Handbuch Ius Publicum Europaeum

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3. Die strukturierenden Grundsätze des Systems

a) Republik: allgemeine Betrachtungen

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Republik ist zunächst als eine Regierungsform zu begreifen, in der politische Mandate zeitweilig anvertraut werden, also weder lebenslänglich noch vererbbar sind.[186] Die Republik in eben diesem formellen Sinn wird durch Art. 89 Abs. 5 CF garantiert, nach dessen Maßgabe „die republikanische Regierungsform nicht zum Gegenstand einer Änderung gemacht werden“ kann.[187] Indes stand die „Republik“ in der französischen Vorstellung von Politik schon immer für mehr. Sie ist, vom Standpunkt des „Republikanimus“ aus betrachtet, dessen ideologische Ursprünge zumindest auf Rousseau zurückgehen, die Substanz des französischen Staats. Sie trägt also auch einen materiell-normativen Gehalt. Dieser hat eine „Tradition“ begründet, die auch eine gewisse juristische Tragweite hat.[188] Diese republikanische Substanz ist auf zwei Arten verfassungsrechtlich garantiert: die Anerkennung des juristischen und verfassungsrechtlichen Wertes der „von den Gesetzen der Republik anerkannten Fundamentalprinzipien“, und die Aufzählung der Eigenschaften der Republik in Art. 1 Satz 1 CF.

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Die Präambel der Verfassung von 1946 verkündet feierlich die Verbundenheit des französischen Volkes mit den „von den Gesetzen der Republik anerkannten Fundamentalprinzipien“[189]. Wie schon erwähnt, hat der Conseil constitutionnel der Präambel der Verfassung von 1958, die Bezug nimmt auf die Präambel der Vierten Republik, entnommen, dass die von Gesetzen der Republik anerkannten Fundamentalprinzipien selbst von Verfassungsrang sein müssten (oben Rn. 40). Folglich wird eine gewisse Gesetzgebungstradition der Republik in Verfassungsrang erhoben. Doch werden hierdurch nicht die republikanischen Gesetze selbst konstitutionalisiert, sondern nur das jeweilige „Prinzip“, das sie „anerkennen“. Es handelt sich also darum, mittels Interpretation und unter Zugrundelegung eines oder mehrerer republikanischer Gesetze ein Prinzip ausfindig zu machen, das der historische Verfassungsgesetzgeber hat rechtlich verankern wollen. Zu beachten ist auch, dass diesen Prinzipien als Verfassungsnorm unter dem Einfluss der Verfassung der Fünften Republik die Bedeutung ungeschriebenen Verfassungsrechts zukommt. Über diese spezifische Konstruktion wurden inzwischen Verfassungsrang zugesprochen: der Vereinigungsfreiheit, der Achtung der Strafverteidigungsrechte, der Freiheit der Lehre, der Existenz und Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, deren Zuständigkeit für die Aufhebung einseitiger Verwaltungsmaßnahmen, der Unabhängigkeit der Universitätsdozenten sowie der Verpflichtung des Staates, die Auslieferung von Ausländern zu verweigern, wenn die Auslieferungsanfrage ein politisches Ziel verfolgt.

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Des Weiteren sind in der Verfassung die grundsätzlichen und substanziellen Eigenschaften der Republik aufgezählt, die „unteilbar, laizistisch, demokratisch und sozial“ ist (Art. 1 Satz 1 CF). Satz 2 verknüpft dieses substanzielle republikanische Prinzip mit der „Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, der Rasse oder Religion“[190].

b) Die dezentralisierte Republik

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Der Zentralismus ist unbestritten eine französische Tradition, und die Revolution verstärkte sogar noch diesen bis ins Ancien Régime zurückreichenden Brauch. Schon die Verfassungen von 1793, 1795, 1799 und 1848 proklamierten die Republik als „eine und unteilbare“[191]. Demzufolge konnte der Staat nur als Einheitsstaat konzipiert und konstituiert werden. Die Formel der Verfassung von 1946 wurde in die Verfassung von 1958 übernommen: „Frankreich ist eine unteilbare Republik“ (Art. 1 Satz 1 CF).[192] Demgegenüber fügte das Verfassungsänderungsgesetz vom 28. März 2003 Art. 1 CF einen letzten Satz hinzu: „Ihre Organisation [i.e. der Republik] ist dezentralisiert.“[193] Die Dezentralisierung ist freilich kein neues Phänomen;[194] schon die Julimonarchie hatte einige Schritte in Richtung der „lokalen Freiheiten“ unternommen. Auch in der Dritten Republik wurde durch das Gesetz vom 10. August 1871 zur Verfassung der Départements (der sog. Charte des Départements) sowie durch das Gesetz vom 5. April 1884 zur kommunalen Verfassung recht schnell eine genuine Dezentralisierung in die Wege geleitet. Trotz mehrerer Veränderungen blieben die Grundprinzipien dieser beiden Gesetze bis 1982 in Kraft.

