Dombey und Sohn

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Sechstes Kapitel. PAULS ZWEITE VERWAISUNG.

Am Morgen kamen Polly so allerlei Bedenken, daß sie ohne das unaufhörliche Drängen ihrer schwarzäugigen Gefährtin alle Gedanken an den Ausflug aufgegeben und förmlich um die Erlaubnis gebeten haben würde, Nummer 147 unter dem unheimlichen Schatten von Mr. Dombeys Dach zu sehen. Aber Susanna, die persönlich auf den Spaziergang erpicht war, konnte es durchaus nicht ertragen, wenn ihre eigenen Erwartungen getäuscht würden, wie standhaft sie sich auch bei den fehlgeschlagenen Hoffnungen anderer zu benehmen wußte. Sie brachte gegen diesen späteren Gedanken so viele scharfsinnige Zweifel, dann wieder so viele sinnreiche Gründe für die ursprüngliche Absicht zum Vorschein, daß Mr. Dombey seinem Hause kaum den stattlichen Rücken gedreht hatte, um seinen täglichen Gang nach der City zu machen, als sich sein nichtsahnender Sohn schon auf dem Wege nach Staggs Gärten befand.

Die vielverheißende Lokalität lag in einer Vorstadt, die bei den Bewohnern von Staggs Gärten unter dem Namen Camberling Town bekannt war – eine Bezeichnung, die die Fremdenkarte von London, die zwecks angenehmer und bequemer Benutzung auf Taschentücher gedruckt ist, mit einigem Schein von Grund in Cambden Town zusammengezogen hat. Dahin nun lenkten die zwei Wärterinnen, von ihren Pfleglingen begleitet, ihre Schritte. Richards trug natürlich den kleinen Paul, und Susanna, die Florence an der Hand führte, versetzte ihrer Mündel von Zeit zu Zeit so viele Rucke und Stöße, als ihr zweckdienlich schienen.

Der erste Stoß eines großen Erdbebens hatte eben damals diese ganze Gegend bis in ihren Mittelpunkt auseinander gerissen. Spuren seines Verlaufs waren noch zu jeder Seite sichtbar. Man bemerkte eingestürzte Häuser, zerrissene Straßen, tiefe Furchen und Gruben in dem Boden, Aufwürfe von Erde und Lehm, unterminierte Häuser, die wankend dastanden und durch schweres Holzgebälk abgestützt wurden. Hier lag ein Chaos von übereinander gestürzten Karren unten an einem steilen unnatürlichen Hügel, dort sah man Schätze von Eisen eingeweicht und rostend an einer Stelle, die zufälligerweise ein Teich geworden war. Überall befanden sich Brücken, die nirgends hinführten, völlig unpassierbare Straßen, babylonische Türme von Schornsteinen, die die Hälfte ihrer Höhe verloren hatten, zackige Holzhütten und Verzäunungen in den unwahrscheinlichsten Lagen, Gerippe von zerrissenen Baracken, Bruchstücke unvollendeter Mauern und Bogen, Schichten von Gerüsten, eine wahre Wildnis von Backsteinen, riesige Formen von Kranen und Dreifüßen, die über nichts ihre Beine breiteten. Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinander gemengt, das Unterste zu oberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes. Heiße Quellen und feurige Eruptionen, die gewöhnlichen Begleiter von Erdbeben, trugen dazu bei, die Verwirrung der Szene zu erhöhen. Kochendes Wasser zischte und prudelte in verfallenen Mauern, aus denen auch der Glanz und das Getöse von Flammen hervorging. Aschenhaufen benahmen den Straßen ihre Rechte und veränderten ganz und gar den gewohnten regelmäßigen Gang in der Umgegend. Mit einem Worte, die noch uneröffnete und unvollendete Eisenbahn nahm ihren Fortgang, aus dem Herzen aller dieser wilden Unordnung glatt sich weiterstreckend im mächtigen Lauf der Zivilisation und des Fortschritts.

