Handbuch Ius Publicum Europaeum

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b) Die Beziehungen zwischen Exekutive und Parlament

aa) Die Konkurrenz der Normsetzungsbefugnisse

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Mit dem Ersten Weltkrieg haben die parlamentarischen Kammern der Dritten Republik – wie eine Vielzahl parlamentarischer Versammlungen im Ausland auch – mit der Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen begonnen, sich schließlich ihrer Gesetzgebungskompetenzen weithin entledigt und diese ganz der in den Händen der Regierung liegenden Verordnungsgewalt anvertraut („décrets-lois“).[165] Diese Praxis bewegte sich am Rande der Verfassungsmäßigkeit, zuweilen ging sie gar mit Verfassungsbrüchen einher. Der Verfassungstext der Vierten Republik hatte solchen Übertragungen zwar entgegenwirken sollen und nach Maßgabe des Art. 13 ein an die Nationalversammlung gerichtetes Verbot statuiert: „Die Nationalversammlung allein verabschiedet die Gesetze. Sie darf dieses Recht nicht übertragen.“ Um jedoch die Arbeit der Nationalversammlung zu erleichtern, katalogisierte das Gesetz vom 17. August 1948 einige als „verordnungsrechtlicher Natur“ qualifizierte Angelegenheiten. Der Conseil d’État wurde im Rahmen seiner Beratungsfunktion mit der Frage nach der Vereinbarkeit dieser Vorgehensweisen mit Art. 13 betraut. Er erklärte nicht jegliches Delegationssystem für verfassungswidrig, sondern legte die Verfassung dahingehend aus, dass die der Regierung gewährte Ermächtigung hinreichend bestimmt und beschränkt sein und die Nationalversammlung in den übertragenen Angelegenheiten die wesentlichen Grundsätze festlegen müsse.[166]

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Die Verfassung der Fünften Republik setzte dieser paradoxen Situation ein Ende. Das Parlament hatte bisher die nationale Souveränität an sich gerissen, fand jedoch, aufgrund seiner Unfähigkeit, die Gesamtheit der Normsetzungsbefugnisse wahrzunehmen, keine andere Lösung, als durch Delegationen „sich selbst aufzugeben“ (A. Tardieu). Diese Situation meistert die Verfassung auf zwei Arten. Einerseits schafft sie einen Bereich, in dem die Exekutive verfassungsrechtlich dazu ermächtigt ist, Normen zu erlassen, ohne dass es hierfür einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Diese „autonome Verordnungsgewalt“ wurde als eine der wesentlichsten juristischen Revolutionen betrachtet, die 1958 Eingang in die Verfassung gefunden haben (Art. 34 i.V.m. 37 CF). Andererseits führt sie ein besonderes Verfahren zur Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen ein, das über ein einfaches Gesetz die Regierung zeitweilig und in einem beschränkten Bereich der Gesetzgebung zur Wahrnehmung des Verordnungsrechts mittels als Ordonnances bezeichneter Akte ermächtigt (Art. 38 CF). Hier sei kurz erwähnt, dass Art. 16 CF über diese ordentlichen Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive hinaus im Notstand die außerordentliche Konzentration der gesetzgeberischen sowie exekutiven Macht zugunsten des Staatschefs vorsieht. Art. 16 CF zählt eine Reihe von Voraussetzungen auf, die eine Notstandserklärung durch den Staatschef legitimieren können. Jedoch gibt es keinerlei richterliche Prüfung einer solchen Erklärung. Außerdem unterliegen die vom Präsidenten aufgrund des Art. 16 CF getroffenen Maßnahmen keiner richterlichen Kontrolle, soweit sie in den Bereich des Gesetzesvorbehalts fallen. Über die Frage nach dem Ende der Anwendung des Art. 16 CF ist ebenso keine Prüfung möglich.[167] Das Parlament tritt von Rechts wegen zusammen, ist aber völlig entmachtet. Eine parlamentarische Ratifizierung der Notverordnungen nach dem Modell des Art. 48 der Weimarer Verfassung ist nicht vorgesehen und wird auch nicht praktiziert. Vom Art. 16 CF wurde einmal zwischen April 1961 und September 1961 aus Anlass eines Militärputsches in Algerien Gebrauch gemacht. Die Schmitt’sche Idee des Hüters der Verfassung wird hier konsequent verfolgt.