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Das Gesetz vom 2. März 1982 und einige im folgenden Jahr verabschiedete Gesetze hatten eine Umgestaltung der lokalen Verwaltung zum Gegenstand. Die Staatsaufsicht wurde stark gelockert, die Regionen als Gebietskörperschaften (collectivités territoriales) errichtet.[195] Des Weiteren wurde die Exekutive der Départements und Regionen nun nicht mehr dem Préfet als lokalem Staatsvertreter, sondern einem vom jeweiligen Rat gewählten Präsidenten anvertraut. Nicht zuletzt wurden die Kompetenzen der Gebietskörperschaften insgesamt stark ausgeweitet, um die Autonomie der Gemeinden, Départements und Regionen zu sichern. Zu Recht gilt diese Reform als Markstein des Dezentralisierungsprozesses in Frankreich.

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Mit der 2003 verabschiedeten Reform hat der Begriff der Dezentralisierung erstmals Eingang in einen französischen Verfassungstext gefunden (Art. 72ff. CF). Allerdings setzt die Verfassungsänderung von 2003 eine subtile Unterscheidung voraus: Die Republik als politischer Körper ist und bleibt „unteilbar“, ihre Verwaltungsorganisation ist jedoch dezentralisiert. Auch ersteres trifft nur bedingt zu, da manche Gebiete in Übersee, auch in internationalen Angelegenheiten, tatsächlich über politische Entscheidungskompetenzen verfügen. Im Hinblick auf diese überseeischen Verhältnisse wurde schon 1982 die Frage aufgeworfen, ob Frankreich unbewusst nicht eine Föderation sei.[196] Der 1998 oktroyierte Verfassungsstatus Neukaledoniens setzte noch Akzente in Bezug auf diese Pluralisierung des französischen Staats. Kurz: Die Verfassungsnovelle von 2003 garantiert den Gebietskörperschaften Normsetzungsbefugnisse, eröffnet ihnen unter strengen Voraussetzungen die Möglichkeit zur Abweichung von manchen Gesetzesbestimmungen, führt das Subsidiaritätsprinzip ein, ermöglicht das lokale Referendum und legt die Grundsätze der finanziellen Beziehungen zwischen Staat und Gebietskörperschaften fest.

c) „Demokratie“ und „nationale Souveränität“

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Gemäß Art. 1 CF ist die Republik „demokratisch“[197]. Diese Eigenschaft wird sogleich in Art. 3 CF übersetzt, nach dem „die nationale Souveränität beim Volke liegt, das sie durch seine Vertreter und das Referendum ausübt“. Im Grundsatz ist die Demokratie nicht rein repräsentativ. Über die Deutung, dass das Referendumsgesetz (oben Rn. 44) die „unmittelbare Ausübung nationaler Souveränität“ darstellt, arbeitet der Conseil constitutionnel den Unterschied zwischen den beiden Arten der Souveränitätsausübung heraus. Einzige Konsequenz dieser Unterscheidung liegt darin, dass der Conseil constitutionnel nicht für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Referendumsgesetzen zuständig ist. Im Gegenzug räumt die Norm ein, dass parlamentarische Gesetze ein Referendumsgesetz abändern oder gar aufheben können. Eine formelle Hierarchie zwischen beiden Gesetzeskategorien besteht also nicht.

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Das Demokratieprinzip findet Ausdruck in der Allgemeinheit des Wahlrechts. Die Bestimmung der Ausübungsvoraussetzungen des aktiven und passiven Wahlrechts gehört zum Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers. Dieser Zuständigkeitsbereich ist indes durch Art. 3 Abs. 4 CF verfassungsrechtlich begrenzt: „Wahlberechtigt sind nach Maßgabe des Gesetzes alle volljährigen französischen Staatsangehörigen beiderlei Geschlechtes, die im Besitz ihrer bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sind.“ Der Gesetzgeber setzt hiernach das Wahlalter sowie die Motive und Verfahren fest, nach denen ein französischer Staatsangehöriger in seinen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten eingeschränkt werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es zu einer solchen Rechtsentziehung in Einklang mit der republikanischen Tradition jedenfalls einer Gerichtsentscheidung bedarf.

