Handbuch Ius Publicum Europaeum

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

5. Grundrechte



133





Von denkbar größter Bedeutung für das politische wie gesamtgesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland sind die Grundrechte des Grundgesetzes. Symbolkräftig an dessen Spitze platziert (vgl. oben,

Rn. 9ff.

), vom Bundesverfassungsgericht als „der eigentliche Kern der freiheitlich-demokratischen Ordnung des staatlichen Lebens im Grundgesetz“ apostrophiert, weisen sie nicht nur im Verhältnis zur Weimarer Republik, sondern auch im Vergleich mit vielen Verfassungsstaaten unserer Tage eine überragende Tragweite und Relevanz für die Gesamtrechtsordnung auf. Zu Recht hat man davon gesprochen, insbesondere durch seine Grundrechtsjudikatur habe das Bundesverfassungsgericht „weite Teile des Rechtslebens buchstäblich umgepflügt und neu bestellt“. Und speziell die Wirkungen der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimensionen (vgl. unten,

Rn. 140ff.

) wurden gar als „Wiedergeburt der Rechtsordnung aus dem Geist der Grundrechte“ apostrophiert. Diese Bedeutungssteigerung mag umso mehr erstaunen, als der Parlamentarische Rat bewusst auf die Einfügung sozialer Grundrechte und die Regelung der so genannten Lebensordnungen verzichtet und sich weitgehend, wenn auch nicht vollständig, auf die Normierung klassisch-liberaler Garantien beschränkt hatte (vgl. oben,

Rn. 11

,

34f.

). Doch ist diese Zurückhaltung vermutlich schon ein Teil der Erklärung: erst durch die weitgehende Beschränkung auf klassische Grundrechte konnten – von gefestigtem Terrain ausgehend – dann weitere Schritte gewagt werden.



134








Nun war einiges an Bedeutungszuwachs zweifellos im Grundgesetz selbst angelegt: so etwa die in Art. 1 Abs. 3 GG klar ausgesprochene Grundrechtsbindung für alle drei Staatsgewalten einschließlich des parlamentarischen Gesetzgebers (vgl. oben,

Rn. 12

,

86

), verknüpft mit einer unmissverständlichen Einordnung als subjektive, unmittelbar einklagbare Rechte; oder die Bestimmung des Art. 19 Abs. 2 GG, wonach Eingriffe in Grundrechte deren Wesensgehalt nicht antasten dürfen (vgl. oben,

Rn. 130

). Doch über diese keineswegs gering zu schätzenden Aspekte ging die weitere Entwicklung ganz beträchtlich hinaus. Sie lässt sich mit der hier unvermeidlichen Vergröberung als eine Entwicklung der Extensivierung, der Intensivierung und der Entfaltung neuer Dimensionen der Grundrechte i. S. einer Pluralisierung umschreiben.






a) Extensivierung



135





Eine denkbar weitgehende Extensivierung erfolgte zunächst durch die Ausdehnung grundrechtlicher Schutzbereiche ins nahezu Unbegrenzte, wie sie sich mit dem Elfes-Urteil vollzog. Dessen zentrale grundrechtsdogmatische Weichenstellung bestand darin, das in Art. 2 Abs. 1 GG garantierte Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit als ein allgemeines Freiheitsrecht zu verstehen, das damit zum umfassenden Auffanggrundrecht wurde. Fällt demnach eine bestimmte Betätigung nicht unter eines der kasuistisch aufgeführten Grundrechte, bleibt immer noch die Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG. Auch banal anmutende Tätigkeiten oder alltägliche Verhaltensweisen genießen Grundrechtsschutz; letztlich ist keine Handlung zu gering oder zu belanglos, um als grundrechtsirrelevant ausgeschieden zu werden. Die Judikatur selbst bietet für diese Ausdehnung auf Betätigungen jeder Art und Güte plastische Beispiele: das Verbot des Fütterns von Tauben im Park, des Reitens im Walde oder des Mopedfahrens ohne Helm – all diese vergleichsweise marginalen Einschränkungen können nun als Grundrechtseingriffe gewertet und wegen der Einräumung der Verfassungsbeschwerdemöglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen werden. Der Grundrechtsschutz wird lückenlos und flächendeckend. Zwar sieht die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG weitergehende Restriktionsmöglichkeiten vor als zahlreiche andere Grundrechtsbestimmungen; da aber auch hier das mehrstufige Verhältnismäßigkeitsprinzip greift, fällt das Ergebnis der Prüfung oft nicht zwingend anders aus. Eine gewisse dogmatische Verselbständigung haben einige der unter Art. 2 Abs. 1 GG fallenden Handlungsfreiheiten in den so genannten Innominatsfreiheitsrechten (wie der Freiheit von Abgaben oder vom Verbandszwang, der Ausreisefreiheit oder der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit) gefunden.



