flut. Und bald, nach­dem wir uns schla­fen ge­legt, fuh­ren Mr. Peg­got­ty und Ham zum Fi­schen aus. Ich fühl­te mich sehr ge­schmei­chelt, in dem ein­sa­men Haus als Be­schüt­zer Em­lys und Mrs. Gum­mid­ges zu­rück­ge­las­sen zu sein, und wünsch­te mir nur, dass ein Löwe oder eine Schlan­ge oder ein an­de­res bös­ar­ti­ges Un­ge­heu­er uns über­fal­len möch­te, da­mit ich es ver­nich­ten und mich mit Ruhm be­de­cken könn­te. Aber da nichts die­ser Art auf den Dü­nen von Yar­mouth her­um­streif­te, ließ ich mir, um die­sem Man­gel ab­zu­hel­fen, bis zum Mor­gen von Dra­chen träu­men.

Am Mor­gen kam Peg­got­ty und rief mich wie ge­wöhn­lich ans Fens­ter, als ob Mr. Bar­kis, der Fuhr­mann, von An­be­ginn an nur ein Traum ge­we­sen wäre. Nach dem Früh­stück nahm sie mich mit sich nach Hau­se. Sie be­wohn­ten ein wun­der­schö­nes klei­nes Heim. Von al­len Mö­beln dar­in mach­te mir ein al­ter Schreib­tisch aus dunklem Holz im Empfangs­zim­mer, des­sen De­ckel auf­ge­schla­gen ein Pult bil­de­te, wor­auf eine große Quart­aus­ga­be von Fox’ »Buch der Mär­ty­rer« lag, den tiefs­ten Ein­druck. Als Wohn­stu­be diente eine mit Zie­gel­stei­nen ge­pflas­ter­te Kü­che. Das kost­ba­re Buch, von dem ich kei­ne Sil­be mehr weiß, ent­deck­te und stu­dier­te ich so­gleich; nie wie­der spä­ter be­such­te ich das Haus, ohne auf das Pult zu klet­tern und es zu ver­schlin­gen. Am meis­ten er­bau­ten mich die vie­len Bil­der, die alle Ar­ten von Mar­tern dar­stell­ten; die Mär­ty­rer und Peg­got­tys Haus sind seit­dem in mei­ner See­le un­zer­trenn­lich mit­ein­an­der ver­knüpft.

Ich nahm an die­sem Tage von Mr. Peg­got­ty und Ham und der klei­nen Emly Ab­schied und schlief in der Nacht bei Peg­got­ty in ei­nem Dach­stüb­chen, – das Kro­ko­dil­buch lag in ei­nem Fach zu­haup­ten des Bet­tes – das im­mer mein Zim­mer sein und im­mer für mich her­ge­rich­tet blei­ben soll­te.

»So­lan­ge ich lebe, lie­ber Davy, und un­ter die­sem Da­che woh­ne«, sag­te Peg­got­ty, »sollst du die­ses Zim­mer vor­fin­den, als ob ich dich jede Mi­nu­te er­war­te­te. Ich will es je­den Tag be­reit hal­ten, wie dein frü­he­res al­tes klei­nes Zim­mer, und wenn du selbst nach Chi­na gingst, soll es die gan­ze Zeit, wo du ab­we­send bist, auf dich war­ten.«

Ich fühl­te von gan­zem Her­zen die Wahr­heit aus die­sen Wor­ten mei­ner lie­ben al­ten Kinds­frau her­aus und dank­te ihr, so gut ich ver­moch­te. Es fiel nicht sehr über­schweng­lich aus, denn sie gab mir ihre Ver­si­che­rung, die Hän­de um mei­nen Hals ge­legt, erst an dem Mor­gen, als ich mit ihr und Mr. Bar­kis nach Hau­se fuhr. Sie ver­ließ mich am Gar­ten­tor in Blun­der­sto­ne.

Es war ein be­drücken­der An­blick für mich, den Wa­gen mit Peg­got­ty fort­fah­ren zu se­hen, wäh­rend ich un­ter den al­ten Ul­men vor dem Hau­se stand, in dem kein Blick von Lie­be oder Zu­nei­gung mehr auf mir ru­hen soll­te.

Von die­sem Zeit­punkt an ver­fiel ich in einen Zu­stand des Ver­las­sen­seins, auf den ich ohne Er­grif­fen­heit nicht zu­rück­bli­cken kann. Gänz­lich ver­nach­läs­sigt, ohne Ge­sell­schaft von Kna­ben mei­nes Al­ters, war ich ohne jede Auf­ga­be, al­lein ge­las­sen mit mei­nen eig­nen trü­ben Ge­dan­ken, die selbst jetzt noch, wo ich dies schrei­be, ih­ren Schat­ten auf das Pa­pier zu wer­fen schei­nen.

