Weihnachtsgeschichten und Erzählungen, 1. Band

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Die gute Frau war ganz außer sich vor Aufregung, Zärtlichkeit und Reue und weinte von ganzem Herzen, als sie plötzlich mit einem Schrei auffuhr und sich hinter ihrem Mann versteckte. Ihr Schrei war so angstvoll, dass die Kinder aus dem Schlaf auffuhren, schleunigst aus den Betten sprangen und sich um sie scharten. Ihr Blick war entsetzt und ihre Stimme außer sich vor Angst, als sie auf einen bleichen Mann in schwarzem Mantel deutete, der in das Zimmer hereingekommen war.

»Sieh den Mann dort an, sieh dort, was will er?«

»Meine Liebe«, entgegnete ihr Gatte, »ich will ihn fragen, wenn du mich nur loslässt. Was gibt es denn? Wie du zitterst.«

»Ich habe ihn auf der Straße gesehen, als ich eben draußen war. Er sah mich an und stand ganz dicht bei mir. Ich fürchte mich so vor ihm.«

»Fürchtest dich vor ihm, warum denn?«

»Ich weiß nicht, warum – ich – bleib hier!« Sie hielt ihren Mann zurück, als er auf den Fremden zugehen wollte.

Sie presste die eine Hand auf die Stirn und die andere auf die Brust. Ein sonderbares Zittern lief über ihren Körper, und eine Unruhe, wie wenn sie etwas verloren hätte, lag in ihren Augen.

»Bist du krank, mein Schatz?«

»Was ist das, was da wieder von mir weicht«, sagte sie leise vor sich hin, »was ist das nur, das da von mir weicht?« Dann antwortete sie kurz: »Krank? Nein, ich bin ganz wohl«, und starrte mit leerem Blick auf den Boden.

Ihr Mann, der ebenfalls nicht ganz frei von Furcht geblieben war und den die Sonderbarkeit ihres Wesens noch mehr beunruhigte, wandte sich jetzt an den bleichen Besuch im schwarzen Mantel, der mit zu Boden gesenkten Augen an der Tür stehengeblieben war.

»Was wünschen Sie eigentlich von uns, Sir?« fragte er.

»Ich fürchte, mein unbemerktes Hereintreten hat Sie erschreckt«, antwortete der Besuch, »aber Sie sprachen miteinander und hörten mein Kommen nicht.«

»Mein kleines Frauchen sagt, Sie haben es vielleicht selbst gehört«, entgegnete Mr. Tetterby, »es sei nicht das erste Mal heute abend, dass Sie sie erschreckt haben.«

»Das tut mir leid. Ich entsinne mich, Sie auf der Straße bemerkt zu haben; ich hatte nicht die Absicht, Sie zu erschrecken.« Er erhob bei diesen Worten seine Blicke und sie die ihren. Seltsam war die Scheu, die sie vor ihm hatte, seltsam das Grausen, als er das bemerkte.

Dennoch sahen sie einander scharf und forschend an.

»Mein Name ist Redlaw. Ich komme aus dem alten Kolleg dicht nebenan; ein junger Mann, der dort studiert, wohnt in Ihrem Hause, nicht wahr?«

»Mr. Denham?« fragte Tetterby.

»Ja.«

Es war eine ganz natürliche Bewegung und eine so flüchtige, dass sie kaum auffallen konnte, aber ehe der kleine Mann wieder antworten konnte, strich er sich mit der Hand über die Stirn und sah sich rasch im Zimmer um, als fühle er irgendeine Veränderung in der Atmosphäre vor sich gehen. Der Chemiker richtete gleich darauf den scheuen Blick, mit dem er die Frau vorhin angesehen, auch auf ihn, trat zurück und wurde noch fahler.

»Das Zimmer des Herrn«, sagte Tetterby, »ist oben, Sir. Seine Wohnung hat noch einen besonderen Eingang. Aber da Sie schon einmal hier sind, brauchen Sie nicht erst wieder in die Kälte hinauszugehen, wenn Sie hier die paar Stufen hinaufsteigen wollen«, und er zeigte auf eine Treppe, die unmittelbar in das obere Zimmer hinaufführte.

»Ja, ich will hinauf zu ihm«, sagte der Chemiker, »können Sie mir eine Kerze leihen?« Die unruhige Spannung in seinen Augen und das unerklärliche Misstrauen, das diesen Blick verdüsterte, schienen Mr. Tetterby zu beunruhigen. Er schwieg, sah ihn starr an und blieb wie gebannt ein oder zwei Minuten lang unbeweglich stehen.