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Die Errichtung der autonomen Verordnungsgewalt wurde zunächst dahingehend interpretiert, dass sie parallel zum Bereich der Gesetzgebung eine Verordnungsdomäne begründet habe, für die das Parlament nicht zuständig sei. Mit anderen Worten, jedes in der Verordnungsdomäne zustande gekommene Gesetz konnte durch den Conseil constitutionnel für verfassungswidrig erklärt werden. Dieser hat aber diese anfängliche Auslegung der Kombination aus den Art. 34 und 37 CF völlig modifiziert. Die Begründung der wichtigen Entscheidung vom 30. Juli 1982 lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:[168] Art. 37 CF, nach dem Materien, die dem Bereich der Gesetzgebung nicht zugewiesen sind, „Verordnungscharakter“ („un caractère règlementaire“) aufweisen, habe keine Verordnungsdomäne begründen können, in der allein die Form der Verordnung geltend gemacht werden könne. Vielmehr habe er eine materielle Verordnungsdomäne begründet, in der ein formelles Gesetz zustande kommen könne, ohne verfassungswidrig zu sein. Allerdings handelt es sich um einen Bereich konkurrierender Kompetenzen, in dem die Exekutive zwei besondere Befugnisse genießt. Die erste berechtigt die Regierung, die Diskussion einer Vorschrift mit Verordnungscharakter im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu hindern (Art. 41 CF). Die zweite Befugnis besteht darin, die Normsetzungskompetenz wieder zu gewinnen, wenn der Conseil constitutionnel feststellt, dass ein formelles Gesetz materiell Verordnungscharakter trägt (Art. 37 Abs. 2 CF). Dies hat zur Folge, dass eine formelle Gesetzesvorschrift mit materiellem Verordnungscharakter vom Conseil constitutionnel nicht für verfassungswidrig erklärt werden kann, wenn dieser gemäß Art. 61 CF (abstrakte Normenkontrolle) angerufen wird.

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Art. 38 CF sieht die Möglichkeit vor, dass die Exekutive aufgrund einer parlamentarischen Ermächtigung das Verordnungsrecht durch „Ordonnances“ im Bereich der Gesetzgebung wahrnimmt, deren wichtigste Angelegenheiten in Art. 34 CF aufgezählt sind. Der Conseil constitutionnel hat die Befugnis des Parlaments, sich seiner Kompetenzen zu entledigen, verhältnismäßig gut eingerahmt, insbesondere über das Erfordernis einer hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigung. Überdies trägt der Conseil constitutionnel über den Rückgriff auf die verfassungskonforme Auslegung dazu bei, die genauen Schranken der Ermächtigung und somit auch der Kompetenzen der übertragenen Verordnungsgewalt zu bestimmen.[169] Der Rückgriff auf das Instrument der Ordonnances hat sich seit Mitte der 1990er Jahre erheblich fortentwickelt und dadurch das institutionelle Gleichgewicht in der Ausübung der Rechtsetzungsbefugnisse in Gefahr gebracht. Die Ordonnance neigt dazu, eine gewöhnliche Methode des Normerlasses zu werden. Sollte sich diese Tendenz bestätigen und nachhaltig wirken, so müsste man sich mit der Feststellung begnügen, dass die Fünfte Republik für das Problem der Selbstaufgabe des repräsentativen Regimes letzten Endes keine Lösung hat bieten können. Sie hätte – im Gegenteil – durch eine allgemeine, stellenweise sogar radikale Beschränkung des Parlaments zur Schärfe des Problems beigetragen.[170]

bb) Die Rationalisierung der parlamentarischen Mechanismen

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Die Instabilität der Regierungen in der Dritten und der Vierten Republik ist nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Regierungen durch einfache, allzu oft destruktive Koalitionen darstellende Mehrheiten de facto gestürzt werden konnten, sondern auch auf die Unfähigkeit der Regierung, vom Auflösungsrecht Gebrauch zu machen, das von der öffentlichen Meinung als monarchisches und autoritäres Relikt aufgefasst wurde (oben Rn. 6). Zwischen 1877 und 1958 konnte das Unterhaus lediglich einmal im Jahr 1955 aufgelöst werden. Das zur Herstellung des institutionellen Gleichgewichts erforderliche Gleichgewicht der Waffen konnte sich niemals entwickeln.

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Art. 49 CF, insbesondere Abs. 3, gilt zu Recht als das die Stabilität der Regierungen seit 1958 sichernde Herzstück. Einerseits kann die Opposition die Regierung nur über die Annahme eines Misstrauensantrags durch die absolute Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung stürzen. Diese Regelung existierte schon in der Vierten Republik, doch wurde sie seinerzeit insofern umgangen, als man über eine feinsinnig berechnende Enthaltung der Regierung zu verstehen geben konnte, dass sie nur von einer Minderheit gestützt wurde, ohne jedoch die schicksalhafte Grenze der absoluten Mehrheit zu erreichen. Diese Berechnung notwendiger Enthaltungen ist nunmehr unmöglich, da allein die für den Misstrauensantrag abgegebenen Stimmen gezählt werden (Art. 49 Abs. 2 CF). Mit anderen Worten, die Verfassung führt eine zugunsten der Regierung wirkende Fiktion ein, der zufolge jedes Mitglied der Nationalversammlung, das sich nicht ausdrücklich gegen die Regierung ausgesprochen hat, als mutmaßlich für sie gezählt wird. Wenngleich dieses Vorgehen – im Unterschied zum konstruktiven Misstrauensvotum in Deutschland – den Sturz der Regierung nicht mit Wahlen eines neuen Regierungschefs kombiniert, so erfordert es doch eine klare Mehrheit zu Ungunsten der gegenwärtigen Regierung. Allerdings könnte allein diese Vorschrift die Stabilität der Regierungen nicht hinreichend sicherstellen, da sie unterlaufen werden könnte, indem eine Koalition der Nationalversammlung den Misstrauensantrag formell ablehnt, im Gegenzug die wichtigen Gesetzesvorlagen der Regierung und insbesondere deren Budget zurückweist und die Regierung hierdurch regierungsunfähig macht. Die für die Stabilität der Regierungen entscheidende Vorschrift ist in Art. 49 Abs. 3 normiert: Die Regierung kann in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage mit der Abstimmung über eine Gesetzesvorlage, sogar eines Haushaltsgesetzes, verbinden. In diesem Falle obliegt es der Opposition, mit einem Misstrauensantrag zu reagieren, deren Annahmevoraussetzungen den soeben erwähnten entsprechen. Wird der Misstrauensantrag nicht gestellt oder nicht angenommen, so gilt die Vorlage als von der Nationalversammlung angenommen. Auf diese Weise hat die Regierung während der Diskussion einer Vorlage die Möglichkeit, den Gegenstand der Diskussion insofern radikal zu verändern, als sie die Frage nach der Annahme der Vorlage durch die Frage nach ihrer eigenen Existenz ersetzen kann. In diesem Falle werden die Beratungen der Vorlage beendet und der Regierungsvorschlag, gegebenenfalls mit einigen von der Regierung akzeptierten Veränderungen, angenommen. Dieses Verfahren ist im Senat nicht anwendbar, doch da die Regierung von der Nationalversammlung verlangen kann, alleine zu entscheiden (oben Rn. 62), ist die Regierung dazu imstande, über die beliebig oft wiederholbare Anwendung des Art. 49 Abs. 3 CF die Annahme der Vorlage durch die Nationalversammlung endgültig zu erzwingen.[171]

 

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Ein weiterer Aspekt der Rationalisierung parlamentarischer Mechanismen liegt in der Wiederherstellung des Auflösungsrechts (Art. 12 CF), das dem Präsidenten der Republik zusteht. Diese Entscheidung steht im Ermessen des Präsidenten und unterliegt lediglich zwei Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung ist rein formeller Natur und kann den Ermessensspielraum des Präsidenten nicht einschränken, da sie lediglich in einer Beratung mit dem Premierminister und den Präsidenten der beiden Parlamentskammern besteht. Die zweite besteht in einer dem repräsentativen Regime gewährten Garantie, die dem Präsidenten verbietet, die Nationalversammlung in dem auf die Wahl folgenden Jahr erneut aufzulösen (Art. 12 Abs. 4). Diese Garantie ist juristische Übersetzung des politischen Prinzips, das Léon Gambetta anlässlich der Krise vom 16. Mai 1877 (oben Rn. 6) angeführt hatte: „Auflösung auf Auflösung gilt nicht.“

cc) Die Regierungskontrolle der parlamentarischen Arbeit

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Wenngleich die Regierung in nahezu allen parlamentarischen Regimes der Gegenwart eine oftmals beachtliche Kontrolle über den Ablauf der parlamentarischen Organisation und Arbeit, insbesondere die Gesetzgebung, ausübt, so ist diese Kontrolle unter juristischen Gesichtspunkten kaum formalisiert und ergibt sich meist aus den informellen Weisungs- und Kontrollmöglichkeiten, welche die Regierung gegenüber der parlamentarischen Mehrheit, zumal über die Organisierung der Parlamentsfraktionen, wahrnehmen kann. Die Besonderheit der Fünften Republik liegt darin, dass eben diese Mechanismen zur Einflussnahme weitgehend formalisiert sind, insbesondere durch diverse Verfassungsnormen.

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Art. 48 CF unterscheidet zwischen dem vorrangigen, von der Regierung auf die parlamentarische Tagesordnung gesetzten Themenkomplex, und dem zusätzlichen Teil, der von den zuständigen Organen der betroffenen Kammer festgesetzt wird. Da der vorrangige Themenkomplex der Tagesordnung schlussendlich die Arbeitskapazitäten der Parlamentskammern überstieg und diese faktisch unfähig waren, selbst eine zusätzliche Themenliste zu bestimmen, sieht das Verfassungsgesetz vom 4. August 1995 vor, dass zumindest eine Sitzung im Monat vorrangig der von jeder Kammer festgelegten Tagesordnung vorbehalten ist (nunmehr Art. 48 Abs. 3 CF). Zwar hat das Gesetz mögliche Beschränkungen der parlamentarischen Arbeit durch die Regierung erschwert, doch hat diese Reform quantitativ begrenzte Wirkungen gezeitigt. Die überwältigende Mehrheit der angenommenen Gesetze sind das Resultat von Regierungsinitiativen.

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Das Verfahren zur Beratung von Gesetzen gewährt der Exekutive überdies beachtliche Garantien und Befugnisse. Mit Nachdruck zu betonen ist die relative Kontrolle der Regierung in Hinblick auf die jeweils zur Beratung stehende Vorlage. Regierungsvorlagen und parlamentarische Gesetzesvorschläge werden von einer Kommission derjenigen Kammer untersucht, der die Vorlage zuerst zugeleitet wurde. Geht die zur Beratung stehende Vorlage auf eine Regierungsinitiative zurück, kