Handbuch Ius Publicum Europaeum

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3. Schlüsselpersönlichkeiten und Schlüsseltexte in der Verfassungsentwicklung

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Die Verfassungsänderung von 1986 entsprach im Wesentlichen dem Änderungsvorschlag der Regierungspartei und ist auf die politische Initiative des damaligen Premierministers Andreas Papandreou zurückzuführen. Die wissenschaftliche Verantwortung für diesen Vorschlag übernahm der damalige Rechtsberater des Premierministers und Professor für Verfassungsrecht Georg Kassimatis; Generalberichterstatter der Regierungspartei im verfassungsändernden Parlament war Anastassios Peponis.[154] Die Gegenmeinung, die das Revisionsvorhaben heftig kritisierte, äußerten insbesondere die Generalberichterstatterin der Hauptopposition Rechtsprofessorin Anna Psarouda-Benaki und auf wissenschaftlicher Ebene nochmals Professor Manessis.[155]

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Bei der Verfassungsänderung von 2001 brachten die Generalberichterstatter der zwei größten Parteien – für die sozialistische Regierungspartei der Kulturminister und Professor für Verfassungsrecht Evangelos Venizelos[156] und für die konservative größte Oppositionspartei der Minister a.D. Ioannis Varvitsiotis – die weitgehende politische Konvergenz durch konkrete Verfassungsformulierungen zum Ausdruck, wobei die Beratungen im Verfassungsändernden Parlament weitgehend auf die Funktion einer formellen Bekräftigung bereits getroffener Entscheidungen herabgesetzt waren.

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Auf der Ebene der Judikative soll an dieser Stelle erneut auf die Rechtsprechung der V. Kammer des Staatsrates zu Umweltfragen hingewiesen werden. Die Rolle des Präsidenten der Kammer in den 1990er Jahren, Michalis Dekleris,[157] war zentral für diese Rechtsprechungsentwicklung.[158] Im Übrigen folgte das Plenum des Staatsrates in einigen Fällen den Entscheidungslinien der V. Kammer nicht, wobei die Tendenz einer Relativierung der Umweltschutzrechtsprechung unmittelbar nach dem Ausscheiden von Dekleris aus dem Richterdienst anfing.

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › II. Die Verfassungsentwicklung › 4. Bestandsschutz der Verfassung

4. Bestandsschutz der Verfassung

a) Die Verfassungsänderung

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Der griechischen Verfassungstradition folgend gehört die Verfassung von 1975 zu den nach der Terminologie Jellineks so genannten „starren“ Verfassungen. Dementsprechend sieht sie ein sehr kompliziertes Revisionsverfahren vor, das materielle Schranken zu beachten hat und die Erfüllung von Verfahrensvoraussetzungen, darunter die zwischenzeitliche Durchführung von Wahlen, verlangt.[159] Im Einzelnen:

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Was die materiellen Grenzen des Änderungsverfahrens betrifft, sieht Art. 110 Abs. 1 Verf. zwei Arten von Verfassungsbestimmungen vor, die unter dem Schutz einer „Ewigkeitsgarantie“ stehen: Die Bestimmungen „über die Staatsgrundlage und die Staatsform als präsidierte parlamentarische Demokratie“ sowie die dort genannten Vorschriften von Art. 2 Abs. 1 (Achtung und Schutz der Menschenwürde), Art. 4 Abs. 1, 4 und 7 (allgemeiner Gleichheitssatz, grundsätzliches Erfordernis der griechischen Staatsangehörigkeit bei der Beamtenernennung und gleicher Zugang zu den öffentlichen Ämtern, Verbot von Adelstiteln oder Rangbezeichnungen), Art. 5 Abs. 1 und 3 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und persönliche Freiheit), Art. 13 Abs. 1 (Freiheit des religiösen Gewissens) und Art. 26 (Gewaltenteilung).

