Dombey und Sohn

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»Ich glaube, er könnte auch eine Turmuhr machen, wenn er es versuchte?«

»Es sollte mich nicht wundern, Kapitän Cuttle«, entgegnete der Knabe.

»Und sie würde gehen!« sagte der Kapitän Cuttle, mit seinem Haken eine Art Schlange in die Luft beschreibend. »Herr, wie diese Uhr gehen würde!«

Für einige Augenblicke schien er ganz in der Betrachtung der Bewegung dieses idealen Zeitmessers vertieft zu sein und sah dabei den Knaben an, als ob dessen Gesicht das Zifferblatt wäre.

»Er besitzt ein überaus großes Wissen«, bemerkte er, seinen Haken gegen die Ladenvorräte schwenkend. »Schaut nur her! Eine ganze Sammlung davon. Erde, Luft oder Wasser. Es ist alles das gleiche. Ihr braucht bloß zu sagen, was Ihr haben wollt. Hinauf in einem Ballon? Steht zu Diensten. Nieder in einer Taucherglocke? Steht zu Diensten. Wollt Ihr das Gewicht des Polarsterns in einer Wagschale untersuchen? Er wird es für Euch besorgen.«

Aus diesen Bemerkungen kann man entnehmen, daß Kapitän Cuttles Verehrung vor dem Instrumentenvorrat sehr groß war, daß aber seine Philosophie nicht so weit reichte, um sich den Unterschied des Verkaufens und des Erfindens derselben genau zu vergegenwärtigen.

»Ah«, sagte er mit einem Seufzer, »es ist was Schönes, wenn man es versteht. Und doch ist es auch was Schönes, wenn man es nicht versteht. Ich weiß kaum, welches von beiden das Beste ist. Es wird einem so behaglich, wenn man dasitzt und fühlt, daß man gewogen, gemessen, magnifiert, elektrisiert, polarisiert und wie das Teufelszeug sonst heißen mag, werden kann, ohne daß man weiß wie.«

Nichts Geringeres als der herrliche Madeira in Verbindung mit der Gelegenheit, die so gut dazu paßte, Walters Geist zu erleuchten und zu erweitern, wäre je imstande gewesen, die Zunge des alten Gentleman zu einem so wunderbaren Redeerguß zu lösen. Er schien selbst erstaunt zu sein über die Art, in der sich seine Lippen öffneten, um die Quellen des stummen Entzückens zu rühmen, die sich bei Gelegenheit von Sonntagsmahlzeiten seit zehn Jahren in diesem Stübchen für ihn ergossen hatten. Er fühlte, daß er mit der zunehmenden Weisheit auch schwermütiger wurde, und schwieg fortan in tiefem Nachsinnen.

»Na«, rief der zurückkehrende Gegenstand seiner Bewunderung, »ehe wir zum Grog schreiten, Ned, müssen wir die Flasche zu Ende bringen.«

»Ich halte mit«, sagte Ned, sein Glas füllend: »gebt dem Burschen auch noch etwas.«

»Nicht mehr – ich danke, Onkel!«

»Ja, ja, noch ein bißchen«, sagte Sol. »Wir leeren die Flasche auf das Haus, Ned – auf Walters Haus. Warum könnte es nicht eines Tages wenigstens teilweise seins werden? Wer weiß! Sir Richard Whittington heiratete die Tochter seines Prinzipals.«

»›Kehrum, Whittington, Lord-Mayor von London, und wenn du alt bist, wirst du nie mehr draus weichen‹«, fiel der Kapitän ein. »Wal'r, lies das Buch, mein Junge.«

»Und obgleich Mr. Dombey keine Tochter hat,« begann Sol –

»Ja, ja, er hat eine, Onkel«, sagte der Knabe lachend und errötete.

»Wirklich?« rief der alte Mann. »In der Tat, ich glaube, du hast recht.«

»O, ich weiß es gewiß«, sagte der Knabe. »Man hat heut' im Bureau davon gesprochen. Auch sagt man, Onkel und Kapitän Cuttle«, er dämpfte dabei seine Stimme – »daß er eine Abneigung gegen sie habe und daß sie unbeachtet bei dem Gesinde aufwachse; sein Sinn sei so ganz und gar von dem Sohn, den er jetzt im Haus habe, in Anspruch genommen, daß er, obschon dieser noch ein Säugling sei, die Bilanzen weit öfter ziehe, als früher – daß die Bücher weit strenger geprüft würden, und daß man ihn schon gesehn habe (freilich ohne daß er es merkte), wie er nach dem Hafen ging, um seine Schiffe, sein Eigentum und all dies zu betrachten, als freue er sich über das, was er und sein Sohn zusammen besitzen werden. So sagt man – ich kann das natürlich nicht beurteilen.«

»Ihr seht, er weiß schon alles von ihr«, sagte der Instrumentenmacher.

