Handbuch Ius Publicum Europaeum

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cc) Zwischenergebnis

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Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass einige der durch die Revision von 2001 herbeigeführten Änderungen entweder bestehenden Unzulänglichkeiten entgegentreten oder auch innovative Regelungen einführen, wobei andere Bestimmungen durch absolute oder auch unnötig umständliche Formulierungen keinen Platz in einer Verfassung haben sollten und die Gelegenheit für wichtige Reformen auch in anderen Bereichen verpasst wurde. Bei allen Bedenken kann aber das Misstrauen gegenüber allen staatlichen und gesellschaftlichen Machtfaktoren und der Versuch, Gegengewichte im Sinne von neuen Kontrollmöglichkeiten zu schaffen, auch im Vergleich zu der engen Verfassungsänderung von 1986, die ausschließlich die Rolle des Präsidenten der Republik betraf, als Zeichen einer zunehmenden Reife der griechischen Verfassungskultur bezeichnet werden. Ende 2005 wurde von der konservativen Regierung noch eine Verfassungsänderung angekündigt, die erst innerhalb der nächsten Legislaturperiode (die voraussichtlich im Jahre 2008 beginnt) abgeschlossen werden kann.[80] Während eine ganze Reihe von Bestimmungen zurzeit (Januar 2006) in der politischen Debatte für revisionsbedürftig angesehen wird, wäre es verfrüht, irgendeine Prognose zu diesem neuen Revisionsvorhaben zu wagen.

b) Verfassungsentwicklung durch Verfassungsauslegung

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Die Verfassungsentwicklung durch Auslegung wird zunächst durch eine Reihe von organisatorischen Streitigkeiten geprägt, deren Lösung mangels einer Verfassungsgerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne in Griechenland im Endeffekt von den dominierenden politischen Akteuren bestimmt wurde. Einige Probleme dieser nichtgerichtlichen Verfassungsauslegung werden im nächsten Kapitel (II.2.) untersucht, das den Konflikten in der Verfassungsentwicklung gewidmet ist.

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Obgleich die Rechtsprechung in der griechischen Rechtsordnung nach herrschender Meinung in der Lehre grundsätzlich keine Rechtsquelle darstellt[81] und gegenüber den anderen staatlichen Gewalten traditionell äußerst zurückhaltend gewesen ist,[82] hat sie insbesondere in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen, das materielle Verfassungsrecht zu konkretisieren und fortzubilden. Die Einschätzung der Verfassungsentwicklung kann daher die Rolle der rechtsprechenden Gewalt nicht außer Acht lassen. An dieser Stelle wird die Entwicklung der Rechtsprechung zu Verfassungsfragen nach 1975 schematisch in vier Perioden gegliedert.

aa) 1975–1981: Die Ära der Unsicherheit

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Die Periode von dem Inkrafttreten der Verfassung im Jahre 1975 bis zur politischen Wende von 1981 kann als eine unsichere Mischung von herkömmlichen und neuen Elementen bezeichnet werden. In den meisten Fällen machte die Rechtsprechung von dem Potential, das der neuen Verfassung innewohnt, kaum Gebrauch. Beispiele dieser Haltung waren die restriktive Auslegung[83] des Art. 20 Abs. 2 Verf., der „das Recht auf rechtliches Gehör“ im Verwaltungsverfahren umfassend gewährleistet;[84] die Ableitung keiner gerichtlich durchsetzbaren Verpflichtung aus Art. 22 Abs. 4 Verf. a.F.,[85] wonach „der Staat […] für die Sozialversicherung der Arbeitenden [sorgt]“;[86] sowie die restriktive Auslegung[87] des Art. 22 Abs. 2 Verf., der die Institution der kollektiven Arbeitsverträge garantiert. Es gab aber einige wenige Verfassungsbestimmungen, hinsichtlich derer einige Gerichte bereits während dieser Periode ansatzweise auf ihre herkömmliche Zurückhaltung bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Handelns verzichteten. Zu diesen Vorschriften zählten nach der Rechtsprechung des Staatsrates (Συμβούλιο Επικρατείας), des obersten Verwaltungsgerichts, insbesondere die Meinungs-[88] und die Pressefreiheit[89] sowie der verfassungsrechtliche Umweltschutz.[90]