Aber bis jetzt war die Umgegend noch schüchtern und wagte es nicht, die Eisenbahn sich zuzueignen. Ein paar kecke Spekulanten hatten Straßen projektiert, einer davon sogar ein wenig gebaut, unter dem Schmutz und der Asche aber innegehalten, um sich noch eines weiteren zu besinnen. Eine Schenke, die noch nach Mörtel roch und ohne Bewurf war, hatte sich das Eisenbahn-Wappen zum Schild gewählt; die Unternehmung war vielleicht voreilig – indes stand doch zu hoffen, daß die Bahnarbeiter trinken wollten. So war eine Bierkneipe zum Zuspruchshaus für Grabarbeiter und die alte Garküche zum Eisenbahn-Speisehaus geworden, wo man täglich gebratene Schweinshaxen haben konnte; auch gab es noch weitere Umwandlungen aus eigennützigen Motiven einer ähnlich plötzlichen und populären Art. Die Vermieter von Zimmern und Schlafstätten zeigten sich ebenso wohlwollend, fanden aber aus den gleichen Gründen kein sonderliches Vertrauen, da man im allgemeinen noch nicht recht an das Ganze glaubte. Da sah man muffige Felder, Kuhställe, Dünger- und Kehrichthaufen, Gräben, Gärten und Plätze zum Teppichausklopfen sozusagen an der Tür der Eisenbahn. Zur Austernzeit Hügel von Austernschalen, oder zur Hummerzeit Berge von Hummernscheren, stets aber zerbrochenes Töpfergeschirr und welke Kohlblätter türmten sich an den hohen Plätzen auf. Pfosten, Geländer, alte Warnungstafeln für unberufene Personen, Hinterseiten von schlechten Häusern und Striche verkümmerter Vegetation stierten grimmig nach der Bahn hin; nichts war durch sie gebessert worden oder wollte um ihrerwillen besser sein. Wenn der jämmerliche Grund in der Nähe hätte lachen können, so würde er, wie so viele von den armseligen Nachbarn, seine Verachtung in dieser Weise ausgedrückt haben.

Staggs Gärten waren über die Maßen merkwürdig. Sie bestanden aus einer kleinen Reihe von Häusern mit kleinen, schmutzigen Plätzen davor, die mit alten Türen, Faßdauben, Fetzen von Teerleinwand oder abgestorbenen Hecken verzäunt waren, während die Lücken durch bodenlose Blechkessel und ausgediente eiserne Kaminschirme ausgefüllt wurden. Da zogen die Staggs-Gärtner Feuerbohnen, hielten Vögel und Kaninchen, bauten morsche Gartenhäuschen (eines aus einem alten Boot), trockneten Wäsche und rauchten Pfeifen. Einige waren der Ansicht, die Staggs-Gärten führten den Namen von einem verstorbenen Kapitalisten, einem gewissen Mr. Staggs, der sie zu seinem Vergnügen angelegt hätte. Andere von mehr ländlichem Geschmack meinten, die Bezeichnung rühre aus jenen Zeiten her, als die mit Geweihen versehene Herde, unter dem Namen Stags (Hirsche) bekannt, diese schattigen Räume besucht habe. Sei dem nun wie ihm wolle, die dortige Bevölkerung betrachtete Staggs Gärten als einen geheiligten Hain, der nicht durch Eisenbahnen verderbt werden sollte, und lebte der völligen Überzeugung, sie würden alle derartige lächerliche Erfindungen lang überleben. Ja, der Hauptkaminfeger an der Ecke, der zugestandenermaßen der erste unter den Lokal-Politikern in den Gärten war, hatte öffentlich erklärt, am Tage der Eröffnung der Eisenbahn, wenn diese je stattfinde, müßten zwei von seinen Burschen auf die Schornsteine seines Hauses steigen und von dort aus das Fehlschlagen der Unternehmung mit Spott und Hohn begrüßen.

Nach diesem ungeheiligten Platz also, dessen Namen sogar Mrs. Chicks ihrem Bruder sorgfältig verschwiegen hatte, wurde jetzt der kleine Paul vom Fatum und von Richards getragen.

»Dort ist mein Haus, Susanna«, sagte Polly, und zeigte mit dem Finger darauf.

»Das ist es wirklich, Mrs. Richards?« versetzte Susanna herablassend.

»Und wahrhaftig, ich sehe meine Schwester Jemima an der Tür,« rief Polly, »mit meinem süßen köstlichen Bübchen auf den Armen!«

Dieser Anblick beflügelte Pollys Ungeduld, so daß sie ihre Schritte zu einem eigentlichen Rennen beschleunigte. Sie stürzte auf Jemima zu und hatte im Nu die beiden Kleinen ausgewechselt – zum unaussprechlichen Erstaunen der jungen Dame, auf welche der Erbe der Dombeys wie aus den Wolken herabgefallen zu sein schien.