136








Eine zumeist mit Art. 2 Abs. 1 GG verbundene Extensivierung besteht des Weiteren in der Kreation „neuer“ Grundrechte, als deren wichtigstes das richterrechtlich entwickelte „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ gelten darf. Es wird vom Bundesverfassungsgericht in st. Rspr. aus „Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG“ hergeleitet und stellt neben der allgemeinen Handlungsfreiheit eine zweite, unabhängige Garantie dar. Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht zählen etwa das Recht am eigenen Bild und am eigenen Wort, der Schutz des Namens und der Ehre sowie die sexuelle Selbstbestimmung. Ein besonders prominentes und folgenreiches Beispiel bildet insofern das Volkszählungsurteil mit der Schöpfung eines „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“, das dem Datenschutz eine grundrechtliche Basis verleiht. Es illustriert im Übrigen eindringlich, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein besonders flexibles Instrument fungiert, neuen Gefährdungsquellen grundrechtlicher Freiheit zu begegnen.



137





Es rundet diesen Aspekt der Extensivierung ab, wenn auch die Garantien der anderen Grundrechte prinzipiell entwicklungsoffen gedeutet und vor allem der jeweilige Schutzbereich zumeist weit und ohne vorschnelle Reduktion auf bestimmte Gewährleistungsgehalte gelesen wird. So fällt etwa die Pornographie nicht von vornherein aus der Kunstfreiheit heraus; das Mietrecht kann verfassungsrechtlich als Form des Eigentums gelten; selbst evident törichte oder rein polemische Aussagen werden von der Meinungsfreiheit geschützt; auch die Rumpf- oder Patchworkfamilie fällt unter den Familienbegriff – um nur einige wenige Beispiele für diese Form offener Grundrechtsinterpretation zu nennen, die sich freilich nur auf die Weite des Schutzbereiches bezieht und über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Einschränkungen und damit für die letztlich garantierte „Nettofreiheit“ noch nichts Endgültiges aussagt.



138





Eine Extensivierung anderer Art bedeutete die Aufgabe einer aus der konstitutionellen Epoche übernommenen und lange ungebrochen fortgesetzten Judikatur zu den früher „besondere Gewaltverhältnisse“ genannten, heute häufig als „Sonderstatusverhältnisse“ apostrophierten staatsnahen Konstellationen (Schulen, Strafanstalten, Beamtenverhältnisse), in denen man die Geltung der Grundrechte als ausgeschlossen betrachtete. Solche grundrechtsexemten Sphären beseitigte der Strafgefangenen-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Unmittelbare Konsequenz dieser Nicht-Exklusionsmöglichkeit war die später mit Hilfe der Wesentlichkeitsdoktrin (vgl. oben,

Rn. 123

) auch in anderen Bereichen forcierte Geltung des Gesetzesvorbehalts (etwa für die Ordnung des Strafvollzugs oder die Gestaltung der Schulpläne).






b) Intensivierung



139





Mit der weiten Interpretation der grundrechtlichen Tatbestände sowie der Auffangmöglichkeit durch Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) geraten zwar alle denkbaren Freiheitsbetätigungen in den Einzugsbereich grundrechtlichen Schutzes. Über die verfassungsrechtliche Rechtfertigung staatlicher Eingriffe, also von deren Zulässigkeit, ist damit allerdings noch nichts Endgültiges ausgesagt. Denn darüber entscheidet erst die folgende Prüfung, ob der Eingriff in die grundrechtliche Freiheitssphäre verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, also mit den formellen und materiellen Schranken der Verfassung in Einklang steht. Für die hohe Intensität, mit der die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs kontrolliert wird, spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. oben,

Rn. 130ff.