Endlich sagte er: »Ich will Ihnen leuchten, Sir, wenn Sie mir folgen wollen.«

»Nein«, antwortete der Chemiker, »ich wünsche nicht, dass man mich begleitet oder bei ihm anmeldet; er erwartet mich nicht. Ich will lieber allein gehen. Bitte, geben Sie mir ein Licht, wenn Sie es entbehren können, und ich werde mich schon zurechtfinden.«

Er stieß diese Worte hastig hervor, nahm dem Zeitungsagenten die Kerze aus der Hand und berührte dabei unabsichtlich dessen Brust. Schnell zog er sie wieder zurück, als habe er den Mann verwundet (denn er wusste nicht, in welchem Teil seines Körpers die neue Kraft lag oder wie sie sich übertrug). Dann wandte er sich ab und stieg die Treppe empor.

Aber als er die oberste Stufe erreicht hatte, blieb er stehen und sah hinab. Die Frau stand noch auf derselben Stelle und drehte sinnend den Trauring um ihren Finger. Der Mann hatte das Haupt auf die Brust sinken lassen und brütete mürrisch vor sich hin. Die Kinder klammerten sich immer noch an die Mutter, blickten furchtsam zu dem Gast empor und drängten sich dichter aneinander, als sie ihn herabschauen sahen.

»Weg da«, sagte der Vater grob, »jetzt hab' ich's satt. Macht, dass ihr ins Bett kommt.« –

»Die Stube ist eng genug ohne euch«, setzte die Mutter hinzu. »Schert euch ins Bett.«

Verschüchtert und betrübt schlich die kleine Brut davon; Johnny und das Wickelkind machten den Schluss. Die Mutter sah sich verächtlich in der ärmlichen Stube um, schob die Überreste des Abendessens verdrossen beiseite und setzte sich hin, in mürrisches Nachsinnen verloren. Der Vater setzte sich wieder zum Kamin, schürte ungeduldig das kleine Feuer zusammen und beugte sich darüber, als wolle er es ganz für sich allein in Anspruch nehmen. Sie wechselten kein Wort.

Der Chemiker, blasser als zuvor, stahl sich wie ein Dieb hinauf, blickte auf die Veränderung, die unten vor sich gegangen, und wusste in seinem Grausen nicht, sollte er weitergehen oder umkehren.

»Was hab' ich getan«, sagte er verwirrt, »was wollte ich denn nur?«

»Der Wohltäter der Menschheit sein«, glaubte er eine Stimme antworten zu hören. Er blickte sich um, aber es war niemand da, und eine Wendung der Treppe verbarg jetzt die kleine Stube vor seinen Blicken. So schritt er weiter und sah nur mehr auf seinen Weg.

»Erst gestern Nacht habe ich den Pakt geschlossen, und schon sind alle Dinge mir fremd geworden. Ich bin mir selber fremd. Ich bin hier wie im Traum. Was für ein Interesse habe ich für diesen Ort oder irgendeinen andern? Mein Geist ist wie mit Blindheit geschlagen.«

Er stand vor einer Tür, klopfte an und trat ein, als drinnen jemand »herein« sagte.

»Ist's meine liebenswürdige Wärterin?« fragte die Stimme. »Aber warum frage ich denn, es kann ja doch niemand anderer sein.«

Die Stimme klang in fröhlichem, wenn auch müdem Ton und lenkte des Chemikers Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der auf einem an den Kamin gerückten Sofa lag und der Tür den Rücken kehrte. In einem so winzigen Kamin, mager und eingefallen wie die Wangen eines Kranken, dass er kaum das Zimmer erwärmen konnte, brannte das Feuer, nach dem sein Gesicht hingewandt war. Die Flammen waren dem zugigen Boden so nahe, dass sie flackernd und prasselnd brannten und die glühende Asche rasch durch den Rost fiel.

»Sie knistert beim Herunterfallen«, sagte der Student lächelnd, »das bedeutet, wie man sagt, nicht Särge, sondern viel Geld. Ich werde also, wenn Gott will, doch noch gesund und reich werden und am Ende noch eine kleine Milly lieben können, die mich dann immer an das gütigste und zarteste Herz in dieser Welt erinnern soll.«

Er streckte die Hand aus und erwartete, seine Pflegerin werde sie ergreifen. Da er aber noch sehr schwach war, blieb er dabei still liegen, ließ das Gesicht auf der andern Hand ruhen und drehte sich nicht um.

