Handbuch Ius Publicum Europaeum

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

c) Ausübung durch besondere Organe (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG): Das Modell demokratischer Legitimation

114

Da nur die Abgeordneten direkt vom Volk gewählt werden, nicht jedoch die Amtswalter von Exekutive und Judikative, stellt sich die Frage nach der näheren Ausgestaltung des gewaltenteiligen Zurechnungs- und Verantwortungszusammenhanges zwischen jenen Staatsorganen und dem Volk. Eine umfassende und tragfähige Antwort hierauf sucht die vom Bundesverfassungsgericht vertretene[382] und in der Literatur systematisierte Lehre von der demokratischen Legitimation zu geben.[383] Danach sind bausteinartig mehrere Komponenten (funktionell-institutionelle, personell-organisatorische, sachlich-inhaltliche) zu unterscheiden, die insgesamt und in ihrem Zusammenwirken ein hinlängliches „Legitimationsniveau“ bei der Ausübung von Staatsgewalt sicherzustellen haben.[384] Während die funktionell-institutionelle Komponente im Grunde nur festhält, dass in der Verfassung selbst die Funktionen bzw. Institutionen von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung vorgesehen sind, und die sachlich-inhaltliche Komponente auf die inhaltliche Steuerung des Staatshandelns insbesondere durch das förmliche Gesetz sowie (jedenfalls für die Exekutive) die Möglichkeiten hierarchischer Aufsicht setzt, hat sich insbesondere die personell-organisatorische Komponente als kritische und umstrittene Größe erwiesen, weil das Bundesverfassungsgericht bei der individuellen Einsetzung der Amtswalter eine letztlich auf das Volk rückführbare ununterbrochene Legitimationskette von Berufungsakten verlangt. Hieran hat das Gericht etwa das schleswig-holsteinische Mitbestimmungsgesetz für den öffentlichen Dienst scheitern lassen[385] und dafür viel Kritik geerntet.[386] Ganz generell wird diese strenge und ausnahmslos formulierte Anforderung als zu starr und schematisch sowie partiell der komplexen verwaltungsrechtlichen Realität unangemessen empfunden. Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch in seiner jüngsten einschlägigen Entscheidung aus dem Jahre 2002 im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung eine flexiblere Position eingenommen und eine Ersetzung oder doch Modifikation jenes strikten Modus durch andere Legitimationsformen wie die Einbeziehung Betroffener akzeptiert.[387] Damit ergibt sich die Möglichkeit, die konstruktiv-rationalen Elemente des heuristisch wertvollen Konzepts demokratischer Legitimation festzuhalten, ohne die notwendige Flexibilität für die Beurteilung heterogener Fallgestaltungen preiszugeben.

115

Das Modell demokratischer Legitimation erstreckt sich auch auf den Bereich der Rechtsprechung und wird folgenreich vor allem für die Richterbestellung.[388] Da wegen der verfassungsrechtlich garantierten sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter eine Steuerung qua Aufsicht oder kraft Weisung nicht in Betracht kommt, trägt die in Art. 97 Abs. 1 GG nochmals unterstrichene Bindung des Richters an das Gesetz umso stärkere Last, ohne dass damit freilich Erscheinungsformen von Richterrecht und richterlicher Rechtsfortbildung (intra, praeter oder auch contra legem) ausgeschlossen wären. Neueren Vorschlägen zufolge sollten zur Stärkung der sachlich-inhaltlichen Legitimation neben der Mobilisierung der Öffentlichkeit und dem Institut der Staatshaftung vor allem die Instrumente der Dienstaufsicht und Disziplinargewalt herangezogen werden.[389]