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Den „politischen Parteien und Gruppen“ wird nunmehr eine über Art. 4 CF näher bestimmte verfassungsrechtliche Stellung zugesprochen. Indes gibt es in Frankreich im Unterschied zu Deutschland kein die allgemeine Stellung der politischen Parteien regelndes Gesetz.[198] Allein die Gesetze zur Finanzierung des politischen Lebens statuieren besondere Regeln. Im Übrigen sind die Parteien, die einer präzisen juristischen Definition ermangeln, grundsätzlich den allgemeinen gesetzlichen Regelungen zu den Vereinigungen unterworfen. Das Gesetz vom 10. Januar 1936 über Kampfgruppen und Privatmilizen ermöglicht dem Staatschef, per Dekret Gruppen aufzulösen, deren Ziel es ist, „die territoriale Integrität der Nation zu beeinträchtigen oder der republikanischen Regierungsform durch Gewaltanwendung zu schaden.“ Der Conseil d’État hat die Auflösung einer Vereinigung für gerechtfertigt erklärt, deren „Ziel die Zerstörung des republikanischen Regimes und dessen Ersetzung durch einen ‚nationalistischen und autoritären Staat‘ war“ und die „gegebenenfalls zur Anwendung von Gewalt bereit wäre, um ihre Ziele zu erreichen“[199]. Ausführungshandlungen, die dieser Absicht entsprechen, sind nicht erforderlich.[200] Von diesem Standpunkt aus betrachtet existiert keine Privilegierung der politischen Parteien, die mit der in Deutschland geltenden vergleichbar wäre. Auch gibt es keine Regeln, welche die Organisierung der parteiinternen Demokratie oder Verfahren zur Verhängung von Strafen für allzu oligarchische Parteistrukturen zum Gegenstand hätten.

 

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Da die Souveränität „national“ geprägt ist und ihr „Ursprung“ dem Wortlaut des Art. 3 der Erklärung von 1789 zufolge „dem Wesen nach bei der Nation liegt“, schafft sie einige Hindernisse und Hürden für die Integration Frankreichs in die Europäische Union.[201] Indes sind diese Hindernisse aufgrund der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel nicht unüberwindbar: Da die Verfassungsgesetze keiner richterlichen Prüfung unterliegen (oben Rn. 47), darf der verfassungsändernde Gesetzgeber de facto ohne Beschränkung die französische Verfassung „öffnen“.

d) Rechtsstaat

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Der Ausdruck „Rechtsstaat“ ist als solcher im Verfassungstext nirgends aufgeführt. Auch von der Rechtsprechung wird er nicht verwendet. Wenn die Rechtswissenschaft diesen Ausdruck enthusiastisch verwendet, dann mehr als Slogan denn als Konzept. Hin und wieder findet sich ein Konstruktionskonzept des Rechtsstaates, das an Kelsen angelehnt ist und allenfalls einen rein formellen Begriff offen legen kann – der „Rechtsstaat“ gleichsam als „Rechtssystem“ mit einigen Eigenschaften im Hinblick auf die Bestimmtheit der Normen des Systems und die Existenz von Kontrollverfahren zur Prüfung der Vereinbarkeit untergeordneter Normen mit höherrangigen.[202]

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Beschränkt man sich auf diese formelle Definition des „Rechtsstaats“, so ist das französische System im Wesentlichen rechtsstaatskonform. Seit Ende der 1990er Jahre hat der Conseil constitutionnel seine eigene Rechtsprechung zu Klarheits-, Erkennbarkeits- und Verständlichkeitsvoraussetzungen entwickelt, um das französische Rechtssystem entsprechend den Anforderungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszugestalten.[203] Auch darf das Gesetz, das gemäß Art. 6 der Erklärung von 1789 als Ausdruck des allgemeinen Willens gilt, nicht lediglich Absichtserklärungen, Empfehlungen oder ehrenvolle Wünsche zum Ausdruck bringen, sondern muss von „normativer Tragweite“ sein.[204] Ergänzt man dies durch die Beschränkungen, die der nur bei „allgemeinem öffentlichem Interesse“[205] zu rechtfertigenden Rückwirkung von Gesetzen auferlegt wurden, zeichnet sich das eindeutige Bemühen der Rechtsprechung ab, die „Rechtssicherheit“[206] oder allgemeiner die „Gesetzesqualität“[207] zu verbessern, die noch zu Beginn der 1990er Jahre vom Conseil d’État vehement kritisiert worden war.[208]

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Überdies kann man sagen, dass das französische Recht im Bereich der Grundrechte das Prinzip des Gesetzesvorbehalts (réserve de loi) eigenständig sicherstellt, wobei sich der Begriff des Gesetzesvorbehalts unter dem Einfluss des deutschen Rechts und dessen Mediatisierung durch das System der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[209] vermehrt auch in der französische Lehre[210] findet. In der Tat decken die gemäß Art. 34 CF der Zuständigkeit des Gesetzgebers vorbehaltenen Bereiche im Wesentlichen auch die Schutzbereiche der verfassungsrechtlich verbürgten Rechte ab. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass dieses Prinzip des Gesetzesvorbehalts Ausnahmen oder bisweilen schwer verständliche Lockerungen kennt. So überträgt Art. 16 CF auch im Bereich der Grundrechte die wesentlichen Gesetzgebungsbefugnisse dem Präsidenten der Republik, die Praxis der Ordonnances entzieht dem Parlament die Normsetzungsbefugnis über Gegenstände, die Eingriffe in die Schutzbereiche verfassungsrechtlich verbürgter Rechte und Freiheiten darstellen können, und schließlich hält die Verwaltungsgerichtsbarkeit, obwohl die Präambel der Verfassung von 1946 einen speziellen Gesetzesvorbehalt vorsieht, daran fest, dass in Ermangelung eines anwendbaren Gesetzes die Verwaltungsdienststelle für die Organisierung des Streikrechts in Verwaltungsbehörden und öffentlichen Einrichtungen zuständig ist.[211]

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Unter Berufung auf Art. 16 der Erklärung von 1789, der die „Gewährleistung der Rechte“ sicherstellt, hat der Conseil constitutionnel hinsichtlich des Kontrollverfahrens zur Prüfung der Akte der öffentlichen Gewalt die Befugnis der jeweils betroffenen Personen hergeleitet, „Beschwerde bei einer Gerichtsbarkeit einzulegen“[212]. In den 1990er Jahren wurden das Verwaltungsverfahren und die Befugnisse des Verwaltungsrichters ausgebaut und hierdurch die Effizienz der Verfahren spürbar verbessert, insbesondere was die Voraussetzungen des vorläufigen Schutzes und das Eilverfahren anbetrifft. Zur selben Zeit etwa entwickelte die Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre Rechtsprechung im Sinne einer merklichen Verringerung der Kategorie nicht-justitiabler Akte wie Regierungshandlungen (actes de gouvernement) und behördeninterne Anweisungen (mesures d’ordre intérieur) fort.[213] Gleichzeitig kompensierte die Fachgerichtsbarkeit – unter Berufung auf die in völkerrechtlichen Verträgen anerkannten Rechte und Verbürgungen (oben Rn. 37 und 91) – die Inexistenz einer Individualbeschwerde und räumte den international verbürgten Rechten und Grundfreiheiten einen wirksamen Schutz auf nationaler Ebene ein.