) eine herausragende Rolle, weil er mit seinen drei Prüfstufen alle Grundrechtseingriffe (sei es durch den Normgeber, sei es durch die administrative oder judikative Einzelentscheidung) unter einen erhöhten Legitimationsdruck stellt und insbesondere „den zur Grundrechtseinschränkung ermächtigten Gesetzgeber nochmals an das eingeschränkte Grundrecht“ zurückbindet. Freilich lauern hier insbesondere bei der Abwägung konkurrierender Rechtsgüter auf der dritten Stufe auch bestimmte Gefahren einer zu weitgehenden gerichtlichen Kontrolle legislativer oder exekutiver Handlungsmacht.






c) Pluralisierung



140





Der wichtigste und in seinen Konkretisierungen sicher noch nicht abgeschlossene Änderungsprozess betrifft den Wandel der Grundrechtsfunktionen oder -dimensionen, der als bedeutsamste Form eines Verfassungswandels (dazu oben,

Rn. 47

) unter dem Grundgesetz gelten darf und gar als „spektakulärste Neuerung des deutschen Staatsrechts nach 1945“ bewertet worden ist. Diese neuen Dimensionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl über den Staatsbezug als auch über die Abwehrstoßrichtung hinausgehen. Man kann darunter all jene Fallkonstellationen fassen, in denen Grundrechte nicht als liberale Abwehrrechte des Einzelnen gegen die Staatsgewalt mobilisiert werden, sondern sich auf andere Art und Weise realisieren: in Dritt- und Ausstrahlungswirkung, als Organisations- und Verfahrensgarantien, als Leistungs- und Teilhabegehalte, als Schutzpflichten und Einrichtungsgarantien. So hat man etwa, um ein Beispiel zu nennen, Grundrechte bei der Gestaltung eines staatlichen Zwangsversteigerungsverfahrens dahingehend zur Geltung gebracht, dass der Rechtspfleger den Eigentümer auf ein Missverhältnis zwischen Gebot und Wert des Grundstücks eigens hinzuweisen habe. Es treten also im Sinne eines „funktionalen Pluralismus“ zu der zentralen Funktion der Grundrechte als negative Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat andere und weitere „Bedeutungsschichten“ hinzu. Sie werden, nachdem das Bundesverfassungsgericht lange Zeit die missverständliche Formel von der Wertordnung bemüht hatte, heute zumeist als „objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte“ gebündelt. Zwei Aspekte aus diesem vielschichtigen Erscheinungsbild verdienen besondere Hervorhebung: die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte (dazu aa) und die Konzeption grundrechtlicher Schutzpflichten (bb).

 






aa) Ausstrahlungswirkung



141





Den Gedanken der Ausstrahlungswirkung hat das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil in großer Grundsätzlichkeit und Allgemeinheit dahingehend formuliert, dass das Wertsystem des Grundgesetzes „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten ; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihnen Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden“. Danach wirken die Grundrechte also auf die gesamte einfache Rechtsordnung prägend und interpretationsleitend ein. Die grundrechtskonforme und die grundrechtsorientierte Auslegung als Konkretisierungsformen der verfassungskonformen und verfassungsorientierten Auslegung (dazu oben,

Rn. 89f.

) bilden die unmittelbare Konsequenz dieses Ansatzes. Die Wirkungskraft der Grundrechte geht somit über das Verhältnis Staat-Bürger hinaus und erfasst tendenziell auch die privatrechtlichen Verhältnisse und deren gerichtliche Behandlung. Der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung gemäß sollen die Grundrechte im Privatrecht insbesondere über die Generalklauseln und sonstigen wertungsoffenen Zentralbegriffe zur Geltung kommen. Die Etablierung der Verfassung als „oberste Bezugsebene der Teilrechtsgebiete“ bereitet der vermeintlichen Autonomie von Fachrechtsordnungen mit ihren festgefügten dogmatischen Traditionsbeständen ebenso ein Ende wie der verfassungsabstinenten Judikatur der Fachgerichte. Das kann zu Friktionen und Rezeptionsschwierigkeiten führen. So hat die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts etwa im Bereich des Mietrechts oder des Bürgschaftsrechts harsche, wenn auch letztlich folgenlose Reaktionen nicht nur aus dem Kreis der Privatrechtler provoziert. Zentrales Charakteristikum der Ausstrahlungswirkung ist also die umfassende Grundrechtsprägung der Rechtsordnung.