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 4. Rechtsstaatsprinzip

4. Rechtsstaatsprinzip

116

Das Substantiv „Rechtsstaat“ oder das Adjektiv „rechtsstaatlich“ sucht man in Art. 20 GG vergebens, doch sind in Art. 20 Abs. 2, 3 GG wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips (wie der Grundsatz der Gewaltenteilung oder der Vorrang des Gesetzes) ausdrücklich normiert. Außerdem spricht die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG explizit vom Rechtsstaat und lässt so (wegen des wechselseitigen „Informationsverhältnisses“ zwischen den beiden Normen) indirekt erkennen, dass das Grundgesetz sich seinerseits als eine dem Rechtsstaatsgedanken verpflichtete Ordnung versteht und von daher die damit traditionell verbundenen Normbestände verbürgt. In die gleiche Richtung ist die Erwähnung der rechtsstaatlichen Grundsätze in Art. 23 Abs. 1 GG zu deuten. Darüber, was zu den Elementen des Rechtsstaates zählt, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Groß ist die Gefahr unkontrollierter Aufblähung. Es gibt zu denken, dass in einer neueren Untersuchung nicht weniger als 141 rechtsstaatliche Elemente ausfindig gemacht und zu 17 Kernbestandteilen verdichtet wurden.[390] Hier droht rechtsstaatliche Wohltat zur inflationären Plage zu werden. Andererseits hat man bestritten, dass ein über die einzelnen konkreten Gewährleistungen im Grundgesetz hinausgehendes normativ folgenreiches Rechtsstaatsprinzip überhaupt existiert,[391] ohne dass sich diese Auffassung hat durchsetzen können.[392] Doch ist zuzugeben, dass das Rechtsstaatsprinzip seiner Vielgestaltigkeit wegen durchaus wie ein „begriffliches Dach“[393] wirkt, unter dem eine Mehrzahl rechtlicher Garantien zusammengefasst werden. Im Folgenden werden nur die wesentlichen und weitgehend unumstrittenen Elemente aufgeführt.[394]

a) Gewaltenteilung

117

In Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG sind mit Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung bestimmte Funktionen benannt und zugleich „besonderen“ Organen zugeordnet.[395] Besonders meint hier nicht exzeptionell, sondern gesondert, voneinander getrennt. Aus der Funktionentrennung folgt die Organtrennung. Im Grundsatz heißt das: Parlamente sollen nicht über Einzelfälle entscheiden, Richter keine Gesetze erlassen, Verwaltungsbeamte keine Urteile fällen.

118

Weitgehend ausgehebelt wäre die vom Bundesverfassungsgericht als „tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes“[396] apostrophierte Gewaltenteilung,[397] wenn verschiedene Organe mit den gleichen Personen (Amtswaltern) besetzt werden könnten. Dem beugen die so genannten Inkompatibilitäten vor.[398] Besonders strikt fällt insofern die Trennung der Judikative von den beiden anderen Gewalten aus, weniger konsequent hingegen im Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive, wie etwa die fehlende Inkompatibilität zwischen der Mitgliedschaft in Bundesregierung und Bundestag zeigt. Auch der Erlass von Verordnungen durch die Ministerien gemäß Art. 80 GG (vgl. oben, Rn. 21) stellt eine Durchbrechung dar. Ohnehin ist das Gewaltenteilungsprinzip „nirgends rein verwirklicht“[399].

119

Der unverlierbare Sinn der Gewaltenteilung besteht im Schutz vor jeder Form totaler Machtkonzentration[400] durch Errichtung eines Systems von „checks and balances“, von Gegengewalten und Kontrollmöglichkeiten, wie es namentlich von den amerikanischen Verfassungsvätern realisiert wurde.[401] Auch in Montesquieus Satz „Le pouvoir arrête le pouvoir“ gewinnt diese Idee plastischen Ausdruck.[402] Freilich erwuchs bei ihm der Gedanke einer wirklichen Teilung der Gewalten noch aus ihrer Zuordnung zu verschiedenen sozialen Kräften und eigenständigen politischen Größen.[403] Dieser Bezugspunkt ist heute entfallen, da die gesamte Staatsgewalt einheitlich auf dem Willen des Volkes beruht.[404] Auch darf man angesichts der – Gleichrangigkeit insinuierenden – Rede von der Gewaltenteilung nicht die „Präponderanz des Bundestages“[405] als legislativer Leitgewalt und steuernder Größe gegenüber Exekutive und Judikative verkennen.

120

Ein zweiter Punkt tritt hinzu. Mit der Gewaltenteilung wird in hochkomplexen modernen Gesellschaften nicht eine ursprünglich effizientere und wirkungsmächtigere Staatsorganisation gleichsam künstlich gebrochen und in ihrer Wirksamkeit abgeschwächt. Vielmehr hat die Gliederung der Gewalten einen Handlungsfähigkeit erst verleihenden, effizienzsteigernden, den universalen Gedanken der Arbeitsteilung auf die Staatsapparatur übertragenden Effekt. Es geht also nicht nur um kunstvolle Verhinderung eines univoken Machtapparats, sondern um eine sinnvolle Zuordnung der staatlichen Funktionen auf bestimmte Organe.[406] Dieser gleichsam positive Aspekt bezeichnet den wesentlichen Sinngehalt der Gewaltenteilung im demokratischen Verfassungsstaat. Auf ihn lassen sich auch Konzepte einer funktional differenzierten Zuordnung von Kompetenzen[407] auf bestimmte Träger zurückführen.

b) Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes

121

Mit der Bindung der Verwaltung an das Gesetz markiert Art. 20 Abs. 3 GG gewissermaßen den harten historischen Kern des Rechtsstaatsprinzips.[408] Der hier etablierte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zerfällt dabei in zwei Unterprinzipien, den Vorrang und den Vorbehalt des Gesetzes.[409]

122

Der Vorrang des Gesetzes resultiert letztlich aus dem Stufenbau der Rechtsordnung und besagt, dass es den anderen Rechtsquellen (die Verfassung ausgenommen) vorgeht. Die Verwaltung muss also die Gesetze beachten, darf nicht von ihnen abweichen (Abweichungsverbot) oder sie ignorieren (Anwendungsgebot). Es gilt der Satz: keine Maßnahme gegen das Gesetz.

123

Vom weitergehenden „Vorbehalt“ des Gesetzes spricht man, weil die Verwaltungstätigkeit hier unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Ermächtigung steht. Es gilt der Satz: keine Maßnahme ohne das Gesetz. Schon gemäß der staatsrechtlichen Doktrin des 19. Jahrhunderts waren demgemäß Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Bürgers nur durch Gesetz (oder aufgrund eines Gesetzes) zulässig, das wiederum der Zustimmung des Parlaments bedurfte. Dieses wichtigste Erbstück der konstitutionellen Epoche hat in der jüngeren verfassungsrechtlichen Entwicklung insofern eine Erweiterung erfahren, als nun auch die Regelung „wesentlicher“ Fragen jenseits eines Eingriffssachverhaltes darunter fällt. Die vom Bundesverfassungsgericht kreierte und gleichermaßen im Demokratieprinzip zu verankernde so genannte „Wesentlichkeitslehre“ (zuweilen auch „Wesentlichkeitstheorie“ oder „Wesentlichkeitsdoktrin“) hat eine nicht immer leicht zu überschauende Kasuistik hervorgebracht.[410] Eindeutig überwunden ist allerdings die Ansicht, wonach der Vorbehalt in den so genannten „besonderen Gewaltverhältnissen“ (also etwa in Gefängnissen oder Schulen) nicht zum Tragen komme.[411] Der weitreichende und eigentlich nur die Subventionsverwaltung sowie bestimmte Organisationsfragen ausklammernde Vorbehalt schließt autonome exekutive Handlungsermächtigungen aus, wie sie beispielsweise in Frankreich[412] üblich sind.

 

124

Im Unterschied zum Vorrang des Gesetzes ist der Vorbehalt des Gesetzes nicht explizit in Art. 20 GG geregelt. Doch setzt diese Bestimmung den überkommenen „klassischen“ Gesetzesvorbehalt voraus und bietet so ein weiteres Beispiel dafür, dass der Normgeber das für selbstverständlich Gehaltene oft nicht thematisiert. Zudem ist neben diesem Traditionsaspekt noch auf die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte sowie das Demokratieprinzip in Gestalt des Parlamentsvorbehalts zu verweisen. Im Ergebnis ist die Geltung des Vorbehalts des Gesetzes als Teil des Rechtsstaatsprinzips unstreitig.[413]

c) Rechtsschutz und Justizgrundrechte

125

Zu den Traditionsbeständen des Rechtsstaatsgedankens zählt des Weiteren die Konfliktentscheidung durch einen unbeteiligten Dritten und somit die Möglichkeit, um Rechtsschutz vor Gericht nachzusuchen. Rechtsstaat meint immer auch Gerichtsstaat, der nicht als Rechtswegestaat denunziert werden sollte. Ein allgemeiner rechtsstaatlicher Justizgewährleistungsanspruch, der sich auf Klagen von Bürgern untereinander bezieht, ergibt sich unter diesen Prämissen zwingend aus dem Gewaltmonopol des Staates und dem Verbot der Selbsthilfe für die Bürger.[414] Für den Bereich der öffentlichen Gewalt wird eine solche Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Abs. 4 GG ausdrücklich verbürgt.[415] Die zentrale Bedeutung dieses gerade in der Entstehungszeit des Grundgesetzes vielgepriesenen und vom Bundesverfassungsgericht im Anschluss an von Mangoldt/Klein als „Grundsatznorm für die gesamte Rechtsordnung“[416] bezeichneten Artikels besteht darin, dass jeder Bürger gegen jeden (auch noch so marginalen) Eingriff in seine subjektive Rechtsstellung durch die öffentliche Gewalt[417] vor Gericht klagen kann und dem Staat dann nicht als Untertan, sondern als gleichberechtigte Prozesspartei gegenübertritt.[418] Gewaltenteilungstechnisch formuliert: Bei Rechtsverletzungen durch den Staat in Gestalt der Verwaltung wird Schutz und Kontrolle durch den Staat in Gestalt der Gerichte gewährt. Des Näheren unterstreichen die vom Bundesverfassungsgericht beharrlich eingeforderten Gebote des lückenlosen und des effektiven Rechtsschutzes die herausragende Bedeutung dieser Verfassungsgarantie,[419] deren Stellenwert und praktische Relevanz in Deutschland weitaus größer ist als in anderen Staaten der Europäischen Union.[420] Eine unentbehrliche Voraussetzung für die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes bildet die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Richter, wie sie insbesondere in Art. 97 GG garantiert wird.