Der Chemiker sah sich im Zimmer um, blickte auf die Bücher und Papiere des Studenten, die auf einem Tisch in einer Ecke aufeinandergetürmt lagen und mit der erloschenen, jetzt beiseite gestellten Arbeitslampe von den Stunden eines fleißigen Studiums, das dieser Krankheit vorangegangen und sie vielleicht verursacht hatte, erzählten. Er blickte auf den Straßenanzug, der müßig an der Wand hing und die erste Stelle einnahm unter den Dingen, die von ehemaliger Gesundheit und Freiheit sprachen, sah auf die Andenken an andere und weniger einsame Szenen, auf die kleinen Miniaturporträts auf dem Kaminsims und die Abbildung des Elternhauses, auf das Zeichen eines ehrgeizigen Ziels oder vielleicht der persönlichen Zuneigung, nämlich – Redlaws eingerahmtes Bild. Es hatte eine Zeit gegeben – gestern noch –, wo nicht ein einziger dieser Gegenstände – wäre das Interesse an dem Studenten vor ihm auch noch so gering gewesen – ohne Eindruck auf den Chemiker geblieben wäre. Jetzt waren es gleichgültige Gegenstände, und wenn noch eine schwache Erinnerung in ihm auflebte, so verwirrte es ihn nur, und mit trübem Staunen blickte er umher. Der Student zog die magere Hand wieder zurück, als niemand sie berührte, richtete sich auf seinem Sofa auf und wandte den Kopf. »Mr. Redlaw!« rief er aus und fuhr empor.

Redlaw streckte den Arm aus. »Kommen Sie mir nicht näher, ich will mich hier niedersetzen. Bleiben Sie, wo Sie sind!«

Er setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe der Türe, warf einen Blick auf den jungen Mann, der sich mit der Hand auf dem Sofa aufrecht hielt, dann senkte er seine Augen und fuhr fort:

»Ich habe durch einen Zufall gehört, durch welchen, ist gleichgültig, dass ein Student aus meiner Klasse krank und hilflos sei. Ich konnte weiter nichts erfahren, als dass er in dieser Straße wohne. Ich fing in dem ersten Hause der Straße an zu fragen und habe Sie auf diese Art ausfindig gemacht.«

»Ich bin krank gewesen, Sir«, erwiderte der Student. Er sagte es in bescheidener Zurückhaltung, aber mit einer Art gewaltsam unterdrückten Grauens. »Aber jetzt geht es mir schon viel besser. Ein Fieberanfall, Nervenfieber glaube ich, hat mich sehr geschwächt, aber mir ist schon weit wohler. – Ich kann nicht sagen, dass ich ohne Hilfe gewesen bin in meiner Krankheit, sonst vergäße ich die freundliche Hand, die mich niemals verlassen hat.«

 

»Sie sprechen von der Frau des Kastellans«, sagte Redlaw.

»Ja.« Der Student neigte den Kopf wie in stiller Andacht.

Der Chemiker war in kalte monotone Teilnahmslosigkeit verfallen und schien eher ein Marmorbild auf dem Grabe des Mannes, der gestern bei der ersten Erwähnung von der unglücklichen Lage des Studenten aufgesprungen war, zu sein, als dieser lebende Mensch selbst. Er sah wieder den Studenten an, der sich mit der Hand auf das Sofa stützte, sah auf den Fußboden und in die Luft, als suche er nach einem Licht für seinen erblindeten Geist.

»Ich erinnerte mich an Ihren Namen«, sagte er, »als ich ihn vorhin in der Stube nennen hörte, und entsinne mich jetzt auch Ihres Gesichtes. Wir sind nur wenig in persönliche Beziehungen miteinander gekommen.«

»Sehr wenig.«

»Ich glaube, Sie haben sich von mir zurückgezogen und sich mehr als die andern von mir ferngehalten.«

Der Student verbeugte sich beistimmend.