»Aber ich bitte dich, Onkel«, rief der Junge noch immer in knabenhaftem Erröten und Lachen. »Ich muß es doch wohl hören, wenn man mir etwas erzählt?«

»Ich fürchte, Ned, der Sohn ist uns zurzeit ein wenig im Weg«, sagte der alte Mann, den Scherz heiter weiter verfolgend.

»Und ob!« versetzte der Kapitän.

»Trotzdem wollen wir auf sein Wohl trinken«, fuhr Sol fort. »Es gilt also für Dombey und Sohn!«

»O, ganz schön, Onkel«, rief der Knabe lustig. »Und weil Ihr das Mädchen erwähntet und mich mit ihr in Verbindung gebracht habt, indem Ihr sagtet, daß ich alles von ihr wisse, so will ich mir erlauben, den Toast zu verbessern. Dombey und Sohn – und Tochter!«

Fünftes Kapitel. PAULS GEDEIHEN UND TAUFE.

Der kleine Paul, der von dem Blute der Toodles keinen Unglimpf erlitt, wurde mit jedem Tage stärker und kräftiger. Auch hätschelte ihn Miß Tox mit jedem Tage immer leidenschaftlicher, so daß schließlich Mr. Dombey ihre Anhänglichkeit an das Kind einigermaßen zu würdigen begann. Er sah sie nämlich allmählich als Frauensperson von gutem natürlichen Verstand an, deren Gefühle ihr Ehre machten und wohl eine Aufmunterung verdienten. Er ging sogar in seiner Herablassung so weit, daß er sich bei verschiedenen Anlässen nicht nur in ganz besonderer Weise gegen sie verneigte, sondern auch seine Schwester mit manchen stattlichen Grüßen an sie beauftragte. Zum Beispiel sagte er ihr: »Ich bitte dich, deiner Freundin, Louisa, zu bemerken, daß sie sehr gütig ist«, oder »sage Miß Tox, Louisa, daß ich ihr sehr zu Dank verpflichtet bin«, – Besonderheiten, die auf die in solcher Weise ausgezeichnete Dame einen tiefen Eindruck machten.

Miß Tox pflegte Mrs. Chick oft zu versichern, daß »ihr nichts über die Teilnahme an allem gehe, was mit der Entwicklung dieses süßen Kindes im Zusammenhang stünde«, und wer Miß Tox genauer beobachtete, mußte aus ihrer Art sich zu geben selbstverständlich diesen Schluß ziehen, ohne daß es einer erklärenden Bestätigung bedurft hätte. So konnte sie z.B. mit unaussprechlicher Selbstzufriedenheit und fast mit einer Miene, als teile sie mit Richards das Glück der Ernährung, während der unschuldigen Labungen des jungen Erben den Vorsitz führen. Bei den kleinen Zeremonien des Bads und der Toilette leistete sie begeisterte Beihilfe. Die Anwendung kindlicher Dosen von Arzneimitteln weckte all die tätige Sympathie ihres Charakters, und einmal, als Mr. Dombey, von seiner Schwester begleitet, nach der Kinderstube kam, um nachzusehen, wie man seinen Sohn zu Bette legen wollte, der in seinem kurzen luftigen Jäckchen mit den Beinen an Richards' Kleidern hinaufstrampelte – sah ich Miß Tox, die vorher aus lauter Bescheidenheit in einen Geschirrschrank gekrochen war, so über die alberne Gegenwart hinausgerissen, daß sie nicht imstande war, sich des Ausrufs zu erwehren: »Ist er nicht schön, Mr. Dombey! Ist er nicht ein Liebesgott, Sir!« Dann aber brach sie, vor lauter Verwirrung und Erröten, hinter der Schranktür fast zusammen.

»Louisa«, sagte Mr. Dombey eines Tags zu seiner Schwester, »ich glaube wirklich, ich muß deine Freundin bei Gelegenheit von Pauls Taufe mit einem kleinen Andenken erfreuen. Sie hat sich von Anfang an so warm des Kindes angenommen und scheint ihre Aufgabe so durchaus zu verstehen – leider ein gar seltenes Verdienst in dieser Welt – daß ich ihr gerne eine Aufmerksamkeit erweisen möchte.«

Wir wollen den Vorzügen der Miß Tox keinen Abbruch tun, wenn wir andeuten, daß in den Augen Mr. Dombeys, wie in denen so mancher anderen, die man gelegentlich zu sehen kriegt, nur diejenigen zu jenem gewaltigen Stück Kenntnis, dem Verstehen ihrer eigenen Stellung gelangt waren, die der seinigen eine passende Verehrung zollten. Die Überzeugung, daß sie sich selbst kannten, hatte bei ihm lange nicht die hohe Bedeutung, als das Bewußtsein, daß sie ihn kannten und sich tief vor ihm verbeugten.