Was wür­de ich dar­um ge­ge­ben ha­ben, wenn man mich wie­der in eine Schu­le ge­schickt hät­te – und wäre sie noch so streng ge­we­sen –, mich auch nur das Ge­rings­te ge­lehrt hät­te. Kei­ne Hoff­nung lag vor mir. Man konn­te mich nicht lei­den, sah hart­nä­ckig und mür­risch an mir vor­bei. Ich glau­be, Mr. Murd­sto­ne be­saß da­mals we­nig Mit­tel, aber das tut we­nig zur Sa­che. Er konn­te mich nicht aus­ste­hen, und ich glau­be, er woll­te mei­ne An­sprü­che an ihn ver­ges­sen, in­dem er mich ver­nach­läs­sig­te.

Ich wur­de nicht tät­lich miss­han­delt. Man schlug mich nicht und ta­del­te mich nicht. Aber das Un­recht, das ich litt, war ohne Un­ter­bre­chung und wur­de mir in sys­te­ma­ti­scher lei­den­schafts­lo­ser Wei­se zu­ge­fügt. Tag um Tag, Wo­che um Wo­che, Mo­nat um Mo­nat wur­de ich kalt ver­nach­läs­sigt. Was sie wohl mit mir an­ge­fan­gen hät­ten, wenn ich krank ge­wor­den wäre? Ob mich je­mand ge­pfleg­te hät­te oder ob sie mich in mei­nem ein­sa­men Zim­mer ein­fach hät­ten ver­schmach­ten las­sen!?

Wenn Mr. und Miss Murd­sto­ne zu Hau­se wa­ren, nahm ich mei­ne Mahl­zeit mit ih­nen ein. In ih­rer Ab­we­sen­heit aß und trank ich al­lein. Zu al­len Zei­ten trieb ich mich un­be­ach­tet im Hau­se und in der Nähe her­um. Sie ga­ben nur ei­fer­süch­tig acht, dass ich mit nie­mand Freund­schaft schlös­se, wahr­schein­lich, da­mit ich mich nicht be­kla­gen könn­te.

Wohl aus dem­sel­ben Grun­de war es mir fast nie er­laubt, mit Mr. Chil­lip einen Nach­mit­tag zu ver­le­ben, trotz­dem er mich sehr oft ein­lud. Nur sel­ten durf­te ich ihn be­su­chen. Eben­so sel­ten die ih­nen so ver­hass­te Peg­got­ty. Ihrem Ver­spre­chen ge­treu kam die gute See­le ein­mal in der Wo­che zu mir, oder wir tra­fen uns in der Nähe, und nie kam sie mit lee­ren Hän­den. Aber wie vie­le, vie­le Male täusch­te ich mich bit­ter in der Hoff­nung, Er­laub­nis zu be­kom­men, sie in ih­rer Woh­nung be­su­chen zu dür­fen. Hie und da wur­de es mir ge­stat­tet, und bei ei­ner sol­chen Ge­le­gen­heit brach­te ich her­aus, dass Mr. Bar­kis ei­gent­lich ein Geiz­hals, oder wie sie es nann­te, ein biss­chen knicke­rig war, und viel Geld in ei­nem Kof­fer un­ter sei­nem Bet­te ver­steckt hielt, der an­geb­lich voll Klei­der und Ho­sen sein soll­te. Mit sol­cher Zä­hig­keit ver­barg Bar­kis sei­ne Schät­ze, dass auch die kleins­te Sum­me nur durch List aus ihm her­aus­ge­lockt wer­den konn­te. Peg­got­ty muss­te je­des Mal eine wah­re Pul­ver­ver­schwö­rung an­zet­teln, um sams­tags ihr Haus­hal­tungs­geld zu be­kom­men.

 

Wäh­rend die­ser lan­gen Zeit fühl­te ich all­mäh­lich jede Hoff­nung schwin­den und emp­fand die voll­stän­di­ge Ver­nach­läs­si­gung so tief, dass ich ohne mei­ne al­ten Bü­cher ganz und gar elend ge­we­sen wäre. Sie bil­de­ten mei­nen ein­zi­gen Trost, und ich war ih­nen so treu, wie sie mir, und ich las sie, ich weiß nicht mehr, wie vie­le Male durch.

Ich kom­me jetzt zu ei­nem Zeit­ab­schnitt mei­nes Le­bens, den ich nie ver­ges­sen kann und des­sen Erin­ne­rung mir oft un­ge­ru­fen wie ein Ge­s­penst er­schie­nen ist und glück­li­che Zei­ten ge­trübt hat.

