Handbuch Ius Publicum Europaeum

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b) „Konstitutionalisierung“ der Gesamtrechtsordnung?



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Die letztlich immer etwas spektakuläre Nichtigerklärung eines parlamentarischen Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht bildet nicht den Regelfall. Für die alltägliche Praxis des Rechtslebens ist von erheblich größerer Bedeutung, dass die Bestimmungen der Verfassung – namentlich die Grundrechte – in einer so früher sicher nicht für möglich gehaltenen Weise die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Gerichte (mit)prägen. Hier sind drei Gesichtspunkte von Relevanz: die verfassungskonforme und die verfassungsorientierte Auslegung sowie die konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG.



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Der methodologische und vom Bundesverfassungsgericht wiederholt eingeschärfte Grundsatz verfassungskonformer Auslegung besagt im Kern, dass bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten einer Norm diejenige Variante zu wählen ist, die das Verdikt der Verfassungswidrigkeit vermeidet und die Norm auf diese Weise „erhält“. Er beruht substantiell auf einer Vermutung zugunsten der Verfassungsgemäßheit des Gesetzes (

favor legis

). Dem Gesetzgeber wird gleichsam unterstellt, er habe diejenige Auslegungsvariante gewollt, die mit der Verfassung vereinbar ist. Man bewirkt also mit Blick auf den Aussagegehalt des Grundgesetzes letztlich eine „verfassungsbedingte teleologische Reduktion der Gesetzesnorm“.



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Bei der verfassungsorientierten Auslegung geht es nicht um den Ausschluss bestimmter Interpretationsvarianten, sondern eher umgekehrt um die gleichsam „verfassungsfreundliche“ Auslegung von Rechtsnormen. Plastisch hat das Bundesverfassungsgericht von einer interpretationsleitenden Bedeutung der Verfassung gesprochen. Dem Stellenwert und dem Gewicht der Verfassungsrechtssätze im Allgemeinen und der Grundrechte im Besonderen soll auf diese Weise Rechnung getragen, ihr Wirkungsgrad erhöht werden. Die verfassungsorientierte Auslegung indiziert die umfassende Relevanzsteigerung des Grundgesetzes für die gesamte Rechtsordnung, auf die es ausstrahlt und deren Verständnis es beeinflusst. In der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte (dazu unten,

Rn. 141

) auf die Gesamtrechtsordnung, die von ihnen „Richtlinien und Impulse“ erfährt, findet die verfassungsorientierte Auslegung ihre intensivste Realisierung, ohne darauf beschränkt zu sein. Auch von den Rechtsgebieten her ist dieser Prozess nicht auf das Verwaltungsrecht beschränkt, obwohl gerade für dieses die grundrechtliche Durchdringung zu Recht als wesentlichster Zug der Nachkriegsentwicklung bezeichnet worden ist. Für diese dirigierende, stimulierende und orientierende Funktion lassen sich viele Beispiele benennen.



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Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG muss ein Gericht, das ein für seine Entscheidung relevantes (nachkonstitutionelles, förmliches) Gesetz für verfassungswidrig hält, dieses dem Bundesverfassungsgericht vorlegen (so genannte konkrete Normenkontrolle). Ob diese Norm zwingend aus dem Vorrang der Verfassung abgeleitet werden kann, mag durchaus zweifelhaft sein, nicht aber, dass sie diesen Vorrang stärkt. Denn hierdurch wird jedes Gericht zur Prüfung der Gesetze anhand des Grundgesetzes verpflichtet, wenn auch aus guten Gründen die Verwerfungsentscheidung beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert ist, um so die Höherrangigkeit der Verfassung nicht um den Preis zu erkaufen, dass jedes einzelne Gericht sich über den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers hinwegsetzt und dessen Autorität so letztlich untergräbt. Art. 100 Abs. 1 GG bezweckt also, paradox gesprochen, die Sicherung des Vorrangs der Verfassung durch die Gerichte, aber zugleich auch gegen sie.



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Der geschilderte umfassende Vorrang der Verfassung nebst ihrer Tiefenwirkung in die Rechtsordnung wird gerade in jüngerer Zeit oft als „Konstitutionalisierung“ bezeichnet. Doch führt diese Terminologie, bezogen auf die staatliche Verfassungsordnung, eher in die Irre, weil sie sich insofern inhaltlich mit dem deckt, was man gemeinhin als objektivrechtliche Gehalte der Grundrechte, insbesondere ihre Ausstrahlungswirkung im Sinne ihrer Einwirkung auf die gesamte Rechtsordnung bezeichnet (dazu unten,

Rn. 140ff.