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In Bezug auf die Verfahrensvoraussetzungen (Art. 110 Abs. 2–6 Verf.) ist ein zweistufiges Vorgehen vorgesehen. Die Erforderlichkeit der Verfassungsänderung sowie die zu ändernden Bestimmungen im Einzelnen werden durch Parlamentsbeschluss festgelegt, wobei erst während der nächsten Legislaturperiode über den Inhalt der zu ändernden Bestimmungen endgültig entschieden wird. Ein Änderungsvorschlag wird nur dann angenommen, wenn er die Dreifünftelmehrheit der Gesamtzahl der Abgeordneten im ersten Parlament sowie ihre absolute Mehrheit in dem aus den Neuwahlen hervorgegangenen Parlament oder umgekehrt erreicht hat. Nach der herrschenden (obwohl wenig überzeugenden) Meinung ist das verfassungsändernde Parlament für die Bestimmung des Änderungsinhalts gegenüber dem vorangehenden Parlament ungebunden.[160] Außerdem ist eine fünfjährige Zeitsperre für eine neue Verfassungsänderung vorgesehen. Während die materiellen Schranken der Verfassungsänderung von dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht geändert werden dürfen, ist strittig, ob das auch für die Verfahrensvoraussetzungen gilt.[161] Mit Blick auf die europäische Integration stellt sich schließlich die Frage, ob das Änderungsverfahren des Art. 110 Verf. ausschließlich ist oder aber ob die Bestimmungen des Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf., die die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen und die Einschränkung der Ausübung von nationaler Souveränität vorsehen, als Klausel einer quasi stillschweigenden Verfassungsrevision zu betrachten sind.[162]

b) Die Suspendierung von Verfassungsbestimmungen

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Die griechische Verfassung sieht in Art. 48 Abs. 1-2 die zeitlich begrenzte Befugnis des Parlaments vor, auf Vorschlag der Regierung sowie, wenn das Parlament nicht tagt oder nicht rechtzeitig zusammentreten kann, des Präsidenten der Republik durch Präsidialverordnung, die auf Vorschlag des Ministerrates erlassen wird, die Geltung der in Art. 48 Abs. 1 Verf. aufgezählten Grundrechte zu suspendieren, das Gesetz über den Ausnahmezustand in Kraft zu setzen und Ausnahmegerichte einzurichten.[163] Dazu muss nach der Verfassungsrevision von 1986 ein Kriegs- oder Mobilmachungsfall wegen äußerer Gefahren oder unmittelbarer Bedrohung der nationalen Sicherheit oder eine bewaffnete Bewegung zum Sturz des demokratischen Regimes vorliegen. Diese Vorschrift hat während der Geltung der Verfassung indes bislang keine Anwendung gefunden.

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › III. Dogmatische Grundstrukturen und Grundbegriffe

III. Dogmatische Grundstrukturen und Grundbegriffe

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › III. Dogmatische Grundstrukturen und Grundbegriffe › 1. Verfassung, einfache Rechtsordnung und Politik

1. Verfassung, einfache Rechtsordnung und Politik

a) Die innerstaatliche Normenhierarchie

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Die schriftliche Verfassung steht an der Spitze der innergriechischen Rechtsordnung.[164] Das ergibt sich nicht nur aus dem starren Charakter der Verfassung, sondern auch aus einzelnen Verfassungsbestimmungen, nämlich Art. 93 Abs. 4, der festlegt, dass die Gerichte ein Gesetz, dessen Inhalt gegen die Verfassung verstößt, nicht anwenden dürfen, und Art. 87 Abs. 2, wonach die Richter bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sich in keinem Fall Bestimmungen fügen dürfen, „die in Auflösung der Verfassung erlassen wurden“.[165] Auf der gleichen Ebene der Normenhierarchie stehen die „Verfassungsakte“, die von der Wiederherstellung der Demokratie bis zur Einberufung des „Verfassungsändernden Parlaments“ von 1975 erlassen wurden, dessen „Beschlüsse“ (vgl. Art. 111 Abs. 2 Verf.) sowie nach der herrschenden Meinung im Schrifttum die Gesetzgebung über den Schutz von ausländischem Kapital, die gemäß Art. 107 Verf. eine gesteigerte formelle Geltungskraft genießt.[166]

