Handbuch Ius Publicum Europaeum

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b) Der Bereich der Grundrechte – Der Streit um die „wehrhafte“ Demokratie

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Während die Diskussion der Ursprungsära überwiegend einen staatsorganisatorischen Schwerpunkt hatte, gab es auch mehrere Konfliktkonstellationen zu Grundrechtsthemen, die oft in Verbindung mit dem aus Deutschland stammenden Konzept der sog. „wehrhaften Demokratie“ in die griechische Debatte von 1975 eingebracht wurden. Der Verfassungsentwurf der Regierung enthielt entsprechende Elemente in den Vorschriften zum Grundrechtsmissbrauch und zum Verbot von politischen Parteien im Falle der Gefährdung der freiheitlichen Institutionen oder der territorialen Integrität des Landes.[33] Demgegenüber vertrat die Opposition die Auffassung, dass die Einführung solcher Befugnisse das Rechtsstaatsprinzip aufhebe, indem Handlungen, die nach der Strafgesetzgebung rechtmäßig seien, sanktioniert werden können.[34] Im Ergebnis haben sich die ursprünglichen Regierungsvorschläge nur teilweise durchgesetzt: Es wurde keine Möglichkeit vorgesehen, eine politische Partei zu verbieten, wobei festgelegt wurde, dass der Rechtsmissbrauch nicht gestattet ist (Art. 25 Abs. 3 Verf.), ohne aber Sanktionen im Missbrauchsfall vorzusehen. Sogar das lapidare Verbot des Rechtsmissbrauchs, wodurch überwiegend der Missbrauch von Grundrechten gemeint war, wurde dennoch einerseits als unerlässlich bzw. selbstverständlich, andererseits als gefährlich angesehen.[35]

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Als Ausprägung der Konzeption der sog. „wehrhaften“ Demokratie wurde auch das Ausmaß der möglichen Grundrechtseinschränkungen gemäß dem Regierungsentwurf kritisiert.[36] Zu den Schwerpunkten der politischen und wissenschaftlichen Kritik gehörte die Verhütung strafbarer Handlungen durch sog. „individuelle Verwaltungsmaßnahmen“, die die Bewegungsfreiheit im Inland einschränken, was den Eindruck einer Konstitutionalisierung der Verbannung erweckte. Dazu zählten des weiteren aber auch die weitgehenden Einschränkungen der politischen Tätigkeit sowie der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts der Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Obgleich alle diese Bestimmungen von der Opposition heftig kritisiert wurden, wurden sie in die Verfassung von 1975 aufgenommen.

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Die Modalitäten, welche die Gewährleistung des Eigentums betreffen, und die besondere Stellung der Gesetzgebung über den Schutz von ausländischem Kapital gemäß dem Regierungsentwurf gaben außerdem Anlass zu vielen Kontroversen im „Verfassungsändernden Parlament“ und darüber hinaus. Außerdem wurde die Forderung nach einer „sozialen Demokratie“, die eine Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit schafft, von der Berichterstattung der Mehrheit aufgegriffen.[37] Dementsprechend enthielt der Regierungsentwurf Vorschriften, die auf die staatliche Fürsorge für soziale Belange hinwiesen. Trotz der heftigen Kritik der Oppositionsparteien[38] verankerten diese Vorschriften jedoch in der Regel keinen Anspruch des Einzelnen auf soziale Leistungen.

c) Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche

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Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche stellten ebenfalls einen Streitpunkt im Verfassunggebungsverfahren dar. Im Vergleich zu früheren griechischen Verfassungen[39] wurde im Regierungsentwurf die Tendenz deutlich, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu lockern.[40] Die Religion der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi wurde zwar immer noch als „vorherrschend“ bezeichnet. Die in früheren Verfassungen herkömmliche religiöse Formel an der Spitze der Verfassung fehlte aber und die Bestimmungen zur Staatsform wurden der Regelung der Staat-Kirche-Beziehungen vorangestellt. Außerdem wurde der „Proselytismus“[41] allgemein und nicht nur gegenüber der vorherrschenden Religion verboten. Schließlich verschwand die Entwicklung des religiösen Bewusstseins aus dem verfassungsrechtlichen Bildungsauftrag.