bb) 1981–1989: Die Ära der Zurückhaltung

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Eine zweite Periode in der Rechtsprechungsentwicklung umfasst die Amtsdauer der sozialistischen Regierung von 1981 bis 1989. Während dieser Periode wurde die Frage nach den Beziehungen zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt mit zunehmender Schärfe gestellt.[91] Die Gerichte reagierten eher zurückhaltend und erkannten dem Gesetzgeber grundsätzlich einen beträchtlichen Beurteilungsspielraum zu. Die Grundstruktur des Hochschulrahmengesetzes, das sich im Rahmen des Konzepts der sog. „Gruppenuniversität“ bewegte,[92] das staatliche Rundfunk- und Fernsehmonopol[93] sowie die Beauftragung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts mit der Verwaltung des Vermögens der orthodoxen Klöster[94] wurden als verfassungsmäßig betrachtet. Im Übrigen bejahten viele Entscheidungen dieser Periode die Einschränkung von Grundrechten auf der allgemeinen Grundlage des „öffentlichen Interesses“, und zwar auch, wenn eine spezielle Verfassungsbestimmung als Schranke hätte herangezogen werden können.[95] Auch die Kontrolle nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde äußerst zurückhaltend ausgeübt.[96]

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Gegen Ende dieser Periode kann man allerdings die Rechtsprechungstendenz feststellen, trotz der allgemeinen Zurückhaltung deutliche Grenzen zu setzen, indem die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Maßnahmen, die sich negativ auf die Umwelt auswirken könnten, deutlich dichter wurde. So leitete der Staatsrat zum ersten Mal im Jahre 1988 aus der Verfassung einen sog. absoluten städtebaulichen Besitzstand ab: Danach dürfen Änderungen der städtebaulichen Regelungen keine Beeinträchtigung der bestehenden natürlichen und besiedelten Umwelt verursachen.[97] Darüber hinaus rechtfertigte der Staatsrat unter Berufung auf den verfassungsrechtlichen Schutz der natürlichen und kulturellen Umwelt (Art. 24 Abs. 1, 6 Verf.) drastische Einschränkungen des Rechts auf Eigentum auch ohne Entschädigung.[98]

cc) 1989–1997: Die Ära der Prioritätssetzung

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Diese Tendenz wurde während einer dritten Periode der Verfassungsentwicklung, die vor allem von der weit reichenden Rechtsprechung (insbesondere der V. Kammer) des Staatsrates zum Umweltschutz gekennzeichnet war, noch klarer.[99] Im Spannungsverhältnis mit anderen Verfassungsgütern wurde im Ergebnis zumeist dem Umweltschutz der Vorrang eingeräumt. Die Rechtsprechung zum städtebaulichen Besitzstand[100] und zu den Einschränkungen des Rechts auf Eigentum[101] wurde weiterentwickelt. Zudem hat der Staatsrat insbesondere nach 1993 unter Berufung auf das aus Art. 24 Verf. in Verbindung mit dem Gemeinschaftsrecht abgeleitete Prinzip der nachhaltigen Entwicklung zunehmend betont, dass die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, die auch den Bedürfnissen der zukünftigen Generationen Rechnung tragen muss und die überwiegend von der Judikative konkretisiert wird, die einzige verfassungsrechtlich statthafte Form der wirtschaftlichen Entwicklung ist und damit die Durchführung derjenigen Werke und Tätigkeiten verbietet, welche gegen das ökologische Gleichgewicht verstoßen würden.[102] Auch bei der Klagebefugnis erkannte die Rechtsprechung durch die Konstruktion des sog. „ökologischen Nachbarn“ einem sehr weiten Kreis natürlicher sowie juristischer Personen das „rechtliche Interesse“ zu, eine Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage (sog. „Aufhebungsantrag“) gegen umweltbeeinträchtigende Handlungen oder Unterlassungen zu erheben.[103]