Ich schlen­der­te wie ge­wöhn­lich ei­nes Tags zweck­los und träu­me­risch wie im­mer um­her, da stieß ich, um eine Ecke bie­gend, un­ver­mu­tet auf Mr. Murd­sto­ne, der sich in Beglei­tung ei­nes Herrn be­fand. Ich woll­te mich ver­le­gen vor­bei­drücken, als der Herr rief: »Hal­lo, Brooks.«

»Nein, Sir, Da­vid Cop­per­field«, sag­te ich.

»Sei still, du bist Brooks von Shef­field«, sag­te der Herr, »das ist dein Name.«

Bei die­sen Wor­ten sah ich mir den Gent­le­man ge­nau­er an und er­kann­te in ihm Mr. Qui­ni­on, der da­mals bei mei­nem und Mr. Murd­sto­nes Be­such in Lo­we­stoft so ge­lacht hat­te.

»Und was machst du und wo gehst du in die Schu­le, Brooks?« frag­te Mr. Qui­ni­on. Er leg­te mir die Hand auf die Schul­ter und zog mich mit. Ich wuss­te nicht, was ich ant­wor­ten soll­te, und blick­te fra­gend auf Mr. Murd­sto­ne.

»Er ist jetzt zu Hau­se«, sag­te Mr. Murd­sto­ne. »Er geht über­haupt nicht in die Schu­le. Ich weiß nicht, was ich mit ihm an­fan­gen soll. Es ist ein schwie­ri­ger Fall.«

Sein al­ter falscher Blick ruh­te eine Wei­le auf mir, dann run­zel­te er die Brau­en und wand­te sich mit Wi­der­wil­len von mir ab.

»Hum«, sag­te Mr. Qui­ni­on und sah uns bei­de an. »Schö­nes Wet­ter.«

Eine Pau­se trat ein, und ich über­leg­te, wie ich mich am bes­ten von ihm los­ma­chen könn­te und mei­nes We­ges ge­hen, als er sag­te:

»Ich glau­be, du bist doch ein ziem­lich flin­ker Bur­sche, was, Brooks?«

»Ja, er ist flink ge­nug«, sag­te Mr. Murd­sto­ne un­ge­dul­dig. »Lass ihn doch ge­hen, er wird dirs nicht Dank wis­sen, dass du ihn fest­hältst.« Auf sei­nen Wink ließ mich Mr. Qui­ni­on los, und ich be­eil­te mich, weg­zu­kom­men. Als ich mich im Gar­ten um­dreh­te, sah ich, dass Mr. Murd­sto­ne, am Kirch­hof ste­hen­ge­blie­ben, mit Mr. Qui­ni­on un­ter­han­del­te. Sie sa­hen mir bei­de nach, und ich merk­te, dass sie von mir spra­chen.

Mr. Qui­ni­on blieb die Nacht über bei uns. Nach dem Früh­stück am nächs­ten Mor­gen woll­te ich eben das Zim­mer ver­las­sen, als mich Mr. Murd­sto­ne zu­rück­rief. Er ging dann fei­er­lich an den Schreib­tisch sei­ner Schwes­ter; Mr. Qui­ni­on schau­te, die Hän­de in den Ta­schen, zum Fens­ter hin­aus, und ich stand da und sah von ei­nem zum an­de­ren.

»Da­vid«, be­gann Mr. Murd­sto­ne, »für die Ju­gend ist dies eine Welt der Tat, aber kei­ne zum Brü­ten und Fau­len­zen.«

»Wie du es machst«, füg­te sei­ne Schwes­ter hin­zu.

»Jane Murd­sto­ne, über­las­se das ge­fäl­ligst mir! – Also ich sage dir, Da­vid, für die Ju­gend ist dies eine Welt der Tat und nicht ein Feld zum Brü­ten und Fau­len­zen, ganz be­son­ders nicht für einen Jun­gen von dei­nem Cha­rak­ter, der der Zucht be­darf und dem man den größ­ten Dienst leis­tet, wenn man ihn zwingt, die Wege der ar­bei­ten­den Welt zu be­tre­ten, um ihn zu du­cken und zu bre­chen.«

»Mit Trotz ist hier nichts aus­zu­rich­ten«, warf sei­ne Schwes­ter da­zwi­schen, »dein Trotz muss ge­bro­chen wer­den. Er soll und muss ge­bro­chen wer­den.« Mr. Murd­sto­ne warf ihr einen halb ab­wei­sen­den, halb bil­li­gen­den Blick zu und fuhr fort:

»Ich glau­be, du weißt, Da­vid, dass ich nicht reich bin. Je­den­falls weißt dus jetzt. Du hast eine be­ach­tens­wer­te Er­zie­hung ge­nos­sen. Er­zie­hung kos­tet Geld. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, wür­de ich es doch für vor­teil­haft hal­ten, dich nicht mehr in die Schu­le zu schi­cken. Was vor dir liegt, ist der Kampf mit der Welt, und je eher du da­mit an­fängst, umso bes­ser!«

Ich glau­be, dass ich ihn in mei­ner eig­nen arm­se­li­gen Art wohl schon lan­ge be­gon­nen hat­te.