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Die Konzeption dieses Entwurfs wurde zwei anderen Ansichten gegenübergestellt: Während alle Oppositionsparteien unmittelbar oder graduell – wenn auch nicht besonders nachdrücklich – für eine Trennung von Staat und Kirche plädierten, kritisierten einige theologische Kreise die angebliche Erniedrigung der Kirche durch die Neuerungen der geplanten Verfassung. Im Anschluss an diese Kritik wurden dann doch die Berufung auf den „Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit“ an der Spitze der Verfassung sowie ein Bezug auf die Entwicklung des Religionsbewusstseins als Bildungsauftrag in den endgültigen Text der Verfassung aufgenommen. Gleichwohl wurde das Modell der Trennung von Staat und Kirche auch von Regierungsvertretern theoretisch als das geeignetste beschrieben.[42] Der Bezeichnung der Östlich-Orthodoxen Kirche als „vorherrschende“ Religion wurde eine grundsätzlich nur deklaratorische Bedeutung zuerkannt, da sich die überwiegende Mehrheit des griechischen Volkes dazu bekennt. Sei es wegen der abgeschwächten Intensität des Konflikts, sei es wegen anderer Prioritätensetzung von Regierung und Opposition und ihrer damit zusammenhängenden Kompromissbereitschaft: Die staatskirchenrechtlichen Fragen blieben eher im Hintergrund der politischen Auseinandersetzung von 1975.

d) Zwischenergebnis: Die Verfassung von 1975 als Reaktion auf die historischen Erfahrungen

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Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass die Verfassung von 1975 einen Bruch mit der siebenjährigen Militärdiktatur darstellte. 1975 war es allerdings umstritten, ob die neue Verfassung darüber hinaus in der Lage sein würde, eine grundlegende Änderung in dem Staats- und Verfassungsverständnis herbeizuführen, das schon vor der Militärdiktatur in der politischen Wirklichkeit herrschte. Nach einem Teil des Schrifttums hatte die Verfassung von 1975 in der Tat „eine deutlich konservierende Funktion“,[43] indem der Präsident der Republik eine Barriere für die Verwirklichung sozialpolitischer Forderungen und institutioneller Reformen darstellte.[44] Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die Verfassung von 1975 lediglich eine Rückkehr zum vordiktatorischen Status quo ante oder vielmehr einen neuen Anfang für die griechische Verfassungsgeschichte zum Ausdruck bringen würde.

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In diesem Zusammenhang war streitig, ob die Verfassung von 1975 das Produkt einer „verfassungsändernden“ oder einer „verfassunggebenden“ Versammlung war. Während der Regierungsentwurf und der endgültige Verfassungstext von einem „verfassungsändernden“ Parlament sprechen, vertraten die Oppositionsparteien und die überwiegende Meinung im wissenschaftlichen Schrifttum die Auffassung, dass es sich mit der einzigen Ausnahme der Volksentscheidung über das Staatsoberhaupt um eine rechtlich ungebundene „verfassunggebende“ Versammlung handle.[45] Nach dieser Auffassung zeigte die Selbstbeschränkung des Parlaments, das sich selbst als verfassungsändernde Versammlung bezeichnete, die Absicht der Kontinuität mit der vordiktatorischen politischen und sozialen Ordnung. In diesem Streit erscheint die zweite Auffassung insbesondere deshalb überzeugender, weil die Frage der Wiedereinführung oder Abschaffung der Monarchie schlussendlich unmittelbar vom souveränen Volk entschieden worden war.[46] Im Nachhinein hat sich die Verfassung von 1975 als eine in der griechischen Geschichte einmalige demokratische und rechtsstaatliche Verfassung erwiesen, welche die Befürchtungen der kritischen Stimmen von 1975 kaum realisierte. Dabei kann die Frage, inwieweit der Verfassungstext diese Entwicklung sachlich initiiert oder nur zeitlich begleitet hat, ob also die Verfassungsentwicklung wegen oder trotz des Verfassungstextes so verlaufen ist, dahingestellt bleiben.