»Und warum?« fragte der Chemiker, ohne im mindesten Interesse zu zeigen, bloß wie aus einer wunderlichen zufälligen Neugierde heraus. »Warum? Wie kommt es, dass Sie mir absichtlich verhehlt haben, dass Sie hiergeblieben sind in dieser Jahreszeit, wo alle andern verreisen, und dass Sie krank geworden sind? Ich möchte wissen, warum?« Der junge Mann hatte ihm mit wachsender Erregung zugehört. Er hob die niedergeschlagenen Augen, schlug die Hände zusammen und rief mit bebenden Lippen:

»Mr. Redlaw, Sie haben mich durchschaut, Sie kennen mein Geheimnis.«

»Ihr Geheimnis?« fragte der Chemiker kalt. »Ich soll es kennen?«

»Ja. Ihr Wesen, das jetzt so verschieden ist von der Teilnahme und dem Mitleid, die Sie so vielen Herzen teuer machen, Ihre veränderte Stimme, das Gezwungene in Ihren Worten und Blicken sagen mir, dass Sie mich kennen«, erwiderte der Student. »Dass Sie es selbst jetzt noch verbergen möchten, ist für mich nur ein Beweis mehr für Ihre angeborene Herzensgüte und die Kluft, die uns trennt.«

Ein leeres und verächtliches Lächeln war die einzige Antwort, die er erhielt.

»Aber Mr. Redlaw«, sagte der Student, »bedenken Sie als gerecht fühlender und edler Mensch, wie wenig Schuld ich habe an dem Unrecht, das Ihnen zugefügt worden ist, – an dem Kummer, den Sie ertragen haben. Es müsste denn mein Name und meine Abkunft –«

»Kummer?« unterbrach ihn Redlaw auflachend. »Unrecht? Was geht das mich an?«

»Um Himmels willen«, flehte der Student, »lassen Sie sich von den paar Worten, die Sie mit mir wechselten, nicht noch mehr verändern, Sir. Streichen Sie mich wieder aus Ihrem Gedächtnis. – Lassen Sie mich meinen alten entfernten Platz unter denen, die Sie unterrichten, wieder einnehmen. Kennen Sie mich wieder nur unter dem Namen, den ich annahm, und nicht als – – – Langford –«

»Langford!« rief der andere aus. Er fuhr mit beiden Händen nach der Stirn und wandte dem Jüngling einen Augenblick lang sein früheres geistvolles und nachdenkliches Gesicht zu. Aber das Licht verschwand wieder wie ein flüchtiger Sonnenstrahl, und das Gesicht umwölkte sich wie vordem.

»Der Name, den meine Mutter führt, Sir«, sagte der Jüngling verlegen, »der Name, den sie wählte, als sie vielleicht einen geehrteren hätte bekommen können, Mr. Redlaw«, fuhr er zögernd fort. »Ich glaube, ich kenne diese Geschichte. Wo mein Wissen nicht ausreicht, ergänzen Vermutungen die Lücke, bis das Ganze der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Ich bin das Kind einer Ehe, die sich als nicht glücklich erwies. Von Kindheit an hörte ich von Ihnen mit hoher Achtung, fast mit Ehrfurcht sprechen, von solcher Hingebung, Standhaftigkeit und Herzensgüte; von solchem Ankämpfen gegen Hindernisse, die einen Menschen niederschmettern können, habe ich vernommen, dass meine Phantasie, seit ich meinen ersten Unterricht an der Hand meiner Mutter genossen, Ihren Namen mit Lichtglanz umwoben hat. Und endlich, konnte ich – ein armer Student – von einem andern besser lernen als von Ihnen?«

Unbewegt und unverändert und ihn nur mit einem inhaltsleeren Blick anstarrend, antwortete Redlaw weder mit Worten noch durch Gebärden.

»Ich kann nicht in Worte fassen«, fuhr der andere fort, »wie sehr ich gerührt war, die schönen Spuren der Vergangenheit in der Dankbarkeit und dem Vertrauen wieder aufleuchten zu sehen, die sich bei uns Studenten an Mr. Redlaws Namen knüpfen. Wir sind an Alter und Stellung so verschieden voneinander, Sir, und ich bin so gewohnt, Sie nur aus der Ferne zu sehen, dass ich mich über meine eigene Kühnheit wundere, wenn ich dieses Thema auch nur leise berühre. Aber einem Mann, der, ich darf es wohl aussprechen, einst für meine Mutter eine nicht gewöhnliche Teilnahme fühlte, ist es vielleicht nicht ganz gleichgültig, jetzt, wo alles vorüber ist, zu erfahren, mit wie unbeschreiblicher Liebe ich Sie aus der Ferne betrachtet habe, mit welchem Schmerze ich mich von Ihnen ferne hielt – während ein Wort von Ihnen mich reich gemacht hätte – und wie sehr ich dennoch fühle, dass ich recht tat, auf dieser Bahn zu bleiben, zufrieden damit, Sie zu kennen und selbst unbekannt zu sein. Mr. Redlaw«, sagte der Student schüchtern, »was ich sagen wollte, habe ich nicht glücklich ausgedrückt. Aber wenn etwas Unwürdiges in der Täuschung liegt, die ich mir habe zuschulden kommen lassen, so verzeihen Sie mir, und in allem übrigen – – bitte vergessen Sie mich.«