»Du hast wohl schon von dem Comp­toir ge­hört?« fuhr Mr. Murd­sto­ne fort.

»Vom Comp­toir, Sir?«

»Von Murd­sto­ne & Grin­bys Wein­hand­lung.«

Ich muss ver­mut­lich ein ver­wirr­tes Ge­sicht ge­macht ha­ben, denn er sag­te un­ge­dul­dig: »Das Comp­toir, das Ge­schäft, der Kel­ler, das La­ger, kurz und gut.«

»Ich glau­be, ich habe da­von ge­hört, Sir, aber ich weiß nicht mehr wann.«

»Das ist schließ­lich gleich­gül­tig«, ant­wor­te­te er. »Mr. Qui­ni­on führt das Ge­schäft.«

Ich blick­te den Gent­le­man, der im­mer noch aus dem Fens­ter schau­te, ehr­er­bie­tig an.

»Mr. Qui­ni­on meint, dass er noch ein paar Jun­gen be­schäf­ti­gen kann und kei­nen Grund sieht, warum er dich nicht auch un­ter den­sel­ben Be­din­gun­gen an­stel­len soll­te.«

»Wenn Brooks schon sonst kei­ne an­de­ren Aus­sich­ten hat, Murd­sto­ne«, ließ Mr. Qui­ni­on halb­laut fal­len und sah sich nach uns um.

Ohne zu be­ach­ten, was er sag­te, fuhr Mr. Murd­sto­ne un­ge­dul­dig, fast är­ger­lich fort:

»Die Be­din­gun­gen sind, dass du so viel ver­dienst, dass du Es­sen, Trin­ken und Ta­schen­geld hast. Dei­ne Woh­nung, die ich dir aus­su­chen wer­de, be­zah­le ich, eben­so dei­ne Wä­sche.«

»Die ich aus­su­chen wer­de«, sag­te Miss Murd­sto­ne.

»Für dei­ne Klei­der wird auch ge­sorgt wer­den, da du für die ers­te Zeit sie dir nicht selbst wirst be­schaf­fen kön­nen. Du gehst also jetzt mit Mr. Qui­ni­on nach Lon­don, Da­vid, um ein Le­ben auf eig­ne Rech­nung zu be­gin­nen.«

»Kurz, du bist ver­sorgt«, be­merk­te Miss Murd­sto­ne »und wirst ge­fäl­ligst dei­ne Pf­licht tun.«

Ich ver­stand ganz gut, dass man mich nur los­wer­den woll­te, weiß aber nicht mehr recht, ob ich mich dar­über freu­te oder trau­rig war. Ich glau­be, ich fühl­te mich so ver­wirrt, dass ich zwi­schen bei­den Emp­fin­dun­gen hin und her schwank­te. Es blieb auch nicht viel Zeit, mir dar­über klar­zu­wer­den, da Mr. Qui­ni­on am nächs­ten Mor­gen ab­rei­sen soll­te.

Ich sehe mich an je­nem Mor­gen in ei­nem al­ten ab­ge­trag­nen wei­ßen Hut mit ei­nem schwar­zen Trau­er­flor, in ei­ner schwar­zen Ja­cke und ein paar har­ten stei­fen Man­che­s­ter­ho­sen, die Miss Murd­sto­ne ver­mut­lich als die bes­te Rüs­tung im Kamp­fe mit der Welt, den ich jetzt be­gin­nen soll­te, aus­ge­sucht hat­te. In die­sem Auf­zug, alle mei­ne Hab­se­lig­kei­ten in ei­nem klei­nen Kof­fer, ganz al­lein, »ein­sam und ver­las­sen«, wie Mrs. Gum­mid­ge ge­sagt hät­te, saß ich auf dem Wa­gen, der Mr. Qui­ni­on zur Lon­do­ner Post nach Yar­mouth brach­te.

Klei­ner und klei­ner wur­den das Haus und die Kir­che in der Fer­ne, das Grab un­ter dem Baum ver­schwand hin­ter den Häu­sern. Dann sehe ich den Kirch­turm nicht über mei­nem al­ten Spiel­platz mehr ra­gen, und der Him­mel ist öde und leer.