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In anderen Bereichen setzten die Gerichte hingegen ihre bisherige Linie fort, eher zurückhaltend auf den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit zu reagieren. Als Beispiele dieser Haltung können die Beschränkung des verfassungsrechtlichen Schutzes des Eigentums auf die dinglichen Rechte[104] sowie (in aller Regel) die Annahme der Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Erlöschens von Ansprüchen, die durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen anerkannt worden sind,[105] erwähnt werden. Ebenfalls zurückhaltend reagierte der Staatsrat im Rahmen seiner gutachterlichen Tätigkeit auf die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen mit vitaler Bedeutung für das Gemeinwesen.[106] Während dieser Periode hielt die Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung also die Balance zwischen Selbstbeschränkung und Aktivismus, ohne aber die Prioritätensetzung im Einzelnen immer überzeugend begründen zu können.

dd) 1997 bis heute: Die Ära der Rationalisierung

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Seit 1997 kann man allmählich eine vierte Periode in der Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung beobachten, die zu einer größeren Harmonisierung der Maßstäbe der richterlichen Tätigkeit führte. Traditionelle Auffassungen der griechischen Gerichte sind auch unter dem Einfluss des Völkerrechts aufgegeben worden. Das gesetzliche Verbot der Zwangsvollstreckung gegen den Staat[107] sowie die günstige Behandlung des Staates als Prozesspartei[108] wurden aufgehoben bzw. relativiert. Außerdem ist die Beschränkung des verfassungsrechtlichen Schutzes des Eigentums auf die dinglichen Rechte nunmehr von begrenzter praktischer Bedeutung, nachdem der Areopag (Άρειος Πάγος), das oberste Zivil- und Strafgericht, seit dem Jahre 1998 unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) allen vermögenswerten Rechten den Schutz des Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls EMRK zuerkennt.[109]

 

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Anderen Verfassungsgütern wurde während dieser Periode neuer Inhalt eingeräumt, der ihre Tragweite erheblich erweitert. So hat der Staatsrat beispielsweise im Jahre 1998 beschlossen, dass der Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter positive Maßnahmen erlaubt, die auf die Herstellung tatsächlicher Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen abzielen.[110] Im Fall der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes ist der Staatsrat entgegen früheren Bedenken schließlich dem Areopag gefolgt und hat diesen Grundsatz zunehmend dazu gebraucht, um den Anwendungsbereich der fraglichen Gesetzesbestimmung auf Gruppen zu erstrecken, die gleichheitswidrig von einer Leistung ausgeschlossen wurden.[111] In Bezug auf die Grenzen der Privatisierung betonte der oberste Verwaltungsgerichtshof, dass es die Prinzipien der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung verbieten, juristischen Personen des Privatrechts polizeiliche Befugnisse zu verleihen.[112] Aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 26 Verf.) in Verbindung mit dem Gleichheitssatz (Art. 4 Abs. 1 Verf.) und dem Recht auf Rechtsschutz (Art. 20 Abs. 1 Verf.) leitet der Staatsrat nunmehr ein allgemeines Verbot des Erlöschens von Ansprüchen ab, die durch rechtskräftige Entscheidungen anerkannt worden sind.[113] Schließlich wird dem Vertrauensschutzprinzip im Gegensatz zu früheren Ambivalenzen jetzt eindeutig Verfassungsrang zuerkannt.[114]

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Auf der anderen Seite kann eine Relativierungstendenz der früheren Rechtsprechung zum Umweltschutz bei allen dogmatischen Bedenken gegen die konkrete Vorgehensweise des Staatsrates[115] ebenfalls zur Harmonisierung der Maßstäbe der gerichtlichen Kontrolle beitragen. Gemäß der neuen Rechtsprechung ist eine Verletzung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung im Zuge einer Abwägung nur dann zu bejahen, wenn der von einem Werk bzw. einer Tätigkeit hervorgerufene Umweltschaden irreversibel oder eindeutig unverhältnismäßig im Vergleich zu dem erwarteten Nutzen ist, sodass er offensichtlich gegen diesen Grundsatz verstößt.[116] In ähnlichem Sinne werden die Voraussetzungen zur Bejahung der Klagebefugnis in Umweltschutzfragen neuerdings strenger ausgelegt.[117]