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Zwischen der Verfassung und dem einfachen Gesetz steht in der Normenhierarchie das Völkerrecht in der Form sowohl des Gewohnheitsrechts als auch des Vertragsrechts (Art. 28 Abs. 1 Verf.)[167] Gesetzesrang besitzen die vom Parlament nach dem Gesetzgebungsverfahren verabschiedeten formellen Gesetze, das gesetzesergänzende Gewohnheitsrecht und die sog. „Akte gesetzgeberischen Inhalts“, die im Eilfall (Art. 44 Abs. 1 Verf.) oder im Notfall (Art. 48 Abs. 5 Verf.) vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Ministerrates erlassen werden.[168] Denselben Rang besitzen diejenigen Rechtsetzungsakte der Exekutive, die in der Form einer Präsidialverordnung auf der Grundlage gesetzlicher Ermächtigung erlassen werden, insoweit sie sich innerhalb der Grenzen der Ermächtigung bewegen (Art. 43 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Verf.).[169] Demgegenüber ist unklar, ob die durch andere Organe der Exekutive zur Regelung „von besonderen Fragen“ erlassenen Rechtsverordnungen (Art. 43 Abs. 2 Satz 2 Verf.) ebenso innerhalb der Grenzen der Ermächtigung gesetzlichen[170] oder aber untergesetzlichen[171] Rang besitzen. Untergesetzlichen Rang haben jedenfalls die sog. Vollzugsverordnungen, die zum Vollzug eines konkretisierungsbedürftigen, aber keine Ermächtigung enthaltenen Gesetzes erlassen werden (vgl. Art. 43 Abs. 1 Verf.).

b) Die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts

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Wie bereits der Periodisierung der Rechtsprechungsentwicklung zu Verfassungsfragen zu entnehmen ist,[172] wird das einfache Recht in den letzten Jahren zunehmend konstitutionalisiert, indem die Verfassung der Politik auch in der Gesetzgebung inhaltliche Vorgaben macht, die von den Gerichten durchgesetzt werden. Im Einzelnen:

 

aa) Die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze

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Die Bestimmungen der Art. 93 Abs. 4 und 87 Abs. 2 Verf. bilden die konkreten verfassungsrechtlichen Grundlagen für die gerichtliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, die in den letzten Jahren mit zunehmender Dichte ausgeübt wird und gewissermaßen die effektivste Form der Konstitutionalisierung des einfachen Rechts darstellt.

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Da Art. 93 Abs. 4 Verf. bestimmt, dass die Gerichte ein Gesetz nicht anwenden dürfen, dessen Inhalt gegen die Verfassung verstößt, unterliegt die Einhaltung der Verfassungsvorschriften über das Gesetzgebungsverfahren als „interna corporis“ des Parlaments keiner gerichtlichen Überprüfung. Nach der Rechtsprechung zählt zu diesen Bestimmungen auch Art. 72 Abs. 1 Verf., der bestimmte Materien einer Beratung und Beschlussfassung im Plenum statt in einem Ausschuss oder einer Abteilung vorbehält, so die Gesetze über die Ausübung und den Schutz der individuellen Rechte.[173] Demgegenüber meinen Teile des Schrifttums, dass es in diesem Fall um die Zuständigkeit des gesetzgebenden Organs als solchem geht, die gerichtlicher Überprüfung zugänglich sein soll.[174]

73

Die Verfassung von 1975 schloss sich der griechischen Tradition der (repressiven) diffusen, inzidenten und konkreten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der (formellen) Gesetze an,[175] die dem US-amerikanischen Modell ähnelt, statt eine Verfassungsgerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne einzuführen. Die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kann grundsätzlich von jedem Gericht ausgeübt werden, wobei die Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes in der Regel zu dessen Nicht-Anwendung führt. Eine Verfassungsbeschwerde kennt die griechische Rechtsordnung hingegen nicht.