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › I. Entstehungskontext der Verfassung von 1975 › 4. Die definierenden Momente der Verfassunggebung

4. Die definierenden Momente der Verfassunggebung

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Wenn man die Momente, welche die Verfassunggebung definiert haben, aus der Perspektive der verfassunggebenden Akteure zusammenfassen wollte, kann man drei sich überschneidende Themenkomplexe erwähnen:

a) Die Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung

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Als erstes definierendes Motiv für die Autoren der Verfassung von 1975 kann die Schaffung der Voraussetzungen für die Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes erwähnt werden. Um diesem Bedürfnis gerecht zu werden, wurde dem Staat die Rolle eines Pioniers im Hinblick auf Entwicklung und Fortschritt zuerkannt.[47] Insbesondere die verfassungsrechtliche Stellung der Exekutive wurde durch die Anerkennung weitgehender Rechtsetzungsbefugnisse gestärkt (Art. 43, 44 Abs. 1 Verf.),[48] wobei die Rolle der zwei Spitzen der Exekutive, des Premierministers und des Präsidenten der Republik, dominierend war.[49] Ähnliche Zielsetzungen führten bei allen Garantien der unternehmerischen Freiheit zu der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines gewissen staatlichen Interventionismus in das wirtschaftliche Leben des Landes. Art. 106 Abs. 1 Verf. erkennt dem Staat die Rolle der Planung und Koordinierung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Lande zur Sicherung des gesellschaftlichen Friedens und zum Schutz des allgemeinen Interesses zu; wie noch zu sehen ist, sind außerdem besondere Einschränkungen der privaten wirtschaftlichen Initiative in der Verfassung vorgesehen. Ebenfalls dem Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung dient unter einem anderen ideologischen Ansatzpunkt die gesteigerte formelle Geltungskraft der Gesetzgebung über den Schutz von ausländischem Kapital (Art. 107 Verf.). Eng mit diesen Zielsetzungen hing die Schaffung der Voraussetzungen für den von der Regierungsmehrheit erwünschten Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft zusammen, worauf an anderer Stelle eingegangen wird.[50]

 

b) Die Stärkung und Neuorientierung der Grundrechte

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Im Bereich der Grundrechte ist die Verfassung von 1975 durch ihre Stärkung und Neuorientierung ihres Inhalts gekennzeichnet. Hauptzüge dieser Entwicklung waren die ausdrückliche Verankerung der Menschenwürdegarantie (Art. 2 Abs. 1) und des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 5 Abs. 1), aber auch die Ablehnung einer individualistischen zugunsten einer gemeinschaftsbezogenen Orientierung.[51] Als Ausprägungen dieser Tendenz sind sowohl die allgemeine Bestimmung des Art. 25 Verf. zu nennen, die die Rechte des Menschen „als Individuum und als Mitglied der Gesellschaft“ gewährleistet (Abs. 1 Satz 1), ihre Anerkennung und ihren Schutz als „auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschritts in Freiheit und Gerechtigkeit“ bezogen betrachtet (Abs. 2), bei allen diesbezüglichen Kontroversen den „Rechtsmissbrauch“ verbietet (Abs. 3) und von allen Bürgern „die Erfüllung ihrer Pflicht zu gesellschaftlicher und nationaler Solidarität“ fordert (Abs. 4), als auch die Verankerung mit gleichzeitiger Betonung der sozialen Schranken von individuellen Rechten, wie insbesondere der Rechte auf Eigentum[52] und auf private wirtschaftliche Tätigkeit.[53] Zugleich enthält die Verfassung von 1975 Gewährleistungen sozialen Inhalts durch Formulierungen, die manchmal ausdrücklich von „Rechten“ sprechen,[54] meistens aber auf die staatliche Fürsorgepflicht für soziale Belange hinweisen.[55] Diese Elemente waren in aller Regel in der Verfassung von 1952 nicht zu finden.