bb) Schutzpflichten



142





Bei den grundrechtlichen Schutzpflichten geht es weniger um die Ausstrahlung auf die gesamte Rechtsordnung als eine grundrechtsspezifische Bewirkung staatlicher Handlungspflichten. Doch handelt es sich dabei um einen mindestens ebenso bemerkenswerten wie tiefgreifenden Vorgang. Denn ihrem dominanten Funktionsmodus zufolge wehren Grundrechte (unzulässige) staatliche Eingriffe kraft eines Unterlassungsanspruches ab. In gerader Umkehr dieser Wirkungsweise sinnt der Schutzpflichtgedanke dem Staat nunmehr an, aktiv zugunsten der Grundrechte tätig zu werden, sich einer vielzitierten Wendung gemäß „schützend und fördernd“ vor sie zu stellen. Vom Gefährder der Grundrechte mutiert der Staat zu ihrem Beschützer, wird in seinem Handeln nicht zurückgedrängt, sondern aktiv gefordert. Denn er hat der Gefahr, die den grundrechtlichen Schutzgütern Privater durch „Übergriffe“ anderer Privatpersonen erwächst, durch geeignete Maßnahmen zu begegnen. Deutlich ausgesprochen und systematisch entfaltet wurde das (zu Recht als „juristischer Paukenschlag“ eingestufte) Schutzpflichtenargument in der (ersten) Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch. Dem folgte eine mittlerweile schon fast kanonisierte Sequenz weiterer Judikate, bei denen es nicht selten um die Abwehr von Schäden für die körperliche Unversehrtheit der Bürger durch umweltbelastende Maßnahmen oder gefährliche Techniken ging. Hier wie auch beim tragischen Fall des entführten (und später ermordeten) Arbeitgeberpräsidenten Schleyer im Jahre 1977 zeigte sich allerdings deutlich die Besonderheit der rechtsdogmatischen Struktur grundrechtlicher Schutzpflichten. Anders als bei der abwehrrechtlichen Situation, wo das gebotene staatliche Handeln schlicht und einfach in der Unterlassung des unzulässigen Eingriffs besteht, wird den staatlichen Organen bei der Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Schutzpflichten ein „weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich“ zugestanden. Zumeist lässt sich nur das „Ob“, nicht aber das „Wie“ einer Schutzpflicht aus den Grundrechten deduzieren. Auch bieten die Schutzpflichten allein noch keinen Eingriffstitel gegenüber den „grundrechtsgefährdenden“ Privaten (also etwa den Betreibern emittierender Anlagen), sondern sind auf gesetzliche Mediatisierung und Konkretisierung angewiesen – wie etwa seit jeher in Gestalt der Strafgesetze. Das zeigt zugleich, dass die Schutzpflicht des Staates für seine Bürger selbstverständlich auf einer langen ideengeschichtlichen und verfassungshistorischen Tradition beruht und insofern nichts Neues ist; neu ist hingegen, dass die alte „Staatsaufgabe Sicherheit“ nunmehr (auch) als Grundrechtsfrage thematisiert und ihre Erfüllung im Namen der Grundrechte eingefordert werden kann. Ob die Schutzpflichtendogmatik die älteren Konzepte der Ausstrahlungs- und Drittwirkung letztlich obsolet machen wird, ist Gegenstand anhaltender wissenschaftlicher Diskussion.



§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland

 › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 6. Menschenwürde






6. Menschenwürde



143





Eine Darstellung wesentlicher Grundzüge der deutschen Verfassungsordnung ohne die in Art. 1 Abs. 1 GG an ihre Spitze gestellte Garantie der Menschenwürde wäre nicht nur unvollständig, sondern würde die vielleicht gewichtigste Regelung übergehen – hat das Bundesverfassungsgericht sie doch wiederholt als obersten Wert und tragendes Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes bezeichnet und wurde ihr vor dem Hintergrund ihrer Genese (vgl. oben,

Rn. 9

) nicht von ungefähr „das volle Gewicht einer normativen Grundlegung dieses geschichtlich-konkreten Gemeinwesens“ beigemessen, ja in ihr der „Sinn bundesrepublikanischer Staatlichkeit“ lokalisiert.



144





Dieser Fundamentalcharakter ist nicht lediglich im Sinne einer bloß feierlichen Bekundung oder Proklamation zu verstehen. Vielmehr handelt es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um eine alle Staatsgewalten bindende Norm des objektiven Verfassungsrechts, deren hoher sachlicher Bedeutung ein besonderer normativer Rang korrespondiert. Er kommt zum einen darin zum Ausdruck, dass die Garantie der Menschenwürde in den Einzugsbereich der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG (vgl. oben,

Rn. 28

) fällt und daher Maßnahmen, die als Verletzung der Menschenwürde einzustufen sind, auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zugelassen werden können. Zum anderen handelt es sich bei der „Unantastbarkeit“ um eine absolute Garantie, was bedeutet, dass in jeder Antastung der Menschenwürde automatisch ein Verfassungsverstoß liegt. Es greift also der von den Freiheitsgrundrechten bekannte Mechanismus nicht ein, demzufolge ein Eingriff in ein Grundrecht nicht per se eine Verletzung desselben darstellt, sondern verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Die Menschenwürde hingegen ist einer Güterabwägung unzugänglich und insofern nicht relativierbar. Der normative Höchstrang in Verbindung mit dem Pathos des Würdebegriffs selbst lässt Art. 1 Abs. 1 GG wie ein Absolutum in einer zutiefst relativistischen Welt erscheinen, wie einen zivilreligiösen Anker im Meer der Beliebigkeit.