). Es erscheint daher „nicht zweckmäßig, diese Neuschöpfung zu favorisieren, weil andere Kennzeichnungen schon zur Verfügung stehen und der Begriff Konstitutionalisierung seinen Schwerpunkt außerhalb des staatlichen Bereichs hat“.



§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland

 › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 2. Verfassungsprinzipien





2. Verfassungsprinzipien






a) Zur Bedeutung von Art. 20 Abs. 1–3 GG



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In Art. 20 Abs. 1–3 GG sind mit der Garantie von Republik, Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat und Rechtsstaat wesentliche und fundamentale Aussagen über die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland getroffen. In Verbindung mit den Garantien des Art. 1 GG handelt es sich um das „normative Kernstück der Verfassungsordnung“. Die zentrale Bedeutung des Art. 20 GG hat noch den weiteren Grund, dass die „Grundsätze“ dieser Norm gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich und damit einer Verfassungsänderung entzogen sind. Insofern kommt den Festlegungen in Art. 20 Abs. 1–3 GG durchaus höherer Rang zu als anderen Normen des Grundgesetzes.



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Die Terminologie, mit der die genannten Garantien umschrieben werden, zeichnet sich durch große Vielfalt aus. Man spricht von Staatsform, Staatszielen, Staatsstrukturbestimmungen, verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen und anderem mehr. Vorzugswürdig erscheint die Bezeichnung als Verfassungsprinzipien, weil dadurch der dynamische Charakter und das Unabgeschlossene, auf permanente Konkretisierung und dynamische Weiterentwicklung hin Angelegte deutlich erfasst wird.



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Wichtiger als die Terminologie ist freilich die Einsicht, dass die einzelnen Elemente erhebliche Differenzen in ihrem Konkretionsgrad und in ihrer normativen Prägekraft aufweisen. So sind Republik, Sozialstaat und Bundesstaat in Art. 20 GG nur in lapidarer Kürze (als Namensbestandteil, adjektivisch bzw. substantivisch) aufgeführt, während Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip bereits in der Norm selbst substantielle Festlegungen erfahren und weitere Konkretisierungen durch andere Verfassungsnormen hinzutreten. Im Folgenden seien lediglich Demokratie und Rechtsstaat etwas näher erläutert (vgl.

Rn. 104ff.

,

116ff.

), während die anderen Bausteine nur mit wenigen und unzureichenden Stichworten bedacht werden können (vgl.

Rn. 96ff.

).






b) Republik und Sozialstaat



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Mit der Festlegung auf die Republik ist eine Rückkehr zur Monarchie (gleich ob Wahl- oder Erbmonarchie, konstitutionell oder absolut) ebenso ausgeschlossen wie jede andere Bestellung des Staatsoberhauptes auf Lebenszeit. In letzter Zeit zunehmend zu registrierende Versuche, die Republik über diese formale Staatsformbestimmung hinaus mit materiellen Gehalten wie etwa der Garantie des Gemeinwohls oder dem Gedanken der Ämterordnung aufzuladen, sind verfehlt.



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Der Sozialstaat ist die Antwort des 20. auf die „soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts. Da er im Grundgesetz weder durch soziale Grundrechte noch durch präzisierende Normen zur Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung flankiert wird, sieht er sich weitestgehend auf nähere Ausgestaltung durch den Gesetzgeber verwiesen. Lediglich einige Grundelemente und Leitlinien wie die Unterstützung sozial Schwacher (Solidarität) sowie der Gedanke der Vor- und Fürsorge lassen sich dem Prinzip als solchem entnehmen, denen allerdings in vielfältiger Weise Rechnung getragen werden kann. Eine streng liberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist damit nicht automatisch ausgeschlossen. Auch gibt es keinen Bestandsschutz für einzelne Leistungen oder ganze Versorgungssysteme nach Art eines sozialen „Rückschrittsverbots“. Lediglich die Garantie eines (seiner Höhe nach wiederum von der ökonomischen Gesamtlage abhängigen) Existenzminimums ist verfassungsrechtlich verbürgt und wird aus dem Sozialstaatsprinzip i.V.m. der Menschenwürdegarantie abgeleitet. Die relativ geringe normative Steuerungskraft des Sozialstaatsprinzips darf allerdings nicht den Blick für den gewaltigen finanziellen Umfang und die Vielfalt der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und Gestaltungsaufgaben trüben.