Das starre Stirnrunzeln blieb auf Redlaws Gesicht und wich keinem andern Ausdruck, bis der Student bei den letzten Worten auf ihn zuschritt, als wolle er seine Hand berühren. Da zog er sich zurück und schrie ihn an:

»Kommen Sie mir nicht näher!« Der junge Mann blieb stehen, entsetzt über die Plötzlichkeit und Schroffheit dieser Zurückweisung, und strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn.

»Was vorbei ist, ist vorbei«, sagte der Chemiker. »Die Vergangenheit stirbt wie das unvernünftige Tier. Wer redet mir von ihren Spuren in meinem Leben. Der faselt oder lügt. Was gehen mich Ihre kranken Träume an. Wenn Sie Geld brauchen, hier ist welches. Ich kam her, um es Ihnen anzubieten, und das war der eigentliche Zweck meines Kommens. Weiter kann ich hier nichts gewollt haben«, murmelte er vor sich hin und legte die Hände wieder an die Stirn. »Weiter kann ich hier nichts gewollt haben, oder –?«

Er hatte seine Börse auf den Tisch geworfen und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Student hob sie auf und hielt sie ihm hin.

»Nehmen Sie sie wieder zurück, Sir«, sagte er stolz, doch nicht erzürnt; »ich wünschte, Sie könnten mit ihr zugleich die Erinnerung an Ihre Worte und an Ihr Anerbieten zurücknehmen.«

»Wünschen Sie das?« fragte jener mit einem sonderbaren Flackern in seinen Augen. »Wünschen Sie das?«

»Ja, ich wünsche es.«

Der Chemiker trat jetzt zum ersten Mal dicht an ihn heran, nahm die Börse, ergriff den Arm des Studenten und sah ihm ins Gesicht. »Krankheit bringt Schmerz und Sorge, nicht wahr?« sagte er mit einem Lachen.

»Ja«, gab Langford verwundert zur Antwort.

»Ihre Ruhelosigkeit, Ihre Angst, Ihre Ungewissheit und das ganze Gefolge von Leiden an Körper und Geist«, sagte der Chemiker mit einem wilden sonderbaren Frohlocken, »ist es nicht am besten, man vergisst es?«

Der Student antwortete nicht, sondern fuhr sich wieder mit der Hand zerstreut über die Stirn. Redlaw hielt ihn immer noch am Arm gefasst, als man draußen Millys Stimme vernahm.

»Ich kann jetzt schon sehen, ich danke, Dolph! – – Weine nicht, Kind. Vater und Mutter werden morgen schon wieder gut sein, und dann ist es auch wieder hübsch zu Haus. So, so, ein Herr ist bei ihm?«

Redlaw ließ den Studenten los und horchte.

»Ich habe vom ersten Augenblick an gefürchtet«, murmelte er vor sich hin, »ihr zu begegnen. Es liegt eine Art unendlicher Güte in ihr, die ich zu verderben fürchte. Ich könnte zum Mörder an dem werden, was das Schönste und Beste in ihrem Herzen ist.«

Sie klopfte an die Türe.

»Soll ich es wie eine nichtige Ahnung missachten oder sie dennoch meiden«, murmelte er und sah unschlüssig umher.

Wieder klopfte sie an die Tür.

»Von all denen, die hierher kommen«, sagte er heiser und erregt zu dem Studenten, »möchte ich diese Frau am wenigsten hier sehen. Verbergen Sie mich!«

Der Student öffnete eine Brettertür in der Wand, die in ein kleines Dachstübchen führte. Redlaw trat rasch hinein und schloss hinter sich ab. Der Student nahm seinen Platz auf dem Sofa wieder ein und rief: »Herein!«

»Lieber Mister Edmund«, sagte Milly und sah sich um. »Man sagte mir, es wäre ein Herr hier.«

»Es ist niemand hier als ich.«

»Es ist aber jemand hier gewesen?«

»Ja, es war jemand hier.«

Sie stellte ihr Körbchen auf den Tisch und trat an die Rückseite des Sofas, als wollte sie wie gewöhnlich die ausgestreckte Hand ergreifen; aber diese war nicht da. Ein wenig überrascht beugte sie sich über den Patienten und berührte leise seine Stirn.