11. Kapitel – Ich beginne ein Leben auf eigne Faust und finde keinen Gefallen daran

Ich ken­ne die Welt jetzt gut ge­nug, um mich fast über nichts mehr zu wun­dern, aber den­noch muss ich selbst heu­te noch stau­nen, wie man mich da­mals in ei­nem sol­chen Al­ter der­ar­tig leicht­fer­tig hin­aus­sto­ßen konn­te. Dass sich nie­mand ei­nes Kin­des von so vor­treff­li­chen Fä­hig­kei­ten und mit so großer Beo­b­ach­tungs­ga­be, so schnell von Be­grif­fen, lern­be­gie­rig, kör­per­lich und geis­tig so leicht ver­letz­bar wie ich, an­nahm, klingt fast wun­der­bar. Aber nie­mand tat es, und so wur­de ich in mei­nem zehn­ten Jahr ein klei­ner Lauf­bur­sche bei Murd­sto­ne & Grin­by.

Murd­sto­ne & Grin­bys Ma­ga­zin lag am Was­ser un­ten in Black­fri­ars. Neu­bau­ten ha­ben die Ge­gend ver­än­dert, aber da­mals war es das letz­te Haus in ei­ner en­gen Stra­ße, die sich zum Fluss hin­schlän­gel­te; am Ende mit ein paar Stu­fen, wo ein Boot an­leg­te. Es war ein bau­fäl­li­ges al­tes Haus mit ei­nem eig­nen La­de­platz, der wäh­rend der Flut im Was­ser und wäh­rend der Ebbe im Schlamm stand und von Rat­ten wim­mel­te. Die ge­tä­fel­ten Zim­mer, schwarz von Schmutz und Rauch von hun­dert Jah­ren wohl, die ver­faul­ten Fuß­bö­den und Stie­gen, das Quie­ken und Pfei­fen der al­ten Rat­ten im Kel­ler, der Schmutz und die Fäul­nis des Or­tes, al­les das steht jetzt noch so deut­lich vor mei­nen Au­gen, wie beim ers­ten Mal, als ich an Mr. Qui­ni­ons Hand zit­ternd ein­trat.

Murd­sto­ne & Grin­by hat­ten mit al­len mög­li­chen Be­völ­ke­rungs­schich­ten zu tun. Das Haupt­ge­schäft be­stand dar­in, ge­wis­se Last­schif­fe mit Wein und Brannt­wein zu ver­sor­gen. Ich weiß nicht mehr, was es für Last­schif­fe wa­ren, aber ei­ni­ge der­sel­ben fuh­ren nach Ost- und West­in­di­en. Eine große Men­ge lee­rer Fla­schen bil­de­te eine Begleiter­schei­nung die­ser Ge­schäftstä­tig­keit, und eine An­zahl Män­ner und Kna­ben muss­ten die­se Fla­schen ge­gen das Licht hal­ten, die be­schä­dig­ten weg­le­gen und die üb­ri­gen aus­spü­len. Wenn die lee­ren Fla­schen zu Ende gin­gen, muss­ten die ge­füll­ten mit Zet­teln be­klebt, zu­ge­korkt, ver­sie­gelt und in Kis­ten ge­packt wer­den. Das war auch mei­ne Be­schäf­ti­gung.

Wir wa­ren un­ser drei oder vier Kna­ben. Mein Platz be­fand sich in ei­ner Ecke des La­ger­hau­ses, wo Mr. Qui­ni­on mich se­hen konn­te, wenn er sich auf das un­ters­te Qu­er­holz sei­nes Stuhls im Comp­toir auf­stell­te und über das Pult hin­weg zum Fens­ter hin­aus­blick­te.

Am ers­ten Mor­gen mei­ner so aus­sichts­voll an­he­ben­den Le­bens­bahn wur­de der äl­tes­te der an­ge­stell­ten Kna­ben her­bei­ge­ru­fen, um mir mei­ne Ar­beit zu zei­gen. Er hieß Mick Wal­ker und trug eine zer­ris­se­ne Schür­ze und eine Müt­ze aus Pa­pier. Sein Va­ter war, wie er mir sag­te, Schu­ten­füh­rer und ging mit schwar­zem Samt­ba­rett im jähr­li­chen Fest­zu­ge des Lord-Mayor. Un­ser Vor­ar­bei­ter, eben­falls ein Kna­be, wur­de mir un­ter dem son­der­ba­ren Na­men Mehl­kar­tof­fel vor­ge­stellt. Wie ich spä­ter her­aus­fand, war der Jüng­ling nicht auf die­sen Na­men ge­tauft, son­dern hat­te ihn we­gen sei­ner blas­sen meh­li­gen Ge­sichts­far­be be­kom­men. Er hieß auch kurz Meh­lig, und sein Va­ter war Them­se­schif­fer und au­ßer­dem Feu­er­wehr­mann in ei­nem großen Thea­ter, wo Meh­ligs klei­ne Schwes­ter Ko­bol­de in Pan­to­mi­men spiel­te.