»Ei, Polly!« rief Jemima. »Du! Was hast du da für eine Verwechslung vorgenommen? Wer hätte das je gedacht! Komm mit herein, Polly. Und wie gut du aussiehst! Die Kinder werden ganz außer sich geraten, wenn sie dich sehen, Polly.«

Und so war es auch, wenn anders man einen Schluß ziehen durfte aus dem Geschrei, das sie jetzt anfingen, und aus der Art, wie sie auf Polly zustürzten, um sie nach einem Schemel in der Kaminecke zu zerren, wo ihr Apfelgesicht plötzlich der Mittelpunkt eines Häufleins von Borsdorferäpfeln wurde, die ihre rosigen Wangen dicht daran schmiegten – alle augenscheinlich Erzeugnisse desselben Baumes. Was Polly betraf, so war sie ebenso laut und ungestüm, wie die Kinder, und in dieser Verwirrung trat erst eine Pause ein, als sie kaum noch zu Atem kommen konnte, ihr Haar zerzaust um das glühende Gesicht hing und ihr neues Taufkleid schon recht sehr zerknittert war. Aber auch dann noch blieb der zweitjüngste Toodle auf ihrem Schoß, ihren Hals mit seinen Armen fest umfassend, während der nächst ältere Toodle auf die Stuhllehne stieg und, das eine Bein in die Luft streckend, verzweifelte Anstrengungen machte, seine Mutter um die Ecke herum zu küssen.

»Seht, da ist eine hübsche kleine Dame zu euch auf Besuch gekommen«, sagte Polly. »Und wie ruhig sie ist! Ist es nicht ein hübsches Mädchen?«

Diese Hindeutung auf Florence, die von der Tür aus der Szene zugesehen hatte, wandte die Aufmerksamkeit der jüngeren Toodles ihr zu und übte in gleicher Weise die glückliche Wirkung, eine förmliche Begrüßung der Miß Nipper herbeizuführen, die es schon wurmte, daß sie so vernachlässigt wurde.

»O kommt doch herein und nehmt ein Weilchen Platz, Susanna, ich bitte«, sagte Polly. »Das hier ist meine Schwester Jemima. Jemima, ich wüßte nicht, was ich je mit mir selbst anfangen sollte, wenn Susanna Nipper nicht wäre; ohne sie würde ich jetzt nicht hier sein.«

»O, so nehmt doch Platz, Miß Nipper, wenn ich bitten darf«, ergriff jetzt Jemima das Wort.

Susanna setzte sich mit stattlicher und zeremoniöser Miene auf das äußerste Ende eines Stuhls.

»In meinem Leben bin ich nie so erfreut gewesen, jemand zu sehen; ja wahrhaftig nicht. Miß Nipper«, sagte Jemima.

Susanna erweichte sich ein wenig, rückte auf ihrem Stuhl etwas weiter herauf und lächelte in Gnaden.

 

»Nehmt doch Euern Hut ab und tut, als ob Ihr zu Hause wäret. Miß Nipper«, bat Jemima. »Leider ist es nur ein armes Haus, und Ihr seid an dergleichen nicht gewöhnt; aber ich bin überzeugt, daß Ihr Nachsicht haben werdet.«

Durch dieses unterwürfige Benehmen wurde die Schwarzäugige so erweicht, daß sie die kleine Miß Toodle, welche an ihr vorbeiging, beim Händchen faßte und sie unverweilt nach Banbury-Croß führte.

»Aber wo ist mein netter Junge?« fragte Polly. »Mein armer Knabe? Ich bin hierher gekommen, um zu sehen, wie er sich in seinen neuen Kleidern ausnimmt.«

»Ach, wie schade!« rief Jemima. »Es wird ihm das Herz brechen, wenn er hört, daß seine Mutter hier war. Er ist in der Schule, Polly.«

»Schon angefangen?«

»Ja. Gestern ging er zum ersten Male hin, weil er fürchtete, von dem Lernen etwas zu verlieren. Aber es ist ein halber Vakanztag, Polly; wenn du nur hier bleiben könntest, bis er nach Hause kommt – du und Miß Nipper«, fügte Jemima bei, sich noch rechtzeitig der Würde der Schwarzäugigen erinnernd.

»Und wie sieht er aus, Jemima? Gott segne ihn!« stotterte Polly.

»Nun, er sieht wahrhaftig nicht so schlimm aus, als du wohl glauben magst«, erwiderte Jemima.