»Sind Sie ganz wohl heute Abend? Ihre Stirn ist heißer als nachmittags.«

»Ach was«, sagte der Student ärgerlich, »mir fehlt nichts.«

Mehr Erstaunen als Vorwurf malte sich auf Millys Gesicht, als sie nach der andern Seite des Tisches ging und aus ihrem Korbe ein kleines Päckchen Handarbeit herausholte. Aber bald legte sie es wieder hin, ging geräuschlos im Zimmer umher, setzte jeden Gegenstand an seine Stelle und machte Ordnung. Die Kissen des Sofas berührte sie mit so leichter Hand, dass er es kaum zu merken schien, während er dalag und ins Feuer sah. Als sie damit fertig war und den Herd rein gekehrt hatte, setzte sie sich wieder hin in ihrem bescheidenen Hütchen und arbeitete in geräuschloser Geschäftigkeit. »Es ist der neue Musselinvorhang für das Fenster, Mister Edmund«, sagte sie, ohne vom Nähen aufzusehen. »Er wird ganz hübsch aussehen, wenn er auch so gut wie nichts kostet, und wird auch Ihre Augen vor dem Licht schützen. William sagt, das Zimmer dürfe jetzt, wo Sie sich so gut erholt, nicht so hell sein, sonst könnte das blendende Licht Sie schwindlig machen.«

Er sagte nichts, aber in der Art, wie er seine Stellung änderte, lag etwas so Ärgerliches und Ungeduldiges, dass ihre flinken Finger innehielten und sie ihn besorgt ansah.

»Die Kissen sind nicht bequem«, sagte sie, die Arbeit hinlegend und sich erhebend, »ich will sie gleich einmal zurechtschütteln.«

»Die Kissen sind sehr gut«, antwortete er. »Lassen Sie, bitte, die Hand davon. Sie machen gleich von allem so viel Wesens.« Er erhob den Kopf, als er das sagte, und warf ihr einen so undankbaren Blick zu, dass sie schüchtern vor ihm stehenblieb, als er sich wieder zurückgeworfen hatte. Dann nahm sie abermals Platz und nähte geschäftig weiter ohne einen Blick des Vorwurfs.

»Ich habe mir oft gedacht, Mr. Edmund, Sie hätten doch oftmals in letzter Zeit, wenn ich neben Ihnen saß, einsehen müssen, dass Unglück ein guter Lehrmeister ist. Die Gesundheit wird Ihnen nach dieser Krankheit kostbarer sein als je zuvor. Und nach Jahren noch, wenn Weihnachten herankommt und Sie sich der Tage, wo Sie hier krank gelegen haben, erinnern – ganz heimlich und innerlich, damit Sie Ihre Lieben nicht betrüben –, dann wird Ihnen der heimische Herd doppelt teuer sein. Ist das nicht ein hübscher Gedanke?«

Sie war zu eifrig bei der Arbeit, die Worte kamen ihr zu innig aus dem Herzen, und sie war überhaupt zu ruhig und stillvergnügt, um achtzugeben, ob er ihr wohl antworten werde. So prallte der Pfeil seines undankbaren Blickes an ihr ab und verletzte sie nicht.

»Ach ja«, sagte Milly und neigte ihr liebliches Gesicht nachdenklich auf die Seite, während sie mit gesenkten Augen den flinken Fingern folgte. »Selbst auf mich – wo ich doch so sehr verschieden von Ihnen bin, Mr. Edmund, und keine Schulbildung habe und nicht weiß, wie man richtig denkt – hat das Erlebnis dieser Vorgänge einen tiefen Eindruck gemacht, seit Sie hier krank gelegen haben. Als ich Sie über die Güte und Aufmerksamkeit der armen Leute unten so gerührt sah, da merkte ich, wie auch Sie fühlten, dass es ein gewisses Entgelt sei für den Verlust der Gesundheit, und ich las in Ihrem Gesichte so deutlich wie in einem Buch, dass wir erst durch ein wenig Kummer und Sorge all das Gute erkennen lernen können, das uns umgibt.«

Sein Aufstehen unterbrach sie, sonst hätte sie noch weitergesprochen.

 

»Wir brauchen nicht so viel Aufhebens davon zu machen, Mrs. William«, versetzte er geringschätzig, »die Leute da unten werden schon bezahlt werden für die kleinen Extradienste, die sie mir geleistet haben mögen, und erwarten es wohl auch nicht anders. Auch Ihnen bin ich sehr verbunden.«

Sie hörte auf zu nähen und sah ihn an.