»Mein lieber Paul«, erwiderte seine Schwester, »du läßt Miß Tox nur Gerechtigkeit widerfahren, wie das von einem Manne mit deinem Scharfblick zu erwarten ist. Ich glaube, wenn es drei Worte in der englischen Sprache gibt, vor denen sie eine Achtung hat, die sich fast zur Verehrung steigert, so sind diese Worte Dombey und Sohn.«

»Nun, ich glaube es«, versetzte Mr. Dombey. »Es macht Miß Tox Ehre.«

»Und was das Andenken betrifft, von dem du gesprochen hast, mein lieber Paul«, fuhr seine Schwester fort, »so kann ich mit voller Überzeugung behaupten, daß alles, mit dem du Miß Tox zu bedenken beabsichtigst, wie eine Reliquie aufbewahrt und geschätzt werden wird. Es gibt übrigens eine Art, mein lieber Paul, ihr deine Anerkennung für ihre Freundlichkeit in noch schmeichelhafterer Weise zu bekunden, falls du dazu geneigt sein solltest.«

»Und das wäre?« fragte Mr. Dombey.

»Paten sind natürlich im Punkte der Bekanntschaft und des Einflusses von großer Wichtigkeit«, fuhr Mrs. Chick fort.

»Ich sehe nicht ein, welchen Wert sie für meinen Sohn haben könnten«, versetzte Mr. Dombey kalt.

»Ganz richtig, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick mit außerordentlicher Lebhaftigkeit, um das Plötzliche ihrer Bekehrung zu bemänteln, »und sehr würdig gesprochen. Ich hätte nichts anderes von dir erwarten sollen und zuvor schon wissen können, daß das deine Ansicht ist. Aber vielleicht ist gerade das«, fügte Mrs. Chick etwas zögernd hinzu, als ob sie sich bei der Sache nicht ganz behaglich fühle – »vielleicht ist das eben ein Grund, warum du weniger dagegen einzuwenden haben dürftest, wenn Miß Tox bei dem lieben Ding zu Gevatter steht, wäre es auch nur als Stellvertreterin für jemand anders. Ich brauche nicht zu sagen, mein lieber Paul, daß eine solche Erlaubnis als eine große Ehre und Auszeichnung aufgenommen werden würde.«

»Louisa«, sagte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, »man glaubt doch nicht –«

 

»Gewiß nicht«, rief Mrs. Chick, welche sich beeilte, der Abweisung zuvorzukommen; »ich habe in meinem Leben nie daran gedacht.«

Mr. Dombey sah sie ungeduldig an.

»Bringe mich nicht in Verwirrung, mein lieber Paul«, sagte seine Schwester, »denn das richtet mich zugrunde. Ich fühle mich überhaupt sehr angegriffen und bin nicht mehr ich selbst gewesen, seit die arme liebe Fanny heimgegangen ist.«

Mr. Dombey schaute nach dem Taschentuch, das seine Schwester nach ihren Augen führte, und sprach weiter:

»Ich sage, man werde doch nicht glauben –«

»Und ich sage«, murmelte Mrs. Chick, »daß ich in meinem Leben nie daran gedacht habe.«

»Gütiger Gott, Louisa!« sagte Mr. Dombey.

»Nein, mein lieber Paul«, erwiderte sie mit tränenvoller Würde, »du mußt mir schon erlauben zu sprechen. Ich bin nicht so gewandt, so raisonierend, so beredt oder überhaupt etwas der Art, wie du. Ich weiß das recht wohl. Um so schlimmer für mich. Aber wenn es die letzten Worte wären, die von meinen Lippen kämen – und nach dem Heimgang der armen teuren Fanny sollten letzte Worte für dich und mich sehr feierlich sein, mein lieber Paul – so würde ich doch noch immer sagen, daß ich nie daran dachte. Und was noch mehr ist«, fügte Mrs. Chick mit zunehmender Würde hinzu, als ob sie das gewichtigste Argument bis zuletzt aufgespart hätte, »ich habe nie daran gedacht.«

Mr. Dombey ging nach dem Fenster und wieder zurück.