»Ah!« sagte Polly bewegt, »ich weiß, seine Beine müssen zu kurz sein.«

»Seine Beine sind freilich kurz«, erwiderte Jemima, »namentlich hinten; aber sie werden mit jedem Tag länger, Polly.«

Das war eine Art Trost von langsamer Aussicht, aber die Heiterkeit und Laune, mit welcher er angebracht ward, verlieh ihm einen Wert, den er dem Wesen nach nicht besaß. Nach einem kurzen Schweigen fragte Polly etwas aufgeräumter:

»Und wo ist der Vater, liebe Jemima?« – denn unter dieser patriarchalischen Bezeichnung wurde in der Familie Mr. Toodle verstanden.

»Da haben wir es wieder!« sagte Jemima. »Wie schade! Der Vater hat heute morgen sein Mittagessen mitgenommen und kommt vor Nacht nicht nach Hause. Aber er spricht immer von dir, Polly, und erzählt den Kindern von dir. Er ist die friedliebendste, geduldigste und frohherzigste Seele auf der Welt, wie er es stets war und sein wird!«

»Ich danke dir, Jemima«, rief die einfache Polly, erfreut über diese Mitteilung, wie sehr ihr auch seine Abwesenheit leid tat.

»O, du brauchst mir nicht zu danken, Polly«, versetzte ihre Schwester, indem sie ihr einen schallenden Kuß auf die Wangen drückte und dann wohlgemut mit dem kleinen Paul umhertanzte. »Ich sage bisweilen das nämliche auch von dir, und es kommt mir von Herzen.«

Trotz der zweifachen getäuschten Erwartung war es unmöglich, einen Besuch, der solche Aufnahme gefunden hatte, im Lichte eines Fehlgangs zu betrachten. Die Schwestern sprachen daher voll Hoffnung über Familienangelegenheiten, über Sieder und über alle seine Brüder und Schwestern, während die Schwarzäugige, nachdem sie mehrere Gänge nach Banbury-Croß und zurück gemacht hatte, das Möbelwerk, die Schwarzwälderuhr, den Wandschrank, das Schloß auf dem Kaminsims mit seinen roten und grünen Fenstern, die das Licht einer innen angezündeten Kerze durchstrahlen lassen konnten, und die paar kleinen schwarzen Samtkätzchen musterte, von denen jedes einen Damenbeutel im Munde hatte. Die letzteren Stücke galten unter den Staggs Gärtnern als wahre Wunderwerke der nachahmenden Kunst. Da die Unterhaltung bald allgemein wurde, damit der Schwarzäugigen auch ihr Anteil zukommen möchte, so erzählte diese junge Dame in sarkastischer Weise Jemima alles, was sie von Mr. Dombey, seinen Aussichten, seiner Familie, seinem Treiben und Charakter wußte. Dann ging sie auf ein genaues Inventar ihrer eigenen Garderobe und auf eine Aufzählung ihrer hauptsächlichsten Verwandten und Freundinnen über. Nachdem sie in dieser Weise ihr Herz erleichtert hatte, nahm sie teil an den Garnelen und dem Porter, und befand sich in der Stimmung, ewige Freundschaft zu schwören.

Die kleine Florence versäumte gleichfalls nicht, diese Gelegenheit zu benützen; denn nachdem sie unter der Führung der beiden jungen Toodles einige Hexenschirme und andere Merkwürdigkeiten der Gärten inspiziert hatte, ließ sie sich mit ihnen wohlgemut auf die Herstellung eines zeitweiligen Damms durch eine kleine grüne Lache ein, die sich in einer Ecke gesammelt hatte. Sie war noch eifrig in diesem Geschäft begriffen, als sie von Susanna gesucht und aufgefunden wurde. Letztere hatte selbst unter dem humanisierenden Einfluß der Garnelen ihre Pflicht nicht vergessen und ergoß sich jetzt unter vielen Daumenstößen in eine moralische Rede über ihre entartete Natur, indem sie ihr zugleich Gesicht und Hände wusch und die Prophezeiung beifügte, sie werde die grauen Haare ihrer ganzen Familie mit Leidwesen ins Grab bringen. Nach einiger Verzögerung, die ihren Grund in einem vertraulichen Gespräch zwischen Polly und Jemima über Geldangelegenheiten hatte (natürlich wurde das eine Treppe weiter oben abgemacht), fand wieder ein Austausch der Säuglinge statt, da Polly die ganze Zeit über ihr eigenes Kind für sich behalten und den kleinen Paul Jemima überlassen hatte. Dann verabschiedeten sich die Gäste.

Die jungen Toodles waren zuvor als Opfer einer frommen List insgesamt nach dem Laden eines benachbarten Spezereihändlers geschickt worden, unter dem ostensibeln Vorwand, sich für einen Penny etwas zu kaufen. Sobald die Küste frei war, flüchtete sich Polly. Jemima rief ihr noch nach, daß sie, wenn sie auf dem Rückwege die Citystraße einschlagen würden, sicher den von der Schule zurückkommenden Sieder treffen würden.