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › II. Die Verfassungsentwicklung › 2. Die großen Konflikte und die Dynamik der Verfassungsentwicklung

2. Die großen Konflikte und die Dynamik der Verfassungsentwicklung

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Was die Konflikte in der Verfassungsentwicklung angeht, kann im Rahmen dieses Beitrags nur beispielhaft auf die wichtigsten hingewiesen werden. Während einige in der Vergangenheit heftig umstrittene Fragen heute als obsolet erscheinen,[118] wird im vorliegenden Zusammenhang auf manche Konflikte eingegangen, die auch zukünftige Bedeutung haben oder angesichts ihrer Hauptakteure als bemerkenswert erscheinen. In diesem Sinne kann man unter der Verfassung von 1975 eine Entwicklung in der Dynamik der Verfassungskonflikte feststellen.

a) Verfassungskonflikte als Ausdruck der politischen Polarisierung

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Ungefähr die erste Hälfte der Geltung der Verfassung bis Ende der 1980er Jahre war bei allen Konsensmomenten grundsätzlich von einem hohen Maß an politischer Polarisierung gekennzeichnet. Die Verfassungskonflikte entwickelten sich hauptsächlich zwischen der jeweiligen Regierung und der Hauptopposition, für die die Verfassung Argumente im politischen Kampf lieferte. Die Rolle sowohl der rechtsprechenden Gewalt als auch der gesellschaftlichen Gruppierungen war hingegen von eher nebensächlicher Bedeutung.

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Die heftige Debatte zur Verfassungsänderung von 1986 bietet sich als Beispiel dafür an: Die überraschenden Entscheidungen der Führung der sozialistischen Regierungspartei, eine Verfassungsänderung vorzuschlagen, um die Zuständigkeiten des Präsidenten der Republik drastisch einzuschränken, und die Wiederwahl des historischen Führers der konservativen Opposition Karamanlis als Präsidenten der Republik nicht zu unterstützen, erweckten den Eindruck einer parteipolitisch inszenierten Verfassungsänderung. Wie im Jahre 1975 blieb die Hauptopposition auch 1986 der Verabschiedung der Verfassungsänderung im Parlament fern. Der parteipolitische Schwerpunkt der Auseinandersetzung überschattete die (ebenfalls heftige) wissenschaftliche Debatte. So wurde von einem Teil des Schrifttums die Auffassung vertreten, dass die Einschränkung der Zuständigkeiten des Staatsoberhaupts notwendig war, um die Geltung des parlamentarischen Regierungssystems zu gewährleisten und die Regierungspolitik von einer latenten Bevormundung des Präsidenten der Republik zu befreien.[119] Der überwiegende Teil des Schrifttums meinte hingegen (nicht zu Unrecht), dass die Verfassungsrevision mit diesem Schwerpunkt gefährlich war, weil sie ein einheitliches aus der Regierung und der Parlamentsmehrheit bestehendes Machtzentrum einführte, das die Allmacht des in der Partei, der Fraktion und der Regierung dominierenden Premierministers ermöglichte.[120]