»Man darf nicht glauben, Louisa«, sagte er (Mrs. Chick hatte ihre Flagge an den Mast genagelt und wiederholte: Ich weiß es wohl! aber er nahm keine Notiz davon, sondern fuhr fort), »daß es nicht viele Personen gebe, die, angenommen, daß ich in irgendeinem solchen Fall überhaupt Ansprüche anerkenne, weit höhere Berechtigung an mich haben, als Miß Tox. Aber wie gesagt, ich erkenne nichts dergleichen an. Wenn einmal die Zeit kommt, so werden Paul und ich imstande sein, unser Eigentum zusammenzuhalten – oder mit andern Worten, das Haus wird für sich selbst und ohne dergleichen gemeine Beihilfen sich und sein Eigentum erhalten können. Die Art fremder Hilfe, welche man gewöhnlich für Kinder sucht, kann ich wohl entbehren, da ich hoffentlich darüber weg bin. Sofern Pauls Kindheit und Jugend nur gut verläuft – und er sich ohne Zeitverlust für die Laufbahn, für die ich ihn bestimmt habe, qualifiziert, so bin ich zufrieden. Im spätern Leben kann er sich nach Belieben mächtige Freunde suchen, wenn er nach Kräften die Würde und den Kredit der Firma aufrecht erhält, ja, wenn möglich, sie sogar noch ausdehnt. Bis dahin bin ich vielleicht genug für ihn und alles in allem. Ich wünsche nicht, daß jemand zwischen uns trete. Viel lieber möchte ich deshalb einer so verdienstvollen Person, wie deine Freundin ist, meine Anerkennung für ihr verbindliches Benehmen zeigen. Sei es darum, wie du gesagt hast. Dein Gatte und ich, wir beide werden dann wohl als übrige Paten ausreichen.«

Im Verlauf dieser Bemerkungen, die mit viel Majestät und Großartigkeit vorgetragen wurden, hatte Mr. Dombey die geheimen Gefühle seines Innern enthüllt. Ein unbeschreibliches Mißtrauen vor jedermann, der sich zwischen ihn und seinen Sohn stellen könnte, eine hochmütige Furcht, in der Achtung und in dem Gehorsam des Knaben einen Nebenbuhler oder Teilnehmer zu haben, eine peinigende Ahnung, welche erst kürzlich in ihm aufgestiegen war, daß seine Macht, den menschlichen Willen zu binden und zu beugen, zweifelhaft sei, und eine nicht minder quälende Besorgnis über irgendeinen zweiten Hemmstein oder Querstrich – waren damals die Haupttasten seiner Seele. In seinem ganzen Leben hatte er sich nie einen Freund erworben, da sein kaltes abgemessenes Wesen weder Freunde suchte, noch gewinnen konnte. Und nun, während diese Natur ihre ganze Gewalt so kräftig auf einen Lieblingsplan der väterlichen Teilnahme und des Ehrgeizes konzentrierte, schien es, als ob ihr eisiger Strom, statt durch solchen Einfluß frei zu werden und klar zu laufen, nur für einen Augenblick aufgetaut sei, um die Last aufzunehmen und dann wieder zu einer einzigen, unnachgiebigen Masse zu gefrieren.

Kraft ihrer Unbedeutsamkeit war Miß Tox von Stund' an zur Patin des kleinen Paul erkoren, und Mr. Dombey deutete noch an, es sei ihm lieb, wenn die bereits schon so lang verschobene Zeremonie ohne weitere Verzögerung stattfinde. Seine Schwester, die einen so ausgezeichneten Erfolg nicht entfernt geahnt hatte, entfernte sich in möglichster Eile, um das erzielte Resultat der besten ihrer Freundinnen mitzuteilen, und Mr. Dombey blieb in seinem Bibliothekzimmer allein.

In dem Kinderzimmer sah es nichts weniger als einsam aus, denn Mrs. Chick und Miß Tox erfreuten sich daselbst eines geselligen Abends – sehr zum Verdruß der Miß Susanna Nipper, die jede Gelegenheit ergriff, um hinter der Tür schiefe Gesichter zu machen. Die Gefühle dieser jungen Dame waren so aufgeregt, daß sie es für unerläßlich fand, ihnen diese Erleichterung zu verschaffen, selbst ohne daß sie dabei den Trost irgendeines Auditoriums oder irgendeiner Sympathie hatte. Wie vor alters die fahrenden Ritter ihr Gemüt dadurch erleichterten, daß sie in Wildnissen, Wüsten und andern verlassenen Plätzen, wohin aller Wahrscheinlichkeit nach gewiß nie jemand zum Lesen kam, die Namen ihrer Gebieterinnen dem Gestein oder den Baumrinden anvertrauten, so rümpfte Miß Susanne Nipper ihre Mopsnase in Schubladen oder Kleiderkästen, warf verächtliche Schielblicke in Wandkästen, sandte ihr spottendes Blinzeln in steinerne Krüge und schimpfte aus Leibeskräften draußen auf dem Flurplatz.