»Glaubt Ihr, wir haben noch Zeit, den kleinen Umweg in dieser Richtung zu machen, Susanna?« fragte Polly, als sie haltmachten, um Atem zu schöpfen.

»Warum nicht, Mrs. Richards?« entgegnete Susanna.

»Ihr wißt, es ist bald Mittagessenszeit«, sagte Polly.

Aber das bereits eingenommene Lunch machte ihre Begleiterin mehr als gleichgültig gegen diese gewichtige Rücksicht; sie nahm die Sache auf die leichte Achsel, und so wurde denn der Beschluß gefaßt, sich an dem kleinen Umwege nicht zu stoßen.

Des armen Sleders Leben war seit dem gestrigen Morgen durch den Umstand, daß er das Kostüm der barmherzigen Schleifer trug, sehr leidig geworden, da die Straßenjugend gewaltigen Anstoß daran nahm. Kein junger Galgenstrick konnte den Anblick desselben auch nur einen Moment aushalten, ohne sich auf den harmlosen Träger zu stürzen und ihm einen Possen zu spielen. Seine soziale Existenz glich mehr der eines Christen aus den ersten Zeiten, als der eines unschuldigen Kindes aus dem neunzehnten Jahrhundert. In den Straßen hatte man ihn gesteinigt, man warf ihn in die Gossen, besudelte ihn mit Kot oder drückte ihn ungestüm an die Eckpfosten. Wildfremde Jungen hatten ihm seine gelbe Kappe vom Kopf gerissen und sie in die Luft geworfen. Seine Beine mußten sich nicht nur Verbal-Kritiken und Schmähungen gefallen lassen, sondern wurden auch handgreiflich behandelt und gezwickt. Schon am Morgen hatte er auf seinem Wege nach der Anstalt der Schleifer ein vollkommen unerbetenes blaues Auge davongetragen und war deshalb von dem Schulmeister, einem hochbetagten alten Schleifer von wilder Gemütsart, den man zum Lehrer ernannt hatte, weil er nichts wußte, zu nichts taugte und mit seinem grausamen Rohr alle rundbäckigen kleinen Jungen in beharrlichem Schrecken erhalten konnte – in Strafe genommen worden.

So kam es denn, daß Sieder auf dem Heimwege die unbegangensten Pfade aufsuchte und durch enge Wege und Hintergassen schlich, um seinen Quälgeistern auszuweichen. Als er endlich in die Hauptstraße einbiegen mußte, führte ihn sein Mißgeschick unter einen Bubenhaufen, der unter der Anführung eines wilden Metzgerlehrlings auf der Lauer lag, ob sich nichts ergebe, wodurch sie sich eine angenehme Aufregung verschaffen könnten. Da sie nun plötzlich einen barmherzigen Schleifer mitten unter sich sahen – sozusagen unerklärlicherweise ihren Händen überantwortet – stimmten sie ein allgemeines Gejohl an und stürzten auf ihn los.

Zu gleicher Zeit fügte es sich, daß Polly des Wegs kam. Sie war bereits eine gute Stunde gegangen und hatte hoffnungslos die Straße vor sich hinaufgesehen, so daß sie schon meinte, es nütze nichts, weiter zu gehen, als sie plötzlich diese Szene gewahr wurde. Kaum hatte sie ihren Knaben erkannt, als sie einen hastigen Schrei ausstieß, Master Dombey der Schwarzäugigen aufdrang und unter den Haufen stürzte, um ihren unglücklichen Sohn zu retten.

Überraschungen kommen gleich dem Unglück selten allein. Die erstaunte Susanna Nipper und ihre beiden jungen Pflegebefohlenen mußten, noch ehe sie wußten, was um sie vorging, von den Umstehenden vor den Rädern eines vorbeifahrenden Wagens weggerissen werden, und im gleichen Augenblick (es war Markttag) ließ sich der donnernde Lärmruf »ein wütender Ochse!« vernehmen.

Die wilde Verwirrung vor sich, Leute, die schreiend auf und ab rannten, Räder, die sie überfahren wollten, sich balgende Knaben, heranjagende tolle Stiere und die Amme, welche inmitten dieser Gefahren fast in Stücke gerissen wurde – alles das war zuviel für Florence; sie fing an zu schreien und lief davon. Sie lief fort, bis sie nicht mehr konnte, und drängte Susanna, dasselbe zu tun; als sie aber endlich haltmachte und daran dachte, daß sie die andere Amme zurückgelassen hatte, machte sie unter Händeringen und mit einem Schrecken, der sich nicht beschreiben läßt, die Entdeckung, daß sie ganz allein war.