145





Versuche, an dieser Absolutheit zu partizipieren, sind im gesellschaftlichen wie verfassungspolitischen Diskurs unübersehbar, wenn nicht inflationär. Oft wird die Menschenwürde als viel zu „kleine Münze“ gehandelt. Auch bei den Gerichten lassen sich mittlerweile Tendenzen einer immer stärkeren Strapazierung der Menschenwürdegarantie beobachten. Vorbei sind die Zeiten, in denen man sie – wie das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung – vornehmlich als Schutz vor „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“ begriff. Heute formuliert das Gericht mit Entschiedenheit, dass Art. 1 Abs. 1 GG darüber hinausgehe und in umfassenderer Weise die Subjektstellung und Autonomie der Person gewährleiste. Da dies aber auch durch andere Freiheits- und Gleichheitsrechte geschieht, werden die Grenzen zwischen diesen und der absoluten Menschenwürdegarantie fließend. Als eher pauschal und wenig trennscharf muss man zudem jene weitgehenden Formulierungen bezeichnen, denen zufolge die Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“ und sämtliche Grundrechte als „Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde“ angesprochen werden. Die Literatur tut das Ihre zur Beförderung dieses Expansions- und Erosionsprozesses, wenn sie manchen, vielen oder gleich allen Grundrechten einen Menschenwürde-Kern attestiert oder ein vermeintliches „Menschenbild“ des Grundgesetzes bis zur Ununterscheidbarkeit mit der Menschenwürde verschweißt. Verkoppelungen ähnlicher Art nimmt das Bundesverfassungsgericht in zunehmendem Maße in der Weise vor, dass es Art. 1 Abs. 1 GG an andere Grundgesetzbestimmungen „anseilt“ und mit diesen zu neuen Normen verschmelzen lässt. Die Kreation des aus „Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG“ hergeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts (vgl. oben,

Rn. 136

) ist ein prominentes, bei weitem aber nicht das einzige Beispiel. Das dogmatisch nicht befriedigend zu lösende Problem dieser Normamalgamierungen besteht darin, dass sich der Anteil der unantastbaren Menschenwürde nicht präzise bestimmen lässt und sich so deren Absolutheit zugunsten einer von den anderen Grundrechten her bekannten, fallbezogenen Abwägungsprozedur verflüchtigt.



146








Andere Tendenzen der Extensivierung und Überdehnung der Menschenwürdegarantie gehen über diese eher verfassungsdogmatischen Aspekte noch weit hinaus. Insbesondere in der seit Jahren mit ungewohnter Heftigkeit geführten bioethischen Debatte wird die Menschenwürde gern als Allzweckwaffe gehandhabt, mit der Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder therapeutisches Klonen in vermeintlich eindeutiger Weise mit dem Bannstrahl eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG belegt werden. In der Sache dient die Menschenwürde hier als Einfallstor für bestimmte Partikularethiken und religiöse Grundüberzeugungen, die als solche Verfassungsrang nicht für sich beanspruchen können.



147








Gewissermaßen noch eine Stufe höher angesiedelt wird die Norm, wenn man in ihr die „Gattungswürde“ oder sinngleich die Würde des Menschen als Gattungswesen verankert sieht. Nicht mehr um den einzelnen Menschen, sondern die „Menschheit“ insgesamt soll es nun gehen. Mit der Übertragung dieser im ethisch-philosophischen Diskurs schon seit längerem verbreiteten Sichtweise auf das Verfassungsrecht hätte sich bei der Menschenwürdegarantie endgültig ihre Ablösung von einem konkreten personalen Träger vollzogen. Doch diese Wendung ins Kollektive und Überpersonale steht mit der Entstehungsgeschichte wie dem zentralen Zweck der Menschenwürde nicht in Einklang: danach bietet Art. 1 Abs. 1 GG konkreten Schutz für den konkreten Menschen, nicht für die biologische Gattung.

 



148





Gegenüber den hier nur stichwortartig genannten, im Grunde gegenläufigen Aufblähungs- und Überhöhungstendenzen erscheint es vorzugswürdig, die Menschenwürde weder dem Prozess einer „sinnverflachenden Inhaltsentleerung“ preiszugeben noch als „Auffangproblemlöser“ für hochkomplexe und epochale Entwicklungstendenzen nutzen zu wollen (und dabei doch nur den eigenen subjektiven Wer