Die beiden anstößigen Personen aber, die sich hinsichtlich der Gefühle der jungen Dame in glücklicher Unwissenheit befanden, sahen zu, wie der kleine Paul wohlbehalten alle Stadien des Entkleidens, Entlüftens, des Nachtessens und des Zubettgebrachtwerdens durchmachte; worauf sie sich vor dem Feuer zum Tee niedersetzten. Infolge der guten Dienste, die Polly geleistet hatte, schliefen jetzt die beiden Kinder in einem Zimmer, und erst als die Damen an ihrem Teetisch beisammensaßen, fügte es sich, als sie zufällig nach den kleinen Betten hinübersahen, daß sie an Florence dachten.

»Wie gesund sie schläft!« sagte Miß Tox.

»Na, Ihr wißt ja, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick, »daß sie sich den ganzen Tag über viel Bewegung macht und um den kleinen Paul herumspielt.«

»Sie ist ein artiges Kind«, sagte Miß Tox.

»Meine Liebe«, erwiderte Mrs. Chick in gedämpfter Stimme, »ganz und gar ihre Mama!«

»Wirklich!« sagte Miß Tox. »Ach du mein Himmel!«

Miß Tox hatte das im Tone des außerordentlichsten Mitleids gesprochen; obgleich sie keine bestimmte Idee von dem Grunde hatte, sondern sich nur etwa dachte, daß das von ihr erwartet werde.

»Florence wird nie, nie und nimmermehr eine Dombey sein«, sagte Mrs. Chick, »und wenn sie tausend Jahre alt würde.«

Miß Tox zog ihre Augenbrauen empor und machte abermals eine Miene des Bedauerns.

»Ich härme mich unaufhörlich ab um ihretwillen«, fuhr Mrs. Chick mit einem Seufzer bescheidenen Verdienstes fort. »Wahrhaftig, ich sehe nicht ein, was aus ihr werden soll, oder welche Stellung sie einnehmen kann, wenn sie älter wird. Ihren Papa weiß sie gar nicht für sich zu gewinnen. Und wie ließe sich das auch erwarten, da sie den Dombeys so ganz unähnlich ist?«

Miß Tox machte ein Gesicht, als sehe sie durchaus kein Mittel, einem so zwingenden Argumente auszuweichen.

»Und das Kind, seht Ihr«, nahm Mrs. Chick im Tone besonderen Vertrauens wieder auf, »hat ganz die Natur der armen lieben Fanny. Ich stehe dafür, sie wird in ihrem ganzen spätern Leben nie eine Anstrengung machen. Nie! Sie wird es nicht versuchen, sich um das Herz ihres Papas zu schlingen und zu winden, wie –«

»Wie der Efeu«, ergänzte Miß Tox.

»Wie der Efeu«, pflichtete Mrs. Chick bei. »Nie! Sie wird nie hineinschlüpfen und sich ein Nestchen bauen in dem Busen der väterlichen Liebe, wie das –«

»Wie das aufgeschreckte Reh?« ergänzte Miß Tox.

»Wie das aufgeschreckte Reh«, sagte Mrs. Chick. »Nie! Die arme Fanny! Und doch, wie lieb ist sie mir gewesen!«

»Ihr müßt Euch nicht selbst betrüben, meine Liebe«, tröstete Miß Tox im Tone der Beschwichtigung. »In der Tat habt Ihr viel zu viel Gefühl.«

»Wir haben alle unsere Schwächen«, versetzte Mrs. Chick weinend und den Kopf schüttelnd, »das darf ich wohl sagen. Ich bin nie blind gegen die ihrigen gewesen und habe das auch nie behauptet. Gerade im Gegenteil. Und doch, wie sehr liebte ich sie!«

Welche Beruhigung war es für Mrs. Chick – eine ganz gewöhnliche, törichte Person, gegen die ihre Schwägerin ein wahrer Engel von weiblicher Einsicht und Zartheit gewesen – das Andenken dieser Dame zu patronisieren und dabei zärtlich zu tun, geradeso, wie sie es bei Lebzeiten der Lady getan hatte. Dabei setzte sie vollkommenen Glauben in sich, lobte sich und tat sich auf das Übermaß ihrer Duldung ungemein zugute! In wie hohem Grade lieblich muß die Tugend der Duldsamkeit sein, wo wir recht haben, wenn sie schon im entgegengesetzten Falle und unter Umständen so angenehm wirkt, wo man sich durchaus nicht erklären kann, wie wir zu dem Vorrecht, sie zu üben, gekommen sind.