c) Die Garantien für die Einhaltung der Verfassung

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Angesichts der griechischen Verfassungsgeschichte war aber die Gewährleistung der tatsächlichen Beachtung der Verfassung vielleicht das wesentlichste Anliegen der verfassunggebenden Akteure. In diese Richtung gehen die Garantien des letzten Artikels der Verfassung von 1975 (Art. 120): Demgemäß sind die Treue zur Verfassung und zu den mit ihr in Einklang stehenden Gesetzen sowie die Hingabe an das Vaterland und die Demokratie eine Grundpflicht für alle Griechen (Abs. 2); jede Usurpation der Volkssouveränität wird nach Wiederherstellung der rechtmäßigen Ordnung verfolgt (Abs. 3); die Einhaltung der Verfassung wird dem Patriotismus der Griechen anvertraut, die berechtigt und verpflichtet sind, gegen jeden, der es unternimmt, die Verfassung mit Gewalt aufzulösen, mit allen Mitteln Widerstand zu leisten (Abs. 4). Von besonderer Bedeutung war zudem die formelle Aufhebung (vgl. Art. 111 Abs. 4 Verf.) der verfassungswidrigen „Verfassungsakte“ und „Beschlüsse“, die insbesondere während des Bürgerkriegs von 1946–1949 erlassen worden waren und die die Durchsetzung der Verfassung von 1952 unterminiert hatten. Im Übrigen hob die Verfassung von 1975 die Rolle der rechtsprechenden Gewalt bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Handelns hervor, indem sie bestimmte, dass die Gerichte ein Gesetz, dessen Inhalt gegen die Verfassung verstößt, nicht anwenden dürfen (Art. 93 Abs. 4). Außerdem sind die Richter bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben „nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen“ und dürfen sich in keinem Fall Bestimmungen fügen, „die in Auflösung der Verfassung erlassen wurden“ (Art. 87 Abs. 2). Bei allen Bedenken, die die überwiegend zentralistische Prägung der Stärkung der Exekutive erwecken mag, ist schließlich die „Verrechtlichung“ und die damit zusammenhängende Kontrollmöglichkeit insbesondere der exekutiven Rechtsetzung, die bereits früher ohne Grundlage in der Verfassung entwickelt worden war, aus rechtsstaatlicher Sicht zu begrüßen.[56] Die verfassunggebenden Akteure zielten mit allen diesen Vorkehrungen darauf ab, die Entwicklung einer Kluft zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit abzuwenden.

d) Die Unterlassungen der verfassunggebenden Akteure

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Definierende Bedeutung können auch Unterlassungen des Verfassunggebers haben. Im Entstehungskontext der griechischen Verfassung gilt dies für eine Verfassungsgerichtsbarkeit im eigentlichen Sinne. Die griechische Tradition der diffusen sowie inzidenten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der formellen Gesetze in Verbindung mit dem Versuch, von den „Verfassungstexten“ der Militärdiktatur Abstand zu nehmen,[57] führte dazu, dass die Verfassung von 1975 kein Verfassungsgericht europäischer Prägung vorsah.[58]

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › I. Entstehungskontext der Verfassung von 1975 › 5. Schlüsselfiguren und Schlüsseltexte der Gründungsphase

5. Schlüsselfiguren und Schlüsseltexte der Gründungsphase

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Wer den als Basis für die Verfassung von 1975 dienenden Regierungsentwurf verfasst hatte, ist offiziell nicht bekannt.[59] Allgemein wird angenommen, dass der spätere Präsident der Republik, der damalige Präsident des Verfassungsausschusses des Parlaments Konstantin Tsatsos, ein Professor der Rechtsphilosophie, eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der Grundlagen des Entwurfs spielte, und viele Vorschriften die lange parlamentarische Erfahrung des damaligen Präsidenten des Parlaments Konstantin Papakonstantinou zum Ausdruck brachten. Die zentralen Richtungen des Regierungsentwurfs trugen jedenfalls den Stempel des damaligen Premierministers Konstantin Karamanlis.

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Die meisten Oppositionsparteien reichten umfassende Gegenentwürfe ein. Einflussreicher waren allerdings wissenschaftliche Sammelwerke mit Vorschlägen zu der neuen Verfassung, insbesondere dasjenige einer Gruppe von Wissenschaftlern, zu denen zwei Schlüsselfiguren der griechischen Verfassungswissenschaft der Nachkriegszeit, Phaedon Vegleris und Aristovoulos Manessis, zählten.[60] Viele Vorschläge dieser Gruppe wurden auch von den Oppositionsparteien in ihrer Kritik aufgegriffen.

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Bei den Beratungen im Parlament, bei denen nicht unwichtige Änderungen im Regierungsentwurf vorgenommen wurden, die aber seine Grundstruktur nicht änderten, soll die Rolle des Generalberichterstatters der Parlamentsmehrheit Dimitrios Papaspyrou[61] sowie des Justizministers Konstantin Stefanakis hervorgehoben werden. Auf der anderen Seite einigten sich alle Oppositionsparteien auf die sog. „Allgemeine Berichterstattung der Parlamentsminderheit“, die der Abgeordnete und Professor für Verfassungsrecht Dimitris Tsatsos abgefasst hatte.[62]

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › II. Die Verfassungsentwicklung

II. Die Verfassungsentwicklung

§ 3 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Griechenland › II. Die Verfassungsentwicklung › 1. Zentrale Entwicklungslinien