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Um die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu relativieren, sieht die griechische Verfassung dennoch den sog. „Obersten Sondergerichtshof“ (Ανώτατο Ειδικό Δικαστήριο) vor, einen speziellen Spruchkörper mit begrenzten Zuständigkeiten,[176] zu dessen Obliegenheiten die Prüfung der materiellen Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen eines formellen Gesetzes bei sich widersprechenden Entscheidungen der obersten Gerichte zählt (Art. 100 Abs. 1 lit. e Verf.).[177] Eine vom Obersten Sondergerichtshof für verfassungswidrig erklärte Gesetzesbestimmung ist unwirksam (Art. 100 Abs. 4 Unterabs. 2 Verf.). Teilweise wird der Oberste Sondergerichtshof im Schrifttum als quasi-Verfassungsgericht bezeichnet.[178] Obwohl die Voraussetzung der Anwendung derselben Bestimmung von den obersten Gerichten, die an der Spitze der verschiedenen Gerichtsbarkeiten stehen, im Vergleich zu früher zu Recht relativiert worden ist,[179] kommt eine Nichtigkeitserklärung von formellen Gesetzen immer noch eher selten vor.

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Die Verfassungsrevision von 2001 hat eine zusätzliche Abschwächung der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze hervorgebracht. Wenn eine Kammer des Staatsrates, des Areopags oder des Rechnungshofes (Ελεγκτικό Συνέδριο) eine Gesetzesvorschrift für verfassungswidrig erachtet, ist dieser Fall zwingend an das entsprechende Plenum zu verweisen, es sei denn, das Plenum oder der Oberste Sondergerichtshof haben darüber bereits entschieden (Art. 100 Abs. 5 Verf.). Diese Änderung, die den Kammern der obersten Gerichte geringere Befugnisse im Vergleich zu den sonstigen Gerichten zuerkennt, ist im Schrifttum zu Recht kritisiert worden.[180]

bb) Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung

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Die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts erschöpft sich nicht in der Möglichkeit, ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit außer Acht zu lassen. Oft beruft sich die griechische Lehre[181] auf den Grundsatz der verfassungskonformen Gesetzesauslegung, wonach von mehreren vertretbaren Interpretationsansätzen eines Gesetzes derjenige auszuwählen ist, der mit der Verfassung vereinbar ist; diesem Grundsatz ist die Rechtsprechung gefolgt.[182] Die Anwendung der verfassungskonformen Gesetzesauslegung durch die griechischen Gerichte hat jedoch ihre Grenzen zum Vorschein gebracht: In einigen Fällen zeigt sie sich eher als eine gesetzeskonforme Verfassungsauslegung. In anderen Fällen hat die Rechtsprechung, um die Erklärung der Verfassungswidrigkeit zu vermeiden, im Namen der verfassungskonformen Gesetzesauslegung die zulässigen Auslegungsgrenzen überschritten.[183]

cc) Die Geltung der Grundrechte zwischen Privaten

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In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der Geltung der Grundrechte zwischen Privaten. Der Begriff der „Τριτενέργεια“, welcher die griechische Übersetzung der „Drittwirkung“ darstellt, wird in der Tat in Griechenland oft verwendet, obwohl seine Aussagefähigkeit neuerdings angezweifelt wird.