»Susanna! Susanna!« rief sie, im Übermaß ihrer Angst die Händchen zusammenschlagend. »O, wo sind sie! wo sind sie!«

»Wo sie sind?« sagte ein altes Weib, die von der andern Seite des Weges humpelnd auf sie zukam. »Warum bist du ihnen entlaufen?«

»Ich fürchtete mich«, antwortete Florence. »Ich wußte nicht, was ich tat. Ich meinte, sie seien bei mir. Wo sind sie?«

Die Alte nahm sie bei der Hand und sagte:

»Ich will es dir zeigen,«

Es war ein sehr häßliches altes Weib mit roten Augenrändern und einem Munde, der immer mummelnde Bewegungen machte, auch wenn sie nicht sprach. Ihr Anzug war erbärmlich, und sie trug einige Felle über dem Arm. Allem Anschein nach war sie, wenigstens eine Strecke weit, Florence nachgegangen, denn sie konnte fast kaum zu Atem kommen. Ihr Schnauben machte sie noch häßlicher, und ihr welkes gelbes Gesicht samt dem Halse verzog sich dabei zu allen Arten von Verzerrungen.

»Du brauchst dich jetzt nicht mehr zu fürchten«, sagte die Alte, sie fest am Handgelenk haltend, »Komm nur mit mir.«

»Ich – ich kenne Euch ja nicht. Wie heißt Ihr?« fragte Florence.

»Mistreß Brown«, sagte die Alte. »Die gute Mrs. Brown.«

»Wohnt Ihr in der Nähe?« fragte Florence, die sich wegführen ließ.

»Susanna ist nicht weit«, sagte die gute Mrs. Brown; »und die andern kommen gleich hinterher.«

»Ist jemand verletzt worden?« fragte Florence.

»O, nicht im geringsten«, entgegnete die gute Mrs. Brown.

Als die Kleine das hörte, vergoß sie Freudentränen und folgte der Alten bereitwillig, obschon sie nicht umhin konnte, im Weitergehen nach dem Gesicht und namentlich nach dem geschäftigen Mund der Alten aufzusehen, wobei sie sich Gedanken machte, ob die böse Mrs. Brown, wenn es anders eine solche Person gab, wohl eine Ähnlichkeit mit ihr haben könne.

Ihr Weg führte sie nicht sehr weit, wohl aber an manchen sehr unbequemen Plätzen, z. B. an Backsteinlagern und Ziegeleien vorbei; dann aber bog die Alte seitwärts in eine schmutzige Straße ein, wo der Kot in der Mitte des Wegs tiefe schwarze Fahrrinnen bildete. Sie machte halt vor einem schäbigen Häuschen, das so dicht verschlossen war, als es eine Hütte von Rissen und Spalten nur sein konnte. Nachdem sie mit einem Schlüssel, den sie aus ihrem Hut genommen, die Tür geöffnet hatte, schob sie das Kind vor sich her nach einem Hinterstübchen, wo ein großer Haufen von verschiedenfarbigen Lumpen auf dem Boden lag, daneben ein Berg von Knochen und ein Haufen Asche oder gesiebten Staubes. Möbelwerk war nirgends zu sehen, und Decke sowohl als Wände hatten eine völlig schwarze Farbe.

Die Kleine war so erschrocken, daß sie nicht zu sprechen vermochte und einer Ohnmacht nahe war.

»Na, sei kein Gänslein«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sie durch ein tüchtiges Rütteln wieder zum Leben brachte. »Ich will dir ja nichts tun. Setze dich auf die Lumpen dort.«

Florence gehorchte und streckte in stummer Bitte die gefalteten Hände aus.

»Ich will dich nicht dabehalten, nein, nicht einmal eine Stunde«, sagte Mrs. Brown. »Hast du mich verstanden?«

Mit großer Mühe konnte das Kind nur ein einfaches Ja herausbringen.