1. Zentrale Entwicklungslinien
a) Verfassungsentwicklung durch Verfassungsänderung

aa) Die Verfassungsänderung von 1986

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Obgleich der konservative Präsident der Republik Konstantin Karamanlis seit 1981 der sozialistischen Regierung von Premierminister Andreas Papandreou gegenüberstand, wurden die sog. „Übermächte“ des Präsidenten der Republik in der Praxis niemals dem Parlament oder der Regierung gegenüber ausgeübt. Trotz des politischen Bizentrismus der Verfassung war die Rolle des Premierministers in der politischen Wirklichkeit dominierend, wobei das Verhältnis des Präsidenten der Republik zur Regierung grundsätzlich harmonisch zu verlaufen schien. Die Ankündigung einer Verfassungsänderung im Jahre 1985[63] erfolgte also eher überraschend.

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Bei der im Jahre 1986 vollendeten Revision blieb die Bezeichnung des Präsidenten der Republik im Verfassungstext als des „Regulators der Staatsform“ beibehalten, die meisten seiner bedeutenden Zuständigkeiten wurden aber abgeschafft.[64] Demgemäß hat der Präsident der Republik keine Befugnis mehr, die vom Parlament beschlossenen Gesetze zu sanktionieren und die Regierung zu entlassen, und er kann nur unter strengen Bedingungen die Initiative für die Auflösung des Parlaments ergreifen (Art. 41 Abs. 1 Satz 1). Bei der Erteilung von Sondierungsaufträgen (Art. 37), der Anordnung einer Volksabstimmung (Art. 44 Abs. 2) und der Erklärung des Ausnahmezustands (Art. 48) wurde zudem die Rolle des Staatsoberhaupts auf die Durchführung eines in der Verfassung im Detail vorgesehenen Verfahrens beschränkt. Die Rolle des „Regulators der Staatsform“ wurde demzufolge eher zeremonieller Natur[65] und die Stellung der Regierung, in der Praxis des Premierministers, wurde stattdessen erheblich gestärkt. Entgegen der ursprünglichen Ankündigungen, die sich allgemeiner auf die Stärkung des Parlaments und die Bekräftigung der Volkssouveränität bezogen, berührte die Verfassungsrevision von 1986 diese Punkte nicht unmittelbar.

bb) Die Verfassungsänderung von 2001

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Obwohl die beiden größten politischen Parteien die Verfassung von 1975 mittlerweile als eine gelungene Verfassung beurteilten, kam es im Jahre 2001 zu einer außergewöhnlich umfassenden Verfassungsänderung.[66] Die Revision von 2001 bekräftigte zwar frühere Entwicklungen der Staatspraxis,[67] sie änderte die Grundstrukturen aber nicht wesentlich.

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Unabhängig von den ursprünglichen Intentionen der verfassungsändernden Akteure[68] war diese Revision von einem beträchtlichen Misstrauen gegenüber aller staatlichen Gewalt sowie jeder gesellschaftlichen Macht geprägt.[69] Diese Feststellung gilt zunächst für das (ex definitionem von Misstrauen gekennzeichnete) Grundrechtskapitel, wo die Revision von 2001 Änderungen in Richtung der Erweiterung des Grundrechtsschutzes mit sich brachte, etwa die ausdrückliche Verankerung des Prinzips des sozialen Rechtsstaates, die Institutionalisierung der Drittwirkung und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Art. 25 Abs. 1 Verf.), die Gewährleistung „neuer“ Grundrechte[70] sowie neue Garantien bereits verankerter Grundrechte.[71] Insbesondere aber die verfassungsrechtliche Verankerung der so genannten unabhängigen Behörden (ανεξάρτητες αρχές)[72] erklärt sich aus diesem Misstrauen; ihre Aufnahme ist ungeachtet aller Bedenken insbesondere unter dem Gesichtspunkt der traditionellen Lehre der Gewaltenteilung[73] grundsätzlich zu begrüßen. In der Verfassung wurden fünf besondere „unabhängige Behörden“[74] sowie eine allgemeine Regelung mit Garantien der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder (Art. 101A Verf.) vorgesehen. Letztere Vorschrift normiert auch (Abs. 2 Satz 3) die Auswahl der Mitglieder der unabhängigen Behörden von der „Konferenz der Parlamentspräsidenten“ mit einer Mehrheit von mindestens vier Fünfteln ihrer Mitglieder.[75]