Mrs. Chick trocknete sich noch die Augen und schüttelte den Kopf, als sich Richards die Freiheit nahm, ihr anzudeuten, daß Miß Florence wache und in ihrem Bette aufrecht sitze. Sie hatte sich, wie die Amme sagte, erhoben, und die Wimpern ihrer Augen waren naß von Tränen. Aber niemand sah sie glänzen, als Polly. Niemand anders beugte sich zu ihr hin, um ihr beruhigende Worte zuzuflüstern, oder war nahe genug, um das laute Klopfen ihres Herzens zu hören.

»O, liebe Wärterin«, sagte das Kind angelegentlich zu ihrem Gesicht aufblickend, »laßt mich bei meinem Bruder liegen!«

»Warum, mein Schätzchen?« fragte Richards.

»O, ich denke, er liebt mich«, rief das Kind ungestüm. »Laßt mich bei ihm liegen. Ich bitte, tut es!«

Mrs. Chick legte sich mit einigen mütterlichen Worten ins Mittel und sprach davon, die Kleine solle schlafen wie ein liebes Kind; aber Florence wiederholte ihre Bitte mit erschreckter Miene und mit einer durch Schluchzen und Tränen unterbrochenen Stimme.

»Ich will ihn gewiß nicht aufwecken«, sagt sie, indem sie ihr Gesicht bedeckte und ihr Köpfchen hängen ließ. »Ich will ihn gern nur mit der Hand berühren und schlafen. O ich bitte, bitte, laßt mich heute nacht bei meinem Bruder liegen, denn ich glaube, daß er mich liebt.«

Richards nahm sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, heraus, trug sie nach dem Bettchen, in welchem das Knäbchen schlief, und legte sie an seiner Seite nieder. Sie schmiegte sich so nahe an Paul an, als sie nur konnte, ohne seine Ruhe zu stören, streckte einen ihrer Arme so aus, daß er schüchtern seinen Hals umschlang, verbarg ihr Gesicht mit dem andern, über den das feuchte wirre Haar lose niederfiel, und blieb regungslos liegen.

»Das arme Ding«, sagte Miß Tox. »Wahrscheinlich hat sie geträumt.«

Dieser unbedeutende Vorfall hatte den Faden der Unterhaltung so sehr unterbrochen, daß es schwer wurde ihn wieder aufzunehmen. Außerdem fühlte sich Mrs. Chick von der Betrachtung ihres eigenen toleranten Wesens so angegriffen, daß sie durchaus nicht bei Stimmung war. Die beiden Freundinnen tummelten sich daher, um mit ihrem Tee zu Ende zu kommen, und dann wurde ein Diener abgesandt, um für Miß Tox eine Mietkutsche herbeizuholen. Miß Tox hatte in Betracht der Mietkutsche große Erfahrung, und ihr Fortkommen brauchte in der Regel einige Zeit, da sie umfangreiche Vorbereitungsmaßregeln traf.

»Wenn ich bitten darf, Towlinson«, sagte Miß Tox, »habt vor allem die Güte, Feder und Tinte herauszuholen und die Nummer deutlich niederzuschreiben.«

»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.

»Dann möcht' ich Euch auch um die Gefälligkeit bitten, Towlinson«, fuhr Miß Tox fort, »das Polster umzudrehen. Es ist in der Regel feucht, meine Liebe«, fügte sie, sich nach Mrs. Chick umdrehend, hinzu.

»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.

»Auch möchte ich Euch, wenn Ihr die Güte haben wollt, Towlinson, mit dieser Karte und diesem Schilling bemühen«, sagte Miß Tox. »Er soll nach der auf dieser Karte angegebenen Adresse fahren, und es versteht sich von selbst, daß er um keinen Preis mehr als den Schilling erhält.«

»Nein, Miß«, versetzte Towlinson.

»Und – es tut mir leid, Euch so viele Mühe zu machen, Towlinson« – sagte Miß Tor, sinnend nach ihm hinschauend.

»Ist durchaus nicht nötig, Miß«, versetzte Towlinson.

»So habt denn die Güte, Towlinson, dem Mann zu sagen«, sagte Miß Tor, »daß der Onkel der Dame eine Magistratsperson sei und er schrecklich bestraft werde, wenn er ihr mit einer von seinen Unverschämtheiten kommt. Wenn Ihr so gut sein wollt, könnt Ihr so tun, als sagtet Ihr ihm das bloß in freundschaftlicher Weise und weil Ihr wüßtet, daß es einem andern Manne, der jetzt zu den Toten zählt, so ergangen sei.«

 

»Soll nicht fehlen, Miß«, versetzte Towlinson.