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Die mit der Verfassungsrevision zusammenhängende Wahl des Präsidenten der Republik im Jahre 1985 war von mehreren Verfassungskonflikten zwischen den politischen Akteuren begleitet. Auslöser war dabei, dass die Vorschrift des Art. 32 Abs. 1 a.F. Verf., der eine geheime Abstimmung für die Wahl des Präsidenten der Republik vorsah, verletzt wurde. Der von der Regierungsmehrheit vorgeschlagene Kandidat erreichte übrigens genau 180 Stimmen, so viele, wie die Verfassung für die Wahl des Präsidenten der Republik ohne Auflösung des Parlaments fordert (vgl. Art. 32 Abs. 3 Unterabs. 3). Damit wurde die Frage aktuell, ob der Präsident des Parlaments, der gemäß Art. 34 Abs. 1 Verf. den bereits zurückgetretenen Präsidenten der Republik vertrat, an der Wahl des nächsten Präsidenten der Republik teilnehmen durfte. Die verfassungsrechtliche Kontroverse[121] betraf die Frage, ob der Präsident des Parlaments den Präsidenten der Republik als Person[122] oder als Institution[123] ersetzt. Nach der ersten Alternative darf der Präsident des Parlaments an der Wahl des Präsidenten der Republik nicht teilnehmen, weil Art. 30 Abs. 2 Verf. Anwendung findet, wonach das Amt des Präsidenten der Republik „mit jedem anderen Amt, jeder anderen Stellung oder Tätigkeit“ unvereinbar ist, wobei es nach der zweiten Alternative, die sich auch praktisch durchsetzte, kein verfassungsrechtliches Problem gibt.

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Diesem Konfliktmodell entspricht auch die 1987 aus Anlass eines Antrags auf die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses für die Aufdeckung von Missständen bei der Verwaltung öffentlicher Gelder aktuell gewordene Frage, ob die Parlamentsminderheit verfassungsrechtlich in der Lage ist, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses herbeizuführen.[124] Während Art. 68 Abs. 2 Unterabs. 1 Verf. vorschreibt, dass das Parlament „mit der Mehrheit von zwei Fünfteln der Gesamtzahl der Abgeordneten“ Untersuchungsausschüsse aus den Reihen seiner Mitglieder einsetzt, gibt dieser Wortlaut keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob die positiven Stimmen der zwei Fünftel der Gesamtzahl der Abgeordneten ausreichen oder ob hingegen die positiven Stimmen darüber hinaus die ablehnenden Stimmen übersteigen müssen. Während sich die Lehre mehrheitlich für die erste Option aussprach,[125] wurde die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vom Parlamentspräsidium abgelehnt.

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Andere parteipolitische Konflikte waren nur politische Krisen innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens. Das gilt z.B. für die heftig kritisierte Ernennung der Präsidenten und Vizepräsidenten der obersten Gerichtshöfe, die gemäß Art. 90 Abs. 5 Verf. „durch Präsidialverordnung auf Vorschlag des Ministerrates“ erfolgt und gemäß Art. 90 Abs. 6 Verf. beim Staatsrat nicht angefochten werden darf. Trotz der gelegentlichen Heranziehung verfassungsrechtlicher Argumentation ging es in solchen Fällen vornehmlich um einen politischen Konflikt, auf den die Verfassung bei allen verfassungspolitischen Bedenken eine klare Antwort gab.[126]

b) Verfassungskonflikte einer Übergangszeit

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Der Anfang der 1990er Jahre kann als Übergangszeit in der griechischen Verfassungsentwicklung bezeichnet werden.[127] Als Rückwirkung der Polarisierung der 1980er Jahre kam es zunächst zu lebhaften Kontroversen mit Bezug auf die Modalitäten der strafrechtlichen Verantwortung von Regierungsmitgliedern. 1989/1990 wurde zudem zum einzigen Mal unter der Verfassung von 1975 ein Wahlsystem angewandt, das die Erreichung einer absoluten Mehrheit im Parlament erheblich erschwerte. Dies führte zu einer verfassungsrechtlich dominierten öffentlichen Debatte. Dabei stellten sich die Fragen, ob der Premierminister Abgeordneter sein muss,[128] welches die erforderliche Mehrheit für die Annahme eines Vertrauensantrags einer neuen Regierung ist[129] und ob der Präsident der Republik[130] oder der Träger des Sondierungsauftrags[131] beurteilt, welche Möglichkeiten es für die Bildung einer Regierung gibt, die das Vertrauen des Parlaments genießt. Wie auch immer die Bedeutung dieser Konflikte erscheinen mag, ihre praktische Relevanz ist unter dem heute geltenden und von den zwei größten Parteien weiterhin favorisierten „verstärkten Verhältniswahlsystem“[132] beschränkt.