c) Bundesstaat



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Die föderale Gliederung Deutschlands blickt auf eine lange Tradition zurück (vgl. oben,

Rn. 22

). Ihre Bedeutung für das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutschland kann kaum überschätzt werden. Das Charakteristische des Bundesstaates besteht darin, dass die im Grundgesetz als „Länder“ bezeichneten Gliedstaaten nach ganz herrschender Doktrin ihrerseits Staatsqualität aufweisen. Daraus leitet sich etwa ihre Verfassungsautonomie ab. Von der Möglichkeit zu eigener Verfassunggebung sowie der Etablierung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit können die Länder allerdings nur im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG („Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“) Gebrauch machen. Diese als Homogenitätsklausel bezeichnete Vorschrift zeigt die Grenzen der Eigenstaatlichkeit der Länder auf, die zudem weder Völkerrechtssubjekte sind noch über ein Sezessionsrecht verfügen; auch gibt es für sie, wie Art. 29 GG (Zulässigkeit der Neugliederung des Bundesgebietes) demonstriert, keine Bestandsgarantie.

 



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Neben der Anerkennung landsmannschaftlicher Verschiedenartigkeiten und gewachsener Bindungen besteht der wesentliche verfassungsrechtliche Effekt föderaler Gliederung in der Vervielfältigung von Entscheidungs- und Machtzentren und der damit verbundenen Dezentralisation. Plastisch spricht man insofern von „vertikaler Gewaltenteilung“. Die Vielfalt bewirkt wechselseitige Kontrolle, aber auch Konkurrenz und Wettbewerb und bietet so eine gewisse Grundlage für die Vorstellung eines „kompetitiven“ Föderalismus, wenngleich die entsprechende Programmatik noch recht unscharf zu sein und ein elaboriertes Konzept noch nicht vorzuliegen scheint.



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Entscheidend für das politische Gewicht der Länder sind die ihnen zustehenden Kompetenzen. Unentziehbar steht ihnen gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zunächst einmal die „grundsätzliche Mitwirkung“ bei der Gesetzgebung des Bundes zu. Wichtiger noch dürfte sein, dass den Ländern ein „Kern eigener Aufgaben als ‚Hausgut‘ unentziehbar“ verbleiben muss. Nach derzeitiger verfassungsrechtlicher Normlage gilt ein alle staatlichen Aufgaben erfassendes Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach eine Vermutung für die Länderzuständigkeit streitet, die Bundeszuständigkeit hingegen jeweils einer besonderen Regelung im Grundgesetz bedarf (vgl. Art. 30, 70, 83 GG). In der Verfassungswirklichkeit nehmen sich die Dinge freilich anders aus: der Bund dominiert aufgrund beständiger Erweiterung und extensiver Nutzung der Gesetzgebungskompetenzen auf der legislativen Ebene, während die Ausführung der Bundesgesetze ganz überwiegend den Ländern anvertraut ist. Deren Dominanz auf der Verwaltungsebene führt zur verbreiteten Charakterisierung des bundesrepublikanischen Modells als eines „Exekutivföderalismus“.



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Als Erscheinungsform dieses Exekutivföderalismus kann auch der seit den 1960er Jahren forcierte „kooperative Föderalismus“ (vgl. oben,

Rn. 56

) gelten. Die damit umschriebenen, weit über Art. 91a, b GG hinausreichenden intensiven Formen der Zusammenarbeit im Bund-Länder- sowie im Zwischenländerbereich sind in aller Regel Domäne der Verwaltung, vor allem der Ministerialbürokratien, weniger der parlamentarischen Vertretungen. Auch nach der Entflechtung im Bund-Länder-Verhältnis durch die Förderalismus-Reform vom Sommer 2006 (vgl. oben,

Rn. 83

) werden auf weiten Gebieten staatlichen Wirkens Kooperationsformen der genannten Art anzutreffen sein.



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Der Exekutivföderalismus findet schließlich eine weitere Realisierung in Gestalt des Bundesrates, in dem weder volksgewählte Abgeordnete der Länder wie nach dem amerikanischen Senatsmodell (vgl. oben,

Rn. 38

) noch von den Landesparlamenten entsandte Vertreter sitzen. Art. 51 GG bestimmt vielmehr, dass der Bundesrat aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht, wobei in Abhängigkeit von der Einwohnerzahl ein Land über mindestens drei und höchstens sechs Stimmen verfügt.