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Auch wenn es vor der Verfassungsänderung von 2001 keine allgemeine Verfassungsvorschrift zu dieser Frage gab, bestand im Schrifttum weitgehend Einigkeit darüber, dass eine gewisse Geltung der Grundrechte zwischen Privaten verfassungsrechtlich geboten ist; mit Blick auf ihre Form und ihr Ausmaß bestand allerdings kein Konsens.[184] Die Frage der „unmittelbaren“ bzw. nur „mittelbaren“ Drittwirkung[185] und ihre Anwendbarkeit nur auf die „individuellen“ oder auch auf die „sozialen“ Rechte[186] oder nur bei einem Verhältnis der Überordnung[187] waren im Schrifttum umstritten. Die Rechtsprechung schien eine gewisse Drittwirkung anzuerkennen, ohne aber meistens konkretere Aussagen dazu zu treffen.

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Durch die Verfassungsänderung von 2001 wurde eine generelle Drittwirkungsregelung auf Verfassungsebene getroffen. Gemäß Art. 25 Abs. 1 Satz 3 Verf. gelten die „Menschenrechte“ auch in den Beziehungen zwischen Privaten, „soweit sie sich hierfür eignen“. Ob diese Vorschrift die „unmittelbare“ oder die „mittelbare“ Drittwirkung betrifft, ist allerdings immer noch umstritten. Ein Teil der Lehre vertritt zwar die Ansicht, dass Art. 25 Abs. 1 Satz 3 Verf. die eigentliche Form der Drittwirkung nicht kläre[188] oder auch lediglich eine mittelbare Drittwirkung verankere.[189] Die Berücksichtigung der an der Spitze der Normenhierarchie stehenden „starren“ Verfassung bei der Konkretisierung der Generalklauseln und der unbestimmten Rechtsbegriffe des einfachen Rechts scheint aber keine besondere Begründung zu brauchen.[190] Die explizite verfassungsrechtliche Gewährleistung der Geltung der „Menschenrechte“ zwischen Privaten kann dementsprechend nur die unmittelbare Drittwirkung betreffen.[191]

dd) Der „soziale Besitzstand“

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Was speziell die sozialen Grundrechte betrifft, nimmt die Konstitutionalisierung des einfachen Rechts die Form eines „sozialen Rückschrittsverbots“ bzw. eines „sozialen Besitzstands“ an, der dem Gesetzgeber Schranken setzt oder der sogar nicht angetastet werden darf.[192]

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Die herrschende Lehre verteidigt überzeugend den Schutz des so genannten relativen sozialen Besitzstandes.[193] Danach wird dem Gesetzgeber die Möglichkeit zugestanden, auf der Grundlage einer neuen Abwägung zwischen mehreren Verfassungsgütern den Schutz eines sozialen Grundrechts zu verringern, ohne ihn jedoch willkürlich zu verringern oder gänzlich abzuschaffen.

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Obwohl die Rechtsprechung es grundsätzlich ablehnt, dass der „soziale Besitzstand“ nur im Sinne einer Schutzerweiterung modifiziert werden kann,[194] macht sie für das Recht auf Umweltschutz hinsichtlich der städtebaulichen Umgebung eine Ausnahme, indem dem darauf bezogenen Besitzstand absoluter Schutz zugestanden wird. Dementsprechend ist es dem Gesetzgeber verboten, Maßnahmen zu ergreifen, die das städtebauliche Umfeld, etwa durch die Verringerung freier Räume und von Grünflächen, beeinträchtigen würden; einzig schutzausweitende Modifikationen seien erlaubt.[195] In der neueren Rechtsprechung lässt sich mehr und mehr die Tendenz erkennen, einen gewissen sozialen Besitzstand auch in Bezug auf andere soziale Grundrechte anzuerkennen; das betrifft den Schutz der Familie[196] und die Fürsorgepflicht des Staates hinsichtlich der Sozialversicherung.[197]

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › III. Dogmatische Grundstrukturen und Grundbegriffe › 2. Demokratie

2. Demokratie

a) Demokratie und Volkssouveränität

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Um den Bruch mit der vorangegangenen Militärdiktatur deutlich zu machen, legte der griechische Verfassunggeber das Bekenntnis zur Demokratie bereits im ersten Artikel der Verfassung fest, indem Art. 1 Abs. 1 die „Staatsform“[198] Griechenlands als „die präsidierte parlamentarische Demokratie“ bestimmt. Art. 1 Abs. 2 konkretisiert die Grundlage der Staatsform als das Prinzip der Volkssouveränität. Art. 1 Abs. 3 fügt hinzu, dass alle staatliche Gewalt vom Volke ausgeht, für das Volk und die Nation besteht und ausgeübt wird, so wie es die Verfassung vorschreibt.