»Dann bring' mich nicht in Ärger«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sich auf den Knochenhaufen niedersetzte. »Ich sage dir, wenn du mich nicht reizest, soll dir nichts geschehen; tust du das aber, so bring' ich dich um. Ich kann dich umbringen zu jeder Zeit – ja selbst wenn du zu Haus in deinem Bette liegst. Jetzt laß hören, wer du bist, was du bist und dergleichen.«

 

Das Drohen und die Versprechungen der Alten, die Furcht, ihr Anstoß zu geben, und die bei einem Kind so selten vorkommende, aber bei Florence fast natürliche Gewohnheit, sich ruhig zu verhalten und ihre Gefühle, die der Furcht sowohl als die der Hoffnung, zu unterdrücken, setzten die Kleine in den Stand, der Aufforderung zu entsprechen und ihre kurze Geschichte, so weit sie ihr selbst bekannt war, vorzutragen. Mrs. Brown hörte ihr aufmerksam zu, bis sie zu Ende gekommen war.

»Du heißt also Dombey, he?« fragte Mrs. Brown.

»Ja, Madame.«

»Ich brauche dieses kleine hübsche Röcklein, Miß Dombey«, sagte Mrs. Brown, »dieses kleine Hütlein, ein paar Unterröckchen und alles was du entbehren kannst. Tummle dich! Leg' ab!«

Florence gehorchte so schnell, als ihre zitternden Hände es gestatten wollten, und hielt dabei stets ihre furchtsamen Blicke auf Mrs. Brown gerichtet. Nachdem sie sich all der von der alten Dame bezeichneten Kleidungsstücke entledigt hatte, ließ sich Mrs. Brown Zeit zu einer gemächlichen Musterung des Erworbenen und schien mit der Qualität und dem Wert der Sachen ganz zufrieden zu sein.

»Hum!« sagte sie, und ließ ihre Augen über die schmächtige Gestalt des Mädchens hingleiten. »Ich sehe sonst nichts mehr, als die Schuhe. Ich muß die Schuhe haben, Miß Dombey.«

Die arme kleine Florence nahm sie mit der gleichen Behendigkeit ab und schätzte sich überglücklich, noch einige Mittel zu besitzen, um ihre Gesellschafterin freundlich zu stimmen. Die Alte klaubte sodann aus dem Lumpenhaufen verschiedene erbärmliche Ersatzstücke heraus, dazu noch ein ganz abgetragenes und sehr altes Kindermäntelchen, nebst den zerknitterten Überresten eines Hutes, der wahrscheinlich aus einem Graben oder von einem Düngerhaufen aufgelesen war. Dann befahl sie Florence, sich in diese appetitlichen Sachen zu hüllen, und die Kleine willfahrte der Aufforderung, womöglich mit noch größerer Bereitwilligkeit, weil sie ein Vorspiel ihrer Befreiung darin sah.

Als sie hastig den Hut, der eher wie ein Bausch zum Tragen von Lasten aussah, aufsetzte, verfing sich derselbe in ihrem wallenden Haar und konnte nicht gleich wieder losgemacht werden. Die gute Mrs. Brown zog eine Schere heraus und geriet in einen unerklärlichen Zustand von Aufregung.

»Warum konntest du mich nicht gehen lassen, du kleine Närrin, nachdem ich zufrieden war?« sagte Mrs. Brown.

»Verzeiht mir«, keuchte Florence; »ich weiß ja nicht, was ich getan habe, und konnte nicht dafür.«

»Konntest du nicht dafür?« rief Mrs. Brown. »Und weshalb glaubst du, daß ich dafür kann? Ach Himmel!« sagte die Alte, indem sie mit wütender Lust die Locken der Kleinen durchwühlte, »jedermann außer mir würde es zuerst auf sie abgesehen haben.«

Florence fühlte sich erleichtert, als sie fand, daß Mrs. Brown nur nach ihrem Haar, nicht nach ihrem Kopf verlangte; sie ließ sich darum alles ohne Widerstand oder Bitte gefallen und richtete bloß ihre unschuldigen Augen zu dem Gesicht der guten Seele auf.

»Wenn ich nicht selbst einmal ein Mädel gehabt hätte – jetzt weit über dem Meer drüben – das auf ihr Haar stolz war«, sagte Mrs. Brown, »so müßte jedes Löckchen mir gehören. Sie ist weit weg! Oho! oho!«

Der Ausruf von Mrs. Brown war nicht melodisch; sie warf aber dabei voll leidenschaftlichen Grams ihre abgezehrten Arme in die Höhe, und das ging Florence so zu Herzen, daß sie sich mehr als je fürchtete. Vielleicht lag hierin auch der Grund, daß ihre Locken geschont wurden; denn nachdem Mrs. Brown sie einige Augenblicke gleich einer neuen Art von Schmetterling mit ihrer Schere umschwebt hatte, befahl sie ihr, sich den Kopf mit dem Hut zu bedecken und keine Spur von ihren Haaren blicken zu lassen, damit sie nicht in weitere Versuchung geführt werde. Nach diesem Sieg über sich selbst setzte sich die Alte wieder auf die Knochen nieder und rauchte mummelnd eine kurze schwarze Pfeife mit einer Gier, als ob sie das Rohr essen wolle.