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Eine besondere Prägung erfährt der bundesdeutsche Föderalismus (und stärker wohl noch die bundesdeutsche Bundesstaatstheorie) durch die „Bundestreue“. Nach überwiegender, wenn auch nicht unumstrittener Meinung auf den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben gegründet, verpflichtet die Bundestreue den Bund und die Länder wechselseitig sowie die Länder untereinander, bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen „die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder zu nehmen“. Angesichts des vergleichsweise hohen Detaillierungsgrades der den Bundesstaat betreffenden Normierungen kommt der Grundsatz der Bundestreue nur subsidiär zur Geltung. Ihn hat das Bundesverfassungsgericht durchaus des Öfteren herangezogen, doch wurde wegen der gebotenen Zurückhaltung bei der Anwendung bislang nur in ganz wenigen Fällen eine Verletzung der Bundestreue konstatiert.



§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland

 › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 3. Demokratieprinzip





3. Demokratieprinzip






a) Demokratie (Art. 20 Abs. 1 GG)



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Der Demokratiebegriff ist durch seine notorische Unschärfe und interdisziplinäre Vieldeutigkeit gekennzeichnet. Gleichwohl lassen sich schon Art. 20 Abs. 1 GG, wonach die Bundesrepublik Deutschland ein „demokratischer“ Bundesstaat ist, einige zentrale Aussagen und normative Fixierungen entnehmen. Für Demokratie als Volksherrschaft ist danach zunächst tragend die „Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger“, wobei damit zugleich ihr egalitärer Grundzug betont ist. Doch weder durch den Freiheits- noch durch den Gleichheitsbezug verliert Demokratie ihren Herrschaftscharakter. Sie zielt nicht auf Negierung oder Aufhebung staatlicher Herrschaft, sondern auf eine (besonders anspruchsvolle) Organisation derselben.



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Von entsprechenden Strukturelementen demokratischer Herrschaft lässt sich angesichts des Umstandes, dass Einstimmigkeit in sozialen Großverbänden entweder Illusion oder diktatorische Fassade ist, zunächst die Geltung des Mehrheitsprinzips benennen, dessen Rechtfertigung letztlich im Gedanken der Revisibilität einmal getroffener Entscheidungen liegt und das um einen adäquaten Schutz parlamentarischer wie struktureller Minderheiten zu ergänzen ist. Sodann meint demokratische Herrschaft immer „Herrschaft auf Zeit“, bedarf also namentlich in Gestalt regelmäßiger Neuwahlen der kontinuierlichen Erneuerung ihrer Legitimation. Aus der Verknüpfung von Mehrheitsprinzip mit der Machtwechselchance lässt sich zudem eine verfassungsmäßige Fundierung der Opposition ableiten, die freilich im Grundgesetz – im Unterschied zu vielen Landesverfassungen – eher als Funktion, nicht als Institution angelegt ist.



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Demokratie als „Verfahren der Legitimation, der Kontrolle und der Kritik politischer Herrschaft“ setzt einen prinzipiell offenen Kommunikations- und Willensbildungsprozess voraus, der den Entscheidungen etwa bei Parlamentswahlen vorausgehen, sie aber darüber hinaus insgesamt übergreifen und begleiten muss. Denn auch eine rein repräsentativ ausgestaltete Demokratie erschöpft sich nicht in der Stimmabgabe bei Wahlen, bei der die Willensbildung sich von unten nach oben zu vollziehen hat. Hinzu kommt in Gestalt eines permanenten Rückkoppelungsprozesses zwischen Wählern und Gewählten „die Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung“ durch die Bürger. Wesentliche Grundlage für pluralistische Vielfalt und Gegensätzlichkeit, für Kritik und Kommunikation in diesem Sinne bilden die Grundrechte als „Infrastruktur aller demokratischen Prozesse“. Insbesondere die Meinungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Lüth-Urteil als für die Demokratie „schlechthin konstituierend“ bezeichnet. Das unterstreicht die demokratische Funktion der Grundrechte und ihre Bedeutung für die Gewährleistung einer pluralen Öffentlichkeit.






b) Volkssouveränität, Wahlen, Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 GG)



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Der Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) bringt das tradierte Prinzip der Volkssouveränität zum Ausdruck. Deren höchste Ausdrucksform, die verfassunggebende Gewalt, ist freilich nicht hier, sondern in der Präambel und in Art. 146 GG verortet. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG thematisiert das Volk als Verfassungsorgan, nicht als Schöpfer der Verfassung. Doch wird neben dem Akt der Verfassunggebung auch die Ausübung der Staatsgewalt an den Willen des Volkes rückgebunden und so dem Gedanken der Volkssouveränität in doppelter Weise Rechnung getragen.