Wor­te kön­nen mei­ne ge­hei­me See­len­qual nicht be­schrei­ben, als ich zu die­ser Ge­sell­schaft her­ab­sank, die­se jetzt täg­li­che Um­ge­bung mit mei­ner glück­li­chen Kind­heit ver­glich, – nicht zu re­den von dem Um­gang mit Steer­forth, Tradd­les und den an­de­ren Kna­ben, – und alle mei­ne Hoff­nun­gen, zu ei­nem an­ge­se­he­nen ge­bil­de­ten Men­schen her­an­zu­wach­sen, ver­nich­tet fand. Un­be­schreib­lich war mei­ne Hoff­nungs­lo­sig­keit, die Scham über mei­ne Lage, das Elend in mei­nem jun­gen Her­zen, von Tag zu Tag mehr und mehr ver­ges­sen zu müs­sen, was ich ge­lernt, ge­dacht und mir aus­ge­malt hat­te. Sooft Mick Wal­ker an die­sem Vor­mit­tag fort­ging, misch­ten sich mei­ne Trä­nen mit dem Was­ser, in dem ich die Fla­schen spül­te, und ich schluchz­te, als ob mir das Herz bre­chen woll­te.

Die Comp­toir­glo­cke zeig­te halb eins, und al­les mach­te sich zum Mit­ta­ges­sen be­reit, als Mr. Qui­ni­on ans Fens­ter klopf­te und mich her­ein­rief. Ich ge­horch­te und fand drin­nen einen star­ken Mann von mitt­lern Jah­ren in ei­nem brau­nen Über­zie­her, mit schwar­zen Ho­sen und Schu­hen, mit ei­nem Kahl­kopf, der so glatt war wie ein Ei, und ei­nem vol­len brei­ten Ge­sicht. Sei­ne Klei­der wa­ren schä­big, da­für hat­te er einen un­ge­heu­ren Hemd­kra­gen. Er trug einen ehe­mals glän­zend ge­we­se­nen Stock mit ein paar großen, ab­ge­griff­nen, schwar­zen Quas­ten und an der Brust eine Lor­gnet­te. Die­se, wie ich spä­ter her­aus­fand, bloß als Schmuck, denn er sah sel­ten hin­durch und konn­te nichts er­ken­nen, wenn er sie vors Auge hielt.

 

»Das ist er«, sag­te Mr. Qui­ni­on und deu­te­te auf mich.

»Also das ist Mas­ter Cop­per­field«, sag­te der Frem­de mit ei­ner ge­wis­sen af­fek­tier­ten Herab­las­sung in Stim­me und Be­neh­men und ei­ner Vor­nehm­tue­rei, die mir au­ßer­or­dent­lich im­po­nier­te.

»Sie be­fin­den sich doch wohl, Sir?«

Ich sag­te: »Au­ßer­or­dent­lich«, und hoff­te das glei­che von ihm. Mir war ent­setz­lich zu­mu­te, weiß der Him­mel, aber es lag nicht in mei­ner Na­tur zu kla­gen.

»Dem Him­mel sei Dank«, sag­te der Frem­de, »mir geht es recht gut. Ich habe einen Brief von Mr. Murd­sto­ne emp­fan­gen, in dem ich er­sucht wer­de, in ei­nem Zim­mer im Hin­ter­trak­te mei­nes Hau­ses, das au­gen­blick­lich leer steht und – und –« platz­te er plötz­lich in ei­nem An­fall von Ver­trau­lich­keit lä­chelnd her­aus – »als Schlaf­stu­be ver­mie­tet wer­den soll, den jun­gen An­fän­ger auf­zu­neh­men, den ich jetzt das Ver­gnü­gen habe zu –« er schwenk­te die Hand und steck­te das Kinn in den Hemd­kra­gen.

»Das ist Mr. Mi­ca­w­ber«, sag­te Mr. Qui­ni­on zu mir.

»Ahem«, sag­te der Frem­de, »das ist mein Name.«

»Mr. Mi­ca­w­ber«, sag­te Mr. Qui­ni­on, »ist Mr. Murd­sto­ne be­kannt. Er sam­melt Auf­trä­ge für uns, das heißt, wenn er wel­che be­kom­men kann. Er er­hielt von Mr. Murd­sto­ne we­gen dei­ner Woh­nung einen Brief und wird dich zu sich neh­men.«

»Mei­ne Adres­se ist Wind­sor Ter­ras­se, City Road – kurz«, sag­te Mr. Mi­ca­w­ber in der­sel­ben vor­neh­men Mie­ne wie bei Be­ginn und dann plötz­lich in ver­trau­li­chen Ton um­schla­gend, »kurz, ich woh­ne dort.«