»Und nun gute Nacht, mein süßes, süßes, süßes Patchen«, sagte Miß Tor, indem sie jede Wiederholung des Adjektivs mit einem sanften Schauer von Küssen begleitete. »Und Louisa, meine liebe Freundin, versprecht mir, daß Ihr vor dem Schlafengehen noch etwas Warmes nehmen und Euch nicht unnötigen Kummer machen wollt!«

Bei dieser Krise kam es die schwarzäugige Miß Nipper, die aufmerksam zusah, außerordentlich schwer an, sich zusammenzunehmen, obschon die peinliche Selbstbeherrschung fortdauern mußte, bis sich Mrs. Chick entfernt hatte. Sobald aber endlich die Kinderstube frei von Besuchern war, hielt sie sich für den erlittenen Zwang einigermaßen schadlos.

»Ihr könnt mich sechs Wochen in eine Zwangsjacke stecken«, sagte Nipper, »und wenn ich los bin, würde ich nur noch ärgerlicher sein, wer hat je so was von zwei Greisinnen gehört, Mrs. Richards?«

»Und dann zu sagen, das arme Ding habe geträumt!« entgegnete Polly.

»O ihr Schönheiten!« rief Susanna Nipper, und tat so, als werfe sie der Tür, durch welche sich die Damen entfernt hatten, ein Kußhändchen zu. »Sie wird also nie eine Dombey sein, es ist nie von ihr zu hoffen, wir brauchen keine solche mehr, wir haben an einer genug.«

»Weckt die Kinder nicht auf, liebe Susanna«, sagte Polly.

»Ich bin Euch sehr verbunden, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna, die in ihrer Wut durchaus keinen Unterschied machte, »und es ist mir geradeso, als ob ich es mir zur Ehre rechnen müßte, Eure Befehle entgegenzunehmen, da ich Eure Sklavin und eine Mulattin bin. Mrs. Richards, wenn Ihr mir noch andere Aufträge erteilen wollt, so bitte ich, es ohne weiteres zu tun.«

»Unsinn – wer spricht von Aufträgen!« sagte Polly.

»O, Gott behüte Euch, Mrs. Richards«, rief Susanna, »die Temporären wollen hier immer den Permanenten kommandieren, habt Ihr dies nicht gewußt, ei, wo seid Ihr denn geboren, Mrs. Richards? Aber wo immer Ihr auch geboren sein mögt, Mrs. Richards«, fuhr Sprühteufel fort, indem sie entschlossen den Kopf schüttelte, »und wann immer und wie immer (was Ihr selbst wohl am besten wissen werdet), so seid so gut, Euch zu erinnern, daß es etwas anderes ist, Befehle zu erteilen und etwas anderes, sie auszuführen. Eine Person kann zu einer andern Person sagen, sie soll kopfüber von einer Brücke fünfundvierzig Fuß tief ins Wasser hinunter springen, Mrs. Richards, aber es kann der Person einfallen, es recht hübsch bleiben zu lassen.«

»Ich weiß schon«, sagte Polly, »Ihr seid zornig, weil Ihr ein gutes kleines Ding seid und Miß Florence gerne habt; da wollt Ihr jetzt Eure Wut an mir auslassen, weil niemand anders da ist.«

»Es ist sehr leicht für manche, bei guter Stimmung und sanften Worten zu bleiben, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna einigermaßen beruhigt, »wenn man aus ihrem Kind so viel macht, wie aus einem Prinzen, und wenn man es hätschelt und pätschelt, bis es seine Freunde weit weg wünscht, aber wenn eine süße junge hübsche Unschuld, zu der man nie ein häßliches Wort sagen sollte, mit Füßen getreten wird, so ist das natürlich ein ganz anderer Fall. Du gütiger, barmherziger Himmel, Miß Floy, Ihr garstiges sündhaftes Kind, wenn Ihr nicht augenblicklich Eure Augen schließt, so rufe ich die Kobolde herein, die sich in der Dachkammer droben herumtreiben, damit sie Euch lebendig auffressen!«

Hier stimmte Miß Nipper ein schreckliches Geheul an, um die Kleine glauben zu machen, es komme von einem gewissenhaften Kobold aus der Ochsenspezies her, der ungeduldig sei, das grausame Amt seiner Stellung zu erfüllen. Nachdem sie noch weiter ihren jungen Pflegling dadurch, daß sie ihm den Kopf mit Bettüchern zudeckte, zur Ruhe gebracht und dem Kissen drei oder vier zornige Klapse gegeben hatte, kreuzte sie die Arme, warf die Lippen auf, setzte sich vor den Kamin und sah für den Rest des Abends ins Feuer hinein.