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Bei dieser Rückbindung handelt es sich nicht um eine Zuständigkeitsregelung, sondern um ein Legitimations- und Verantwortungsprinzip. Der Satz will also nicht der Illusion Vorschub leisten, das Volk müsste und könnte selbst alle verbindlichen staatlichen Entscheidungen treffen. Gefordert ist vielmehr deren prinzipielle Rückführbarkeit auf den Willen des Volkes. Ausgeschlossen sind damit alle gewissermaßen selbsttragenden Legitimationsvorstellungen transzendentaler, traditionaler, elitärer oder charismatischer Provenienz. Demokratie anerkennt „keine nicht auf das Volk rückführbare und von ihm zumindest mittelbar legitimierte staatliche Macht als gerechtfertigte Autorität“.



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Unter der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG angesprochenen Staatsgewalt sind alle Arten ihrer Ausübung zu verstehen: die Summe der legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen der Staatsorgane und Amtswalter auf allen Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden unter Einschluss der verselbständigten juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Auch das privatrechtsförmige Handeln des Staates bildet keine Generalausnahme.



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Mit „Volk“ ist in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das deutsche Staatsvolk als Summe der Staatsangehörigen gemeint, nicht die wechselhafte Summe der von der Staatsgewalt irgendwie „Betroffenen“ oder aller im Staatsgebiet sich aufhaltenden Personen. Für diese Deutung spricht neben verfassungshistorischen wie -vergleichenden Betrachtungen vor allem der systematische Zusammenhang mit Präambel, Art. 146 GG sowie anderen Vorschriften des Grundgesetzes, in denen ausdrücklich vom deutschen Volk die Rede ist. Wie Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG (vgl. oben,

Rn. 64

) zeigt, schließt das ein Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer nicht aus.



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Nähere Ausgestaltung erfährt die Volkssouveränitätsdoktrin durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, indem dort die beiden unmittelbaren Ausübungsformen staatlicher Gewalt durch das Volk (Wahlen und Abstimmungen) unterschieden sowie besondere Organe für die mittelbare Ausübung der Staatsgewalt genannt werden.



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Mit Wahlen sind staatsrechtlich Entscheidungen über Personen, mit Abstimmungen solche über Sachfragen gemeint. In der strikt repräsentativ ausgestalteten Ordnung des Grundgesetzes stellen die Parlamentswahlen den zentralen Akt dar, in dem sich der Bürger als „Glied des Staatsorgans Volk im status activus“ betätigt. Der Wahlvorgang (allein) knüpft das Band zwischen dem Volk und seiner Vertretungskörperschaft, die dadurch als einziges „besonderes Organ“ unmittelbar von diesem legitimiert ist. Die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes realisiert sich also im Wesentlichen im Wahlakt, dessen Ausgestaltung daher von zentraler Bedeutung ist und der im Grundgesetz selbst mit den Wahlgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG eine nähere Regelung erfahren hat. Das Parlament rückt in rechtshistorischer Perspektive (auch) aufgrund dieser Konstellation in das Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses. Sowohl für die Vorbereitung wie für die Durchführung der Wahlen als auch für die Besetzung der Staatsämter und des Weiteren für die demokratische Rückkopplung zwischen Volk und Staatsorganen erweisen sich die durch Art. 21 GG in gewisser Weise institutionalisierten politischen Parteien als schlechthin ausschlaggebende Faktoren, was die Kennzeichnung als „parteienstaatliche Demokratie“ durchaus rechtfertigt. Dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien kommt politisch zentrale Bedeutung nicht nur, aber auch für die Wahlen zu.

 



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Unter „Abstimmungen“ versteht man Sachentscheidungen durch die Aktivbürgerschaft selbst ohne repräsentative Vermittlung. Plastisch bringt etwa die Verfassung des Freistaates Bayern die Alternativität von parlamentarischer und volksunmittelbarer Gesetzgebung zum Ausdruck. Das Grundgesetz benennt die Möglichkeit von Abstimmungen in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, ohne sie ansonsten näher auszuformen oder zu konkretisieren. Zwar werden als Beispielsfälle zumeist Art. 29, 118 und 118a GG genannt; doch handelt es sich hierbei um Bevölkerungsentscheide, nicht um Volksentscheide. Derartige Territorialplebiszite bringen nicht das Staatsvolk als alternativen Gesetzgeber