»Ich ste­he un­ter dem Ein­druck«, fuhr er fort, »dass Ihre Wan­de­run­gen in die­ser Me­tro­po­le bis­her wohl noch nicht so aus­ge­dehnt ge­we­sen sein kön­nen, dass es Ih­nen nicht ei­ni­ger­ma­ßen Schwie­rig­kei­ten be­rei­ten dürf­te, in die Ver­bor­gen­hei­ten des mo­der­nen Ba­by­lon bis in die Rich­tung der City Road vor­zu­drin­gen, – kurz –«, er ver­fiel wie­der in plötz­li­che Ver­trau­lich­keit, »dass Sie sich ver­lau­fen könn­ten. Ich wer­de so frei sein, Sie die­sen Abend ab­zu­ho­len und in die Kennt­nis des kür­zes­ten We­ges ein­zu­wei­hen.«

Ich dank­te von gan­zem Her­zen, denn es war freund­lich von Mr. Mi­ca­w­ber, dass er sich er­bot, so viel Mühe auf sich zu neh­men.

»Zu wel­cher Stun­de soll ich?« frag­te Mr. Mi­ca­w­ber.

»Ge­gen acht«, sag­te Mr. Qui­ni­on.

»Ge­gen acht«, wie­der­hol­te Mr. Mi­ca­w­ber. »Ich er­lau­be mir, Ih­nen einen gu­ten Tag zu wün­schen, Mr. Qui­ni­on, ich will nicht län­ger stö­ren.«

Da­mit setz­te er sei­nen Hut auf und ging hin­aus, den Stock un­ter dem Arm, ker­zen­ge­ra­de, und be­gann ein Lied­chen zu pfei­fen, als er das Comp­toir hin­ter sich hat­te.

Mr. Qui­ni­on en­ga­gier­te mich so­dann in al­ler Form für das La­ger­haus von Murd­sto­ne & Grin­by als »Bur­sche für al­les« mit ei­nem Sa­lär von, ich weiß nicht mehr, sechs oder sie­ben Schil­lin­gen wö­chent­lich. Er be­zahl­te mir eine Wo­che vor­aus – aus sei­ner Ta­sche, glau­be ich, und ich gab da­von Meh­lig sechs Pence, da­mit er abends mei­nen Kof­fer nach der Wind­sor Ter­ras­se brin­ge, der, wenn auch noch so klein, den­noch für mei­ne Kraft zu schwer war. Wei­te­re sechs Pence zahl­te ich für mein Mit­ta­ges­sen, das aus ei­ner Fleisch­pas­te­te und ei­nem Schluck Brun­nen­was­ser be­stand, und ver­brach­te die freie Mit­tags­stun­de auf der Stra­ße her­um­schlen­dernd.

Abends zur fest­ge­setz­ten Zeit er­schi­en Mr. Mi­ca­w­ber wie­der. Ich wusch mir sei­net­we­gen Hän­de und Ge­sicht, und wir gin­gen nach uns­rer Woh­nung. Mr. Mi­ca­w­ber mach­te mich auf die Stra­ßen­na­men und die Merk­ma­le der Eck­häu­ser auf­merk­sam, da­mit ich am an­de­ren Mor­gen den Weg wie­der zu­rück­fin­den könn­te.

In sei­nem Hau­se in der Wind­sor Ter­ras­se, das auch so auf äu­ßern Schein hielt und da­bei eben­so schä­big war wie er selbst, stell­te er mich Mrs. Mi­ca­w­ber vor, ei­ner ma­gern ver­welk­ten Dame, die, nicht mehr jung, mit ei­nem Kind an der Brust in der Woh­nung im Par­terre saß. Der ers­te Stock war über­haupt nicht mö­bliert und die Rou­leaux wa­ren her­ab­ge­las­sen, um die Nach­barn zu täu­schen. Der Säug­ling ge­hör­te zu ei­nem Zwil­lings­paar und wäh­rend mei­ner gan­zen Be­kannt­schaft mit der Fa­mi­lie sah ich nie­mals die Mut­ter ohne einen der bei­den an der Brust. Ei­ner von bei­den hat­te im­mer Hun­ger.

Noch zwei an­de­re Kin­der wa­ren da. Mas­ter Mi­ca­w­ber, un­ge­fähr vier Jah­re, und Miss Mi­ca­w­ber, etwa drei alt. Dazu kam noch ein jun­ges, dun­kel­häu­ti­ges Dienst­mäd­chen, das be­stän­dig schnauf­te und, wie sie es nann­te, ein »Wais­ling«, aus dem be­nach­bar­ten St.-Lu­kas-Ar­men­hau­se stamm­te. Mein Zim­mer sah un­ter dem Da­che nach dem Hof hin­aus, war klein, mit ei­nem weiß­blau­en Sem­mel­mus­ter be­malt und sehr dürf­tig mö­bliert.