»Ich empfinde meine Schuld gegen Sie viel weniger, wenn Sie die Sache übertreiben. Ich bin mir ja bewusst, dass Sie sich sehr um mich bekümmert haben, und ich sage Ihnen, dass ich Ihnen sehr dafür verbunden bin. Was wollen Sie mehr?«

Die Arbeit fiel ihr in den Schoß, und sie sah ihn unverwandt an, wie er ungeduldig hin und her schritt und dann und wann stehenblieb. »Ich sage nochmals, ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Warum wollen Sie das Bewusstsein des Dankes, den ich Ihnen schulde, in mir abschwächen, indem Sie maßlose Ansprüche auf mich erheben? Sorge, Kummer, Leid, Unglück! Man könnte ja rein glauben, ich hätte einen hundertfachen Todeskampf durchgemacht.«

»Glauben Sie vielleicht, Mr. Edmund«, fragte sie, stand auf und trat näher an ihn heran, »dass ich von den armen Leuten hier im Hause sprach, um auf mich selbst anzuspielen? – Auf mich?« Und sie legte die Hand auf ihren Busen mit einem schlichten unschuldsvollen Lächeln des Erstaunens.

»Ach, ich habe darüber gar nicht nachgedacht, gute Frau!« entgegnete er. »Ich habe ein vorübergehendes Unwohlsein gehabt, aus dem Ihre übertriebene Angst, verstehen Sie wohl – übertriebene Angst –, mehr Wesens gemacht hat, als daran war. Jetzt ist es vorbei. Wir können doch nicht ewig darauf herumreiten.«

Gleichgültig nahm er ein Buch zur Hand und setzte sich an den Tisch. Sie sah ihm eine Weile zu, bis ihr Lächeln ganz verschwunden war, dann kehrte sie zu ihrem Korb zurück und fragte sanft:

»Mr. Edmund, möchten Sie lieber allein sein?«

»Ich sehe keinen Grund, weshalb ich Sie hier zurückhalten sollte«, erwiderte er.

»Außer –«, sagte Milly zaudernd, und zeigte auf ihre Handarbeit.

»Ach, der Vorhang«, antwortete er hochmütig lächelnd, »deswegen brauchen Sie nicht zu bleiben.«

Sie packte ihre Arbeit wieder zusammen und legte sie in das Körbchen, dann trat sie vor ihn hin und sagte mit so geduldiger Miene, dass er nicht umhinkonnte, aufzublicken:

»Sollten Sie mich wieder brauchen, so komme ich gern zurück. Als Sie meiner bedurften, war ich wirklich glücklich, kommen zu können, von einem Verdienst kann dabei keine Rede sein. Ich glaube, Sie fürchten jetzt, wo Sie sich erholt haben, ich könnte Ihnen zur Last fallen. Aber das wäre nicht geschehen. Ich wäre nicht länger gekommen, als bei Ihrer Schwäche nötig gewesen. Sie schulden mir keinen Dank. Recht und billig aber wäre es, dass Sie mich behandeln wie eine Dame. – Ja, als wäre ich sogar die Dame, die Sie lieben! Und wenn Sie glauben, ich überschätze in eigennütziger Selbstüberhebung die geringe Mühe, die ich mir gegeben habe, Ihr Krankenzimmer behaglich zu gestalten, so tun Sie sich selbst mehr Unrecht an, als Sie mir antun können. Deswegen bin ich betrübt. Darüber bin ich sehr betrübt.«

Wäre sie leidenschaftlich gewesen statt gelassen, entrüstet statt ruhig, so böse in ihrem Blick, wie sie sanft war, laut im Ton statt leise und klar, so hätte ihr Abschied vielleicht gar keinen Eindruck hinterlassen im Vergleich zu dem, der sich jetzt des einsamen Studenten bemächtigte, als sie fort war.

Er starrte traurig den Platz an, wo sie gestanden, da trat Redlaw aus seinem Versteck hervor und ging zur Türe.