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Das Misstrauen gegenüber der Exekutive erklärt auch die Änderung der Vorschrift über die Auswahl der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe. Obgleich die Regierung diese Zuständigkeit beibehält, ist nunmehr vorgesehen, dass die Amtsdauer dieser obersten Richter nicht mehr als vier Jahre betragen darf (Art. 90 Abs. 5 Verf.). Damit ist die Exekutive nicht mehr in der Lage, politisch nahestehende Richter unbeschränkt bis zu ihrem Ruhestand an die Spitze der Gerichtsbarkeit zu holen. Als in dieselbe Richtung gehend können die ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung der Befolgung von Gerichtsentscheidungen seitens der Verwaltung sowie ihrer Zwangsvollstreckung gegen den Staat erwähnt werden (Art. 94 Abs. 4 Sätze 2–3 Verf.).[76] Das Misstrauen gegenüber der Legislative kam dadurch zum Ausdruck, dass Änderungen im Wahlsystem erst ab den übernächsten Wahlen gelten, es sei denn, dass ihre Geltung ab den nächsten Wahlen von einer Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten gebilligt wird (Art. 54 Abs. 1 Verf.). In Bezug auf die einzelnen Abgeordneten wurde außerdem das Abgeordnetenmandat für unvereinbar mit der Ausübung irgendeines Berufs erklärt (Art. 57 Abs. 1 Unterabs. 3 Verf.).[77] Ferner zeigte die Revision von 2001 ein Misstrauen des verfassungsändernden Gesetzgebers gegenüber der Judikative: Obwohl das Modell der diffusen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen beibehalten wurde, wurde vorgesehen (Art. 100 Abs. 5 Verf.), dass die Kammern der obersten Gerichtshöfe, die eine Gesetzesbestimmung als verfassungswidrig ansehen, grundsätzlich obligatorisch diese Frage an das Plenum verweisen. Ebenfalls als Reaktion auf die frühere Rechtsprechung werden Streitigkeiten hinsichtlich der Gehalts- und Rentenzahlungen der richterlichen Amtsträger nunmehr von einem Sondergericht entschieden, an dem mehrheitlich Rechtsprofessoren und Rechtsanwälte teilnehmen (Art. 88 Abs. 2 Unterabs. 2 i.V.m. Art. 99 Verf.).

 

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Durch die Gewährleistungen zur Sicherung der Transparenz und des Pluralismus in den Bereichen des Medienwesens (Art. 14 Abs. 9 Verf.) und der Parteienfinanzierung (Art. 29 Abs. 2 Verf.) wurde schließlich das Misstrauen gegenüber der wirtschaftlichen Macht und ihrer „Verflechtung“ mit der politischen Macht zum Ausdruck gebracht. Was das Medienwesen betrifft, ist vorgesehen, dass der Eigentumsstatus, die finanzielle Situation und die Finanzierungsmittel der Massenmedien offen gelegt werden müssen. Die Konzentration mehrerer Massenmedien in einer Hand ist verboten. Ferner wird die Unvereinbarkeit der Eigenschaft des Eigentümers (oder Gesellschafters, Hauptaktionärs oder Geschäftsführers) eines Massenmedienunternehmens mit der Eigenschaft des Eigentümers u.a. eines Unternehmens eingeführt, welches die Verwirklichung von Arbeiten, Lieferungen oder Dienstleistungen gegenüber dem Staat übernimmt. Ausführliche Regelungen schützen bereits auf der Verfassungsebene vor einer Umgehung dieses Verbots. Bezüglich der Parteienfinanzierung[78] gewährleistet der revidierte Art. 29 Abs. 2 Verf. das Recht der politischen Parteien auf staatliche finanzielle Unterstützung für ihre Wahl- und Funktionalausgaben und führt weiter aus, dass ein Gesetz u.a. eine Höchstgrenze an Wahlausgaben vorsieht und bestimmte Formen von Wahlpropaganda verbieten kann, wobei die Verletzung dieser Vorschriften zum Verlust des Abgeordnetenmandats führen kann. Die Verflechtung politischer und wirtschaftlicher Macht wird aus gutem Grund als Herausforderung für die Demokratie empfunden. Insbesondere die detaillierte Ausgestaltung des Art. 14 Abs. 9 Verf. entspricht aber der gewohnten Regelungstechnik der Verfassung nicht und hat schon Vereinbarkeitsprobleme mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht aufgeworfen.[79]