Obschon der kleine Paul, wie es in der Ammensprache lautete, »für sein Alter schon sehr aufpaßte«, so nahm er doch von all dem, wie auch von den Vorbereitungen, die am übernächsten Tage zu seiner Taufe getroffen wurden, sehr wenig Notiz. Doch ging alles, was seiner Schwester und der beiden Wärterinnen persönlichen Putz betraf, mit großer Regsamkeit vor sich. Als endlich der wichtige Morgen anbrach, zeigte er durchaus keinen Sinn für die Wichtigkeit dessen, was nun stattfinden sollte, da er im Gegenteil ungewöhnlich zum Schlafen geneigt und gegen diejenigen, die ihn ankleiden wollten, über die Maßen widerwärtig war.

Es war ein eisengrauer Herbsttag mit einem unfreundlichen Ostwind – ein Tag, der mit den Vorgängen im Einklang stand. Mr. Dombey repräsentierte in seiner Person den Wind, den Schatten und den Herbst des Taufakts. Er stand so hart und kalt wie das Wetter in seiner Bibliothek, um die Gesellschaft zu empfangen, und als er durch das verglaste Zimmer nach den Bäumen in dem kleinen Garten hinaussah, flatterten die braunen und gelben Blätter nieder, als habe sein Anblick sie zum Fallen gebracht. Huh – die Zimmer waren düster und kalt! Sie schienen gleich den Insassen des Hauses Trauer angelegt zu haben. Die Bücher, alle von gleicher Größe und gleich Soldaten in einer Linie aufgestellt, sahen in ihren kalten, harten, schlüpfrigen Uniformen aus, als hätten sie nur eine Aufgabe zu erfüllen – die des Gefrierens. Der verschlossene und mit Glastüren versehene Bücherschrank wies jede Vertraulichkeit zurück.

Obendrauf stand Mr. Pitt in Bronze, ohne eine Spur seines himmlischen Ursprungs in sich zu tragen, und hütete den unzugänglichen Schatz wie ein verzauberter Mohr. An jeder Ecke des Schranks predigte eine staubige Urne, aus altertümlichen Gräbern geholt, wie von zwei Kanzeln herunter Verödung und Hinfälligkeit, während der Spiegel über dem Kaminsims, der Mr. Dombey und sein Porträt mit einem Male reflektierte, sich in den melancholischsten Betrachtungen zu ergehen schien.

Die steifen, starren Feuereisen schienen vor allem übrigen die nächste Verwandtschaft mit Mr. Dombey ansprechen zu können, der in zugeknöpftem Frack, weißer Krawatte, knarrenden Stiefeln und mit einer schweren goldenen Uhrkette dastand. So verharrte er bis zur Ankunft von Mr. und Mrs. Chick, seinen gesetzmäßigen Verwandten, die sich bald nachher einstellten.

»Mein lieber Paul«, murmelte Mrs. Chick, als sie ihn umarmte, »hoffentlich der Anfang von vielen erfreulichen Tagen.«

»Danke dir, Louisa«, versetzte Mr. Dombey grämlich. »Wie geht es Euch, Mr. John?«

»Wie befindet Ihr Euch, Sir?« versetzte Chick.

Er reichte Mr. Dombey die Hand in einer Weise, als fürchte er, sie könnte ihn elektrisieren; Mr. Dombey aber nahm sie entgegen, als sei sie ein Fisch, ein Seeschwamm oder eine derartige schleimige Substanz, und ließ sie sogleich mit gesteigerter Höflichkeit wieder los.

»Vielleicht würdest du ein Feuer vorgezogen haben, Louisa?« bemerkte Mr. Dombey, seinen Kopf leicht in der Krawatte drehend, als bewege er sich in einem Scharnier.

»O, mein lieber Paul, nein«, versetzte Mrs. Chick, welche Mühe hatte, sich des Zähneklapperns zu erwehren; »um meinethalben ist es nicht nötig.«

»Mr. John«, sagte Mr. Dombey, »Ihr neigt doch nicht zur Erkältung?«

Mr. John, der bereits seine beiden Hände bis über die Handgelenke in die Taschen gesteckt hatte und gerade im Begriff war, denselben hundeartigen Chorus anzustimmen, der bei einer früheren Gelegenheit Mrs. Chick so viel Anstoß gegeben, versicherte, daß er es hier vollkommen behaglich finde.