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Diese jüngeren Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung sind größtenteils Folge des Drucks, den das System der Europäischen Konvention für Menschenrechte auf das nationale System ausübt, seitdem die Individualbeschwerde 1981 von Frankreich zugelassen wurde. Das System der Europäischen Menschenrechtskonvention hat diese Gleichstellung der Instrumente zur Rechtsgarantie in Frankreich bewirkt und das Land in den europäischen Raum integriert, der maßgeblich unter dem Zeichen der „Herrschaft des Rechts“ steht. Hieraus ergibt sich nicht zuletzt, dass Frankreich – über die formellen Komponenten der Herrschaft des Rechts oder des Staates hinaus, die ohnehin weitgehend europäischen Maßstäben entsprechen – nunmehr auch die „materiellen“ Elemente dieses Prinzips,[214] die gemeinsamen europäischen Freiheitsrechte teilt. Frankreich kam in der langen Geschichte der europäischen Freiheitsrechte mit der Revolution und der Erklärung von 1789 zweifelsohne eine entscheidende Rolle zu, zumindest in symbolischer Hinsicht. Dennoch kann man sagen, dass Frankreich in weiten Teilen erst durch Europa und in besonderem Maße durch den Mechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention[215] zu den Bemühungen gezwungen wurde, die für eine wirksame Sicherstellung der Herrschaft des Rechts erforderlich waren – ein Belang, dem der Verfassunggeber von 1958 keine besondere Bedeutung eingeräumt hat. Allerdings hatten die anfänglichen Unzulänglichkeiten der Verfassung zur Folge, dass den Fachgerichten und besonders der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Vergleich zur Verfassungsgerichtsbarkeit eine besonders gewichtige und selbständige Rolle im Bereich des Schutzes der individuellen öffentlichen Rechte zukommt. Die größten formellen und materiellen Lücken, die das System bis in die 1970er Jahre hinein aufwies, wurden verhältnismäßig gut geschlossen, als ob das wahre Frankreich Europa benötigt hatte, um ein bisschen „grande nation“, das symbolische Frankreich von 1789, das Land der Menschenrechte zu werden.

e) Sozialstaat

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Dem Prinzip, wonach „Frankreich eine soziale Republik ist“, kommt als solchem in der Rechtsprechung keine praktische Bedeutung zu. Es hat allenfalls symbolische Funktion. Der Grund hierfür ist, dass die mit Verfassungsrang in Kraft bleibende Präambel der Verfassung von 1946 eine Reihe besonderer sozialer Garantien beinhaltet, die den Rückgriff auf die Generalklausel der „sozialen Republik“ erübrigen. Während der Rückgriff auf die Formel des „Sozialstaats“ in Deutschland ermöglicht, der Interpretation der klassischen Grundrechte den Weg zu weisen, so spielt die Formel der „sozialen Republik“ in Frankreich nicht dieselbe Rolle. Doch im Gegensatz zu einigen europäischen Staaten, deren Verfassungen ganz oder teilweise zwischen den „sozialen Grundrechten“ und den Rechten differenzieren, die vor einem Richter individuell geltend gemacht werden können, ist den französischen Verfassungstexten eine derartige Unterscheidung unbekannt. Aus diesem Grund werden diese Rechte im Allgemeinen als „Grundrechte“ wie andere auch betrachtet.[216] Besonders in der Literatur zu den „sozialen Rechten“ ist der gegenwärtige Mangel einer die Grundrechte in Frankreich wirklich strukturierenden Dogmatik auffallend, zumal Frankreich sich gegen den „Import“ der Kategorie „Grundrechte“ noch sträubt.[217] Die „sozialen Rechte“ kennzeichnet ihre Heterogenität: Die Freiheit des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses und das Streikrecht können unter dem Gesichtspunkt ihrer Struktur betrachtet ohne Weiteres als klassische Freiheitsrechte bezeichnet werden, wohingegen andere die sozialen Beziehungen berührenden Verfassungsprinzipien weniger als „Rechte“ denn als objektive Regeln zu analysieren sind, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit über nur schwache normative Dichte verfügen und deswegen meist in Form von Staatszielen der Rechtfertigung von Freiheitsbeschneidungen dienen. Alles in allem ist der Unterschied zwischen der deutschen Formel des „Sozialstaats“ und der französischen Rechtsprechung zu genannten sozialen „Rechten“ recht gering: die sozialen „Rechte“ oder besser „Staatsziele“, die von der französischen Verfassungsordnung garantiert werden, stellen lediglich eine Kasuistik der Generalklausel der „sozialen Republik“ zusammen, ohne jedoch im Grundsatz bestimmte subjektive Ansprüche begründen zu können. Hinzu kommt, dass die durch das Völkervertragsrecht gewährleisteten „sozialen Rechte“, so die Fachgerichte, regelmäßig keine unmittelbare Wirkung entfalten können, da ihre Durchsetzung eine interpositio legislatoris erfordere. Letzten Endes bilden die so genannten sozialen „Rechte“ einen Gesamtkomplex verhältnismäßig vage formulierter und an den Gesetzgeber gerichteter Zielbestimmungen, deren normatives Gewicht im französischen Rechtssystem äußerst gering bleibt.[218]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › IV. Fazit: Die Fünfte Republik zwischen Normalisierung und nationaler Besonderheit