c) Die neue Dynamik der Verfassungskonflikte

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In der zweiten Hälfte der Geltungsdauer der Verfassung von 1975 zeichnet sich demgegenüber eine zunehmende Konvergenz der parteipolitischen Akteure ab,[133] deren Auslegungsansätze und Änderungsinitiativen großteils übereinstimmen. Überparteiliche Koalitionen werden verstärkt gebildet und die fortbestehenden Unstimmigkeiten sind meistens nur auf eine konjunkturell unterschiedliche politische Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition zurückzuführen. Zugleich sind andere Kräfte als Hauptakteure der Verfassungskonflikte hervorgetreten.

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Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf die Rolle der rechtsprechenden Gewalt hinzuweisen. Wie schon angedeutet, entwickelte sich insbesondere in den 1990er Jahren eine bemerkenswerte Rechtsprechung des Staatsrates zu Umweltfragen.[134] Während die Protagonisten dieser Rechtsprechung das Umweltschutzpotential der Judikative gegenüber den anderen staatlichen Gewalten hervorhoben,[135] löste diese Rechtsprechung aber auch Kritik aus, und zwar dahingehend, dass die richterlichen Grenzen überschritten würden.[136] Nach dieser Auffassung bevorzugte der Staatsrat manchmal rein abstrakt den Umweltschutz gegenüber anderen Verfassungsgütern und engte die Abwägungsspielräume der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt ungerechtfertigt ein. Die Hauptakteure dieses Konflikts waren der Staatsrat – insbesondere seine für Umweltfragen zuständige V. Kammer – und die jeweilige Regierung. Trotz der manchmal zu beobachtenden Instrumentalisierung des Konflikts für parteipolitische Zwecke war die Rolle der jeweiligen Parlamentsopposition unerheblich. Im Übrigen führte die weit reichende Lockerung der Voraussetzungen für die Einreichung einer Klage seitens der Rechtsprechung[137] dazu, dass die einzelnen Bürger und Bürgergruppierungen einen wesentlichen Beitrag zur Ausgestaltung der Umweltschutzrechtsprechung spielen konnten. Der schwelende Verfassungskonflikt erreichte einen ersten Höhepunkt, als die Parlamentsmehrheit im Jahre 1993 eine Gesetzesvorschrift (Art. 12 G. 2145/1993) erließ, die einen großen Teil der umweltrechtlichen Zuständigkeiten der V. Kammer des Staatsrates auf andere Kammern des Gerichts verteilte.[138] Diese Vorschrift wurde durch eine umstrittene Plenumsentscheidung des Staatsrates als unvereinbar mit der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit aufgehoben, da sie auf kein tatsächliches Bedürfnis der Organisation der Gerichtsbarkeit abziele.[139] Um die gerichtliche Kontrolle zu umgehen, wurde ferner im Jahre 1995 gesetzlich vorgesehen (Art. 7 G. 2238/1995), dass die Umweltbedingungen von Industrieanlagen mit besonderer Bedeutung für die nationale Wirtschaft nicht mehr durch Rechtsverordnung, sondern durch (formelles) Gesetz gestellt werden, das nur einer inzidenten verfassungsrechtlichen Überprüfung unterliegt.[140] Schließlich versuchte eine überparteiliche Koalition im Rahmen der Verfassungsrevision von 2001 grundsätzlich erfolglos, die Umweltschutzrechtsprechung des Staatsrates zu relativieren. Indem die Zuständigkeit der Kammern der obersten Gerichte, ein förmliches Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, abgeschafft wurde (vgl. Art. 100 Abs. 5 Verf.), wies der verfassungsändernde Gesetzgeber aber den Staatsrat in engere Schranken.