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Wie der Inhalt des Demokratieprinzips bestimmt werden kann, ist im Schrifttum streitig. Während einerseits die Auffassung vertreten wird, dass der Inhalt der Demokratie „vorkonstitutionell“ auf der Grundlage der Prinzipien der internationalen und der supranationalen Rechtsordnung sowie der Prinzipien, die in allen demokratischen Ländern gelten, auch gegen den Wortlaut der griechischen Verfassung bestimmt werden solle,[199] wird andererseits argumentiert, dass das Demokratieprinzip mit den verfassungsrechtlichen und soziopolitischen Merkmalen des griechischen Staatswesens zusammenhänge und von anderen Modellen demokratischer Organisation abweichen könne,[200] sodass der „vorkonstitutionelle“ Inhalt der Demokratie nur in Fällen von Unklarheiten oder Lücken der griechischen Verfassung herangezogen werden solle.[201]

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Wie auch dem Bündel der Gewährleistungen des Art. 1 Verf. zu entnehmen ist, ist dem neueren Schrifttum zuzustimmen, wonach das Demokratieprinzip der Verfassung materiellen Inhalt hat und sich nicht auf verfahrensrechtliche Normen beschränkt.[202] Wesentliche Bestandteile der Demokratie sind also nicht nur das Mehrheitsprinzip, sondern auch der Schutz der Grundprinzipien der Verfassung und die Gewährleistung der Grundrechte, wobei die politische Freiheit und Gleichheit als unerlässliche Bestandteile der Demokratie[203] ihre verfahrens- und materiellrechtlichen Elemente miteinander in Verbindung bringen. Neuerdings stellt man ferner eine Tendenz des Übergangs zu einem Konsensmodell der Demokratie fest, wodurch nicht nur materielle Schranken für die jeweilige Mehrheit gesetzt werden, sondern darüber hinaus die politische Klasse zur Zusammenarbeit gezwungen bzw. sogar der Macht in entscheidenden Bereichen beraubt wird.[204]

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Die Begriffsbestimmung der Demokratie durch den Bezug auf die Volkssouveränität in Art. 1 Abs. 2 Verf. ist insoweit ein Novum in der griechischen Verfassungsgeschichte, als die früheren Verfassungen stattdessen den Terminus „nationale Souveränität“ verwendet hatten, wobei im Schrifttum die Auffassung geherrscht hatte, dass der Begriff „Nation“ in der Tat das „Volk“ meinte.[205] Das Prinzip der Volkssouveränität als rechtliches Gebot verlangt die aktive Teilhabe des Volkes an der staatlichen Willensbildung unter den Bedingungen politischer Freiheit und Gleichheit, sodass die Ausübung jeder staatlichen Gewalt auf den Volkswillen zurückzuführen ist.[206] Da alle staatliche Gewalt „für das Volk“ besteht, verlangt Art. 1 Abs. 3 Verf. zugleich die Förderung des Gemeinwohls als höchstes Staatsziel.[207]

87

Art. 1 Abs. 3 Verf. bestimmt weiter, dass alle staatliche Gewalt ausgeübt wird, „wie es die Verfassung vorschreibt“ (sog. „eingeschränkte“ Demokratie). Damit ist keine Einschränkung der Volkssouveränität, sondern nur die der Ausübung der staatlichen Funktionen gemeint.[208] Demzufolge ist die Bestimmung des Volkswillens nur durch die verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren und unter den in der Verfassung festgelegten materiellen Grenzen möglich.