Sobald die Pfeife ausgeraucht war, gab sie der Kleinen eine Kaninchenhaut über den Arm, damit sie sich wie ihre gewöhnliche Begleiterin ausnehmen möchte, und bedeutete ihr sodann, sie wolle sie jetzt nach einer Hauptstraße hinführen, wo sie sich nach dem Weg zu ihren Freunden erkundigen könne. Zugleich aber warnte sie Florence unter Drohungen summarischer und tödlicher Rache für den Fall eines Ungehorsams und verbot ihr, ja keine Fremden anzureden oder sich nach ihrem eigenen Hause zu begeben, das vielleicht für Mrs. Browns Bequemlichkeit zu nahe lag, sondern das Geschäftslokal ihres Vaters in der City aufzusuchen. Ferner sollte sie an der Straßenecke, wohin sie gebracht würde, warten, bis die Uhr drei geschlagen hätte. Diesen Weisungen gab Mrs. Brown noch größeren Nachdruck durch die Versicherung, daß sie mächtige Augen und Ohren im Dienst habe, die alles Tun und Treiben des Mädchens genau beobachten würden, und Florence versprach, allem, was ihr geboten worden, treu und eifrig nachzukommen.

Endlich brach Mrs. Brown auf und führte ihre so umgewandelte und zerlumpte kleine Freundin durch ein Labyrinth von engen Straßen, Gassen und Gäßchen, bis sie nach langer Zeit in einen Stallhof mit einer Einfahrt gelangten, in welchem das Getümmel einer belebten Hauptstraße hörbar war. Hier tat die Alte noch einen Abschiedsgriff nach den Locken des Kindes – ganz unwillkürlich und aus unbewältigbarem Impulse, wie es schien – deutete aber dann nach dem Tore hin und teilte Florence mit, wenn es drei geschlagen habe, solle sie sich nach links wenden; sie wisse jetzt, was sie zu tun habe, und solle danach handeln, aber dabei nicht vergessen, daß sie aufs schärfste beobachtet werde.

Mit leichterm Herzen, aber noch immer in großer Angst fühlte sich Florence nun befreit und eilte nach der Ecke hin. Dort angelangt schaute sie zurück und bemerkte noch den Kopf der guten Mrs. Brown, der zu dem niedrigen hölzernen Gang heraussah, wo die Abschiedseinschärfungen erteilt worden waren, zugleich aber auch die Faust, mit der die gute Mrs. Brown ihr drohte. Sooft sie aber auch später wieder zurückschaute – und sie tat das in ihrer erschreckten Erinnerung an die Alte jede Minute – konnte sie nichts mehr von ihr entdecken.

Florence blieb, wo sie war, und schaute in das Gewühl auf der Straße, durch das sie immer noch mehr verwirrt wurde. Mittlerweile schienen die Glocken darauf versessen zu sein, nie und nimmermehr drei Uhr zu schlagen. Endlich klang es von dem Kirchturme herab – einer davon war ganz in der Nähe, und es konnte keine Täuschung obwalten. Die Kleine schaute oft über ihre Schulter zurück, ging oft ein Streckchen weit und kam ebensooft wieder nach der alten Stelle, damit die allgewaltigen Spione der Mrs. Brown keinen Anstoß nehmen sollten; dann aber eilte sie, so schnell es in ihren Schlappschuhen möglich war, mit ihrem Kaninchenfell in der Hand weiter.

Von den Geschäftslokalen ihres Vaters wußte sie weiter nichts, als daß sie Dombey und Sohn gehörten und daß diese Firma eine große zur City gehörige Macht war. Sie konnte daher nur nach Dombey und Sohn in der City fragen und erhielt, da sie sich hauptsächlich mit ihren Erkundigungen an Kinder wendete, weil sie sich scheute, erwachsene Personen um Auskunft zu bitten, sehr ungenügende Erwiderungen. Es gelang ihr aber doch durch ihre Nachfragen, die sie vorderhand nur auf den Weg nach der City beschränkte, allmählich dem Herzen jener großen Region näher zu kommen, die durch den schrecklichen Lord-Mayor beherrscht wird.