»Wenn Krankheit wieder die Hand auf Sie legen soll«, sagte er und sah ihn erbittert an, »möge es bald geschehen. Mögen Sie hier sterben und verfaulen.«

»Was haben Sie getan«, entgegnete der andere und fasste ihn am Mantel, »welche Verwandlung haben Sie in mir bewirkt. Welchen Fluch haben Sie über mich verhängt! Geben Sie mich mir selbst zurück!«

»Geben Sie mich mir zurück!« schrie Redlaw wie ein Wahnsinniger. »Ich bin wie eine Seuche, ich bin voll Gift in meinem eigenen Innern und voll Gift für die ganze Menschheit. Wo ich früher Teilnahme, Mitleid und Sympathie gehegt habe, da wandle ich mich zu Stein. Selbstsucht und Undankbarkeit keimen auf, wo ich meinen Fuß hinsetze. Nur insofern bin ich vielleicht weniger tiefstehend als die Elenden, die ich schaffe, als ich sie in dem Augenblick hassen kann, wo die Umwandlung in ihnen vorgeht.«

Der junge Mann hielt ihn immer noch am Mantel. Der Chemiker schüttelte ihn von sich ab und schlug nach ihm; dann eilte er wie von Sinnen in die Nachtluft hinaus, wo der Wind heulte, der Schnee herabfiel und durch die einherjagenden Wolkenmassen düster der Mond schien, und wo in dem Heulen des Windes, in dem fallenden Schnee, in den wandernden Wolken und dem trüben Schimmer des Mondes die Worte des Gespenstes sich offenbarten:

»Die Gabe, die ich dir verliehen, sollst du um dich her verbreiten, wo du gehst und stehst.«

Wohin er seine Schritte lenkte, wusste er nicht und kümmerte sich nicht darum, wenn er nur die Menschen vermied. Die Verwandlung, die er in sich verspürte, machte aus den lauten Straßen eine Wüste und ihn selbst zu einer Wüste und die Menge um ihn her mit ihren verschlungenen Lebenspfaden zu einer ungeheuren Wüstenei aus Sand, den der Wind zu zwecklosen Haufen zusammenwarf. Die letzten Spuren in seiner Brust, die, wie der Geist ihm gesagt hatte, bald aussterben würden, waren bis jetzt noch nicht so weit verblichen, dass er nicht zur Genüge begriffen, was er war und aus andern machte, und dass er nicht den Wunsch gefühlt hätte, allein zu bleiben.

Da fiel ihm plötzlich der Junge ein, der in sein Zimmer gestürzt war, und dann ging ihm im Kopf herum, dass von allen, mit denen er seit des Geistes Verschwinden verkehrt, der Knabe der einzige gewesen war, an dem kein Zeichen der Verwandlung aufgetreten. So widerlich ihm das wilde Geschöpf auch war, so beschloss er doch, zu ihm zu gehen und nachzusehen, ob es sich wirklich so verhalte. Er verband damit noch eine andere Absicht, die ihm gleichzeitig einfiel.

Nur mit Mühe stellte er fest, wo er sich befand, und lenkte seine Schritte nach dem alten Stift zurück, und zwar nach jenem Teil, wo die Hauptpforte lag und wo allein das Pflaster von den Tritten der Studenten abgenutzt war. Das Haus des Kastellans stand dicht hinter dem eisernen Tor und bildete einen Teil des Hauptviereckes. Vor der Pforte lief ein alter Bogengang hin, und aus seinem Schatten konnte er zu den Fenstern des Wohnzimmers hineinblicken und sehen, wer darin war. Das Gittertor war geschlossen, aber mit dem Riegel vertraut, steckte er die Hand zwischen die Stäbe, zog ihn zurück und trat leise ein. Dann schloss er das Tor wieder und schlich sich ans Fenster, die dünne Kruste Eis unter seinen Füßen zertretend. Das Kaminfeuer leuchtete hell durch das Fenster und warf einen glänzenden Schein auf den Schnee. Instinktiv wich er der hellen Stelle aus, ging um sie herum und sah hinein. Anfangs glaubte er, die Stube sei leer und die Glut röte nur mit ihrem Schimmer die alten Balken an der Decke und die dunkelbraunen Wände. Als er aber genauer hinblickte, sah er den Knaben auf dem Fußboden kauern. Rasch trat er zur Tür, öffnete sie und ging hinein.

Das Geschöpf lag so nahe bei der Glut, dass, als der Chemiker sich bückte, es aufzurütteln, die Glut ihm fast das Gesicht versengte. Kaum fühlte der Junge die Berührung, als er, kaum halb wach, seine Lumpen zusammenraffte und halb kollernd, halb laufend in eine entlegene Ecke des Zimmers floh, wo er auf dem Boden hocken blieb und mit den Füßen stieß, um sich zu verteidigen.

»Steh auf«, sagte der Chemiker. »Kennst du mich noch?«

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