»Ich hät­te nie ge­dacht«, sag­te Mrs. Mi­ca­w­ber, als sie mit den bei­den Zwil­lin­gen hin­auf­ging, um mir das Zim­mer zu zei­gen, und sich nie­der­setz­te, um Atem zu schöp­fen, »ich hät­te nie ge­glaubt, ehe ich hei­ra­te­te und noch bei Papa und Mama leb­te, dass ich noch ein­mal an frem­de Leu­te wür­de ver­mie­ten müs­sen. Aber da Mr. Mi­ca­w­ber mo­men­tan in Ver­le­gen­hei­ten ist, müs­sen alle selbst­süch­ti­gen Be­den­ken fal­len.«

Ich sag­te: »Ja­wohl, Ma­da­me.«

»Mr. Mi­ca­w­bers Be­dräng­nis­se sind au­gen­blick­lich fast er­drücken­der Art«, fuhr Mrs. Mi­ca­w­ber fort, »und ob es mög­lich sein wird, ihn hin­durch­zu­brin­gen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hau­se bei Papa und Mama leb­te, hät­te ich Pa­pas Lieb­lings­aus­druck Ex­pe­ri­en­tia do­cet kaum so ver­stan­den, wie ich es jetzt tue.«

Ich weiß nicht recht, ob sie mir sag­te, dass Mr. Mi­ca­w­ber Ma­ri­ne­be­am­ter ge­we­sen war, oder ob ich es mir bloß ein­bil­de­te. Au­gen­blick­lich war er eine Art Platz­rei­sen­der für ver­schie­de­ne Häu­ser, mach­te aber we­nig oder gar kei­ne Ge­schäf­te.

»Wenn Mr. Mi­ca­w­bers Gläu­bi­ger nicht war­ten wol­len«, sag­te Mr. Mi­ca­w­ber, »müs­sen sie selbst die Fol­gen tra­gen. Je eher sies zu ei­nem Ende brin­gen, de­sto bes­ser. Blut lässt sich aus kei­nem Stein pres­sen, und noch we­ni­ger kann Mr. Mi­ca­w­ber jetzt et­was auf Ab­schlag zah­len, – die Ge­richts­kos­ten gar nicht zu er­wäh­nen.«

Ich weiß nicht, ob sie mei­ne früh­rei­fe Selbst­stän­dig­keit über mein Al­ter irre mach­te oder ob die An­ge­le­gen­heit sie der­art er­füll­te, dass sie sie so­gar den bei­den Zwil­lin­gen er­zählt ha­ben wür­de, wenn nie­mand an­ders da­ge­we­sen wäre. Je­den­falls schlug sie die­se Ton­art an und re­de­te dar­in wei­ter, so­lan­ge ich sie kann­te.

Die arme Mrs. Mi­ca­w­ber! Sie habe sich kei­ne Mühe ver­drie­ßen las­sen, sag­te sie; und dar­an zweifle ich nicht. Die Hau­stü­re war halb ver­deckt von ei­ner großen Mes­sing­plat­te mit der Auf­schrift: »Mrs. Mi­ca­w­bers Er­zie­hungs­heim für jun­ge Da­men.« Aber ich er­fuhr nie, dass eine jun­ge Dame Un­ter­richt ge­nom­men hät­te oder an­ge­mel­det wor­den wäre. Die ein­zi­gen Be­su­cher, die ich sah, wa­ren Gläu­bi­ger. Sie pfleg­ten den gan­zen Tag zu kom­men und ei­ni­ge von ih­nen be­nah­men sich furcht­bar wild. Ein Mann mit ei­nem schmut­zi­gen Ge­sich­te, ich glau­be, er war Schus­ter, klemm­te sich je­den Mor­gen schon um sie­ben Uhr früh zur Hau­stü­re her­ein und rief die Trep­pe hin­auf Mr. Mi­ca­w­ber zu: »No, Sie sind noch nicht fort, weiß schon. Wer­den Sie end­lich zah­len? Ver­ste­cken Sie sich nicht. Das ist ge­mein! Ich möch­te nicht so ge­mein sein, wenn ich Sie wäre. Zah­len Sie end­lich, ja? Wer­den Sie nicht end­lich zah­len, was! No?« Da er nie eine Ant­wort be­kam, pfleg­te er sich in sei­ner Wut zu Wor­ten wie Schwind­ler und Räu­ber zu ver­stei­gen, und als auch das nie half, lief er zu­wei­len so­gar auf die Stra­ße hin­aus und brüll­te zu den Fens­tern des zwei­ten Stocks hin­auf, wo sich Mr. Mi­ca­w­ber auf­hielt, wie er wuss­te.