 

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In diesem Zusammenhang ist auch auf die im Jahre 2000 aktuell gewordene Auseinandersetzung über die Angabe der Religionszugehörigkeit in den Personalausweisen hinzuweisen,[141] die die Debatte über das Staat-Kirche-Verhältnis verschärfte. Die Ansicht des damaligen Justizministers, des Rechtsprofessors Michalis Stathopoulos, wonach die gesetzlich geforderte Angabe der Religionszugehörigkeit in den Personalausweisen gegen die Datenschutzgesetzgebung verstoße, wurde von der unabhängigen Behörde zum Datenschutz und schließlich von der Regierung insgesamt aufgegriffen und im Ergebnis vom Staatsrat bekräftigt, der zu dem Ergebnis kam, dass sogar die freiwillige Angabe der Religionszugehörigkeit in den Personalausweisen gegen die verfassungsrechtlich gewährleistete Religionsfreiheit verstößt.[142] Den Gegenpol dazu bildete die in Griechenland laut Verfassung „vorherrschende“ östlich-orthodoxe Kirche,[143] deren Auffassung sich die parlamentarische Opposition anschloss.

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Die Kontroverse zum Vermögen der ehemaligen königlichen Familie Griechenlands kann ebenfalls als Beispiel der neuen Dynamik der Verfassungskonflikte erwähnt werden.[144] Während der ehemalige König die Auffassung vertrat, dass das Vermögen seiner Familie zu Unrecht entschädigungslos enteignet worden war, kamen die griechischen Gerichte zu dem Ergebnis, dass Art. 1 Abs. 1 Verf., der eine republikanische Staatsform bestimmt, vor dem Hintergrund seines Ursprungskontexts das königliche Vermögen dem Staat zuerkannt hat.[145] Obgleich der EGMR Griechenland wegen Verletzung des Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls der EMRK verurteilte,[146] blieb die der ehemaligen königlichen Familie schließlich zugebilligte Entschädigung weit hinter ihren Forderungen zurück.[147] Trotz einiger parteipolitischer Ausprägungen des Streits waren die Hauptakteure dieses Konflikts einerseits die Regierung und andererseits der frühere König.

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Die Verfassungsrevision von 2001 ist als einvernehmlich bezeichnet worden, da ihre Grundzüge von den großen politischen Parteien mitgetragen wurden.[148] In diesem Sinne lässt sich eine Trennlinie zwischen der Konvergenz der politischen Parteien und den unterschiedlichen Auffassungen anderer Kräfte erkennen. Insbesondere die heftige Kritik der Umweltverbände und eines Teils des Schrifttums[149] sowie die zurückhaltende Reaktion des Plenums des Staatsrates[150] führten zu Modifikationen der ursprünglichen Vorschläge über die Revision der Art. 24 (Umweltschutz) und 95 (Zuständigkeiten des Staatsrates) der Verfassung. Eine überparteiliche Koalition führte zu der Konstitutionalisierung der Unvereinbarkeit des Abgeordnetenmandats mit der Ausübung irgendeines Berufs (Art. 57 Abs. 1 Unterabs. 3 Verf.) trotz Widerstands aus den eigenen Reihen der größeren Parteien.[151] Ebenso stimmten die zwei größten Parteien schließlich darin überein, dass die Beziehungen zwischen Kirche und Staat kein Gegenstand der Verfassungsänderung sein sollten; Gegenpol zu dieser Auffassung waren insbesondere die kleinen linken Parteien sowie ein Teil des wissenschaftlichen Schrifttums, die für eine Trennung von Staat und Kirche sowie für einen wirksameren Schutz der religiösen Minderheiten plädierten.[152] Trotz heftiger Differenzen in Einzelpunkten wurden schließlich die ausführlichen Regelungen zur Sicherung der Transparenz und des Pluralismus im Medienwesen (Art. 14 Abs. 9 Verf.) überparteilich, und zwar im Zuge eines „Meistgebotsverfahrens“ mitgetragen.[153]

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › II. Die Verfassungsentwicklung › 3. Schlüsselpersönlichkeiten und Schlüsseltexte in der Verfassungsentwicklung