126

Die so genannten Justizgrundrechte dienen in erster Linie dazu, ein rechtsstaatlich faires und einwandfreies Verfahren zu gewährleisten. Das geschieht ganz allgemein durch das Verbot von Ausnahmegerichten und den Anspruch auf einen gesetzlichen Richter (Art. 101 GG) sowie das in der Praxis überragend wichtige Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Die Rechtsgarantien bei der Freiheitsentziehung (Art. 104 GG) haben ihren Schwerpunkt im Bereich des Strafrechts, für das Art. 103 Abs. 2 GG den fundamentalen Grundsatz „nulla poena sine lege“ traditionsgesättigt im Sinne einer vierfachen Garantie ausgestaltet (lex scripta: Ausschluss von Gewohnheitsrecht; lex stricta: Analogieverbot; lex certa: Bestimmtheitsgebot; lex praevia: Rückwirkungsverbot).

d) Rechtssicherheit (Bestimmtheit, Vertrauensschutz)

127

Der Rechtsstaatsgedanke zielt in einem ganz fundamentalen Sinne auch und vor allem auf Rechtssicherheit. Diese wird, obwohl nicht ausdrücklich normiert, zutreffend als „wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips“[421] eingestuft. Denn die Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion des Rechts kann nur erfüllt werden, wenn die Rechtsnormen hinlänglich bestimmt (aa) und wenn sie verlässlich in der Weise sind, dass auf ihren Bestand vertraut werden kann (bb).

128

aa) Rechtsstaatliche Normen müssen in dem Sinne klar und bestimmt[422] sein, dass der Bürger sein Verhalten darauf einstellen und seine Handlungen und Dispositionen verlässlich an ihnen ausrichten kann. Er muss „seine“ Rechtslage, also seine Rechte und Pflichten erkennen können. Aber auch die Verwaltung bedarf genügend bestimmter Normen, um von ihren Kompetenzen angemessenen Gebrauch zu machen; die Gerichte schließlich müssen anhand dieser Normen das Verhalten der Verwaltung kontrollieren können. Freilich hängt der zu verlangende Präzisierungsgrad stark vom jeweiligen Regelungsgegenstand ab.[423] Daher sind so genannte unbestimmte Rechtsbegriffe (wie gute Sitten, öffentliches Interesse, Wohl der Allgemeinheit, wichtiger Grund etc.) ebenso wenig ausgeschlossen wie Ermessensspielräume.[424]

129

bb) Der Gedanke der Rechtssicherheit fordert über die hinreichend präzise Bestimmung des Norminhalts hinaus auch, dass die Rechtsnormen und Rechtsakte, auf die der Bürger sein Verhalten abgestimmt und eingerichtet hat, bis zu ihrer ordnungsgemäßen Aufhebung Bestand haben. Eine solche Kontinuitätsgewähr[425] impliziert keinen legislativen Immobilismus, der im regelungsintensiven Interventionsstaat ohnehin Illusion wäre. Vielmehr geht es um Vertrauensschutz[426] als Stabilisierung der Erwartungen des Einzelnen oder genauer: um Schutz vor der Enttäuschung des Vertrauens, aufgrund dessen der Einzelne Handlungen getätigt und Entscheidungen getroffen hat. Greifbare Konsequenzen hat der Vertrauensschutzgedanke also vor allem bei der Problematik der Rückwirkung von Gesetzen. Hier können angesichts einer unübersichtlichen Kasuistik nur zwei allgemeine Grundsätze in Gestalt von Regel/Ausnahmeverhältnissen benannt werden.[427] Danach ist eine (echte bzw. retroaktive) Rückwirkung, mit der Gesetze nachteilig in einen in der Vergangenheit liegenden und schon abgeschlossenen Lebenssachverhalt eingreifen, prinzipiell unzulässig;[428] es gibt allerdings einige eng begrenzte Ausnahmen.[429] Umgekehrt ist eine unechte (retrospektive) Rückwirkung, bei der auf Sachverhalte Zugriff genommen wird, die gegenwärtig noch fortdauern, prinzipiell zulässig,[430] doch gibt es auch hier wiederum Ausnahmefälle, die zur Verfassungswidrigkeit führen.[431]

e) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

130

Der nicht selten auch als Übermaßverbot bezeichnete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[432] ist heute von überragender Bedeutung für das Verfassungsrecht. Obwohl normtextlich im Grundgesetz nicht auffindbar und historisch nur auf dem engeren Feld des Polizeirechts verankert, hat er sich „rechtsprechungspraktisch und verfassungstheoretisch zu einer zentralen rechtsstaatlichen Maxime entwickelt“[433]. Bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle freiheitseinschränkender Gesetze bildet er den zentralen und oft entscheidenden Prüfstein. Mit ihm tritt neben die formelle Schutzfunktion des Gesetzesvorbehalts eine materielle Schranke, die dem grundrechtsbeschränkenden Zugriff des Gesetzgebers ihrerseits Schranken setzt[434] und somit eine vollkommene Aushöhlung der Grundrechte durch extensiven und seinerseits nicht mehr limitierten Gebrauch des Gesetzesvorbehalts verhindert. In der Erweiterung des bloß formell verstandenen Gesetzesvorbehalts um die materielle Dimension einer verhältnismäßigen Regelung besteht der entscheidende Fortschritt gegenüber der Weimarer Reichsverfassung.[435] Die Intention der Beschränkung des grundrechtsbeschränkenden Gesetzgebers liegt unverkennbar schon der Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG zugrunde, die ihrerseits ein zentrales Argument für die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liefert. Doch hat dieser die Wesensgehaltgarantie praktisch marginalisiert, weil er kraft seiner feineren Dosierung und ausdifferenzierten Struktur nicht erst bei einer Beeinträchtigung des Wesensgehalts greift, sondern sich als eine weit vorher liegende Sicherungslinie erweist und den Rückgriff auf Art. 19 Abs. 2 GG regelmäßig erübrigt.[436]

131

Dieser (letztlich auf eine gewisse Rationalitätsverbürgung zielenden) differenzierten Struktur gemäß müssen staatliche Eingriffe in die Freiheitssphäre des Einzelnen auf die Erreichung eines legitimen Zwecks gerichtet sowie geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i.e.S. sein.[437] Geeignetheit bedeutet, dass das gewählte Mittel zur Zweckerreichung nicht von vornherein untauglich ist.[438] Die Erforderlichkeit verlangt im Sinne eines Interventionsminimums, dass es kein milderes Mittel gibt, welches bei zumindest annähernd gleicher Effektivität eine weniger intensive Grundrechtsbeeinträchtigung nach sich ziehen würde.[439] Die Verhältnismäßigkeit i.e.S. (auch: Angemessenheit, Zumutbarkeit) schließlich fordert eine adäquate Zweck-Mittel-Relation und zielt auf eine Abwägung zwischen der Schwere der grundrechtlichen Beeinträchtigung einerseits, dem Gewicht des mit der Maßnahme verfolgten öffentlichen Belangs andererseits:[440] Das Sprichwort, wonach man nicht „mit Kanonen auf Spatzen schießen“ soll, drückt diesen Gedanken plastisch aus. Es geht also um eine Güterabwägung, bei der letzten Endes auch subjektive Wertungen unvermeidlich eine Rolle spielen.

132

Die mit diesen wenigen Stichworten auch nicht annähernd erfasste überragende Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips resultiert nicht zuletzt daraus, dass – wie die erwähnten Beispiele schon andeuten – an diesem Maßstab nicht nur das Gesetz oder die allgemeine Norm, sondern auch die einzelne staatliche Maßnahme geprüft wird, so dass es in der Praxis der Verwaltung wie als Kontrollmaßstab der Gerichte ubiquitäre Verbreitung genießt.[441] Angesichts dessen mag es verwundern, dass über die grundgesetzliche Verankerung des Prinzips keine Einigkeit herrscht: teils wird es im Rechtsstaat, teils im Wesen der Grundrechte, vereinzelt im Gleichheitssatz verortet.[442] Das Bundesverfassungsgericht spricht ohne genauere Festlegung häufig ganz allgemein vom (verfassungsrechtlichen) „Grundsatz“[443]. Letztlich gibt es aber über den Verfassungsrang keinen Streit.

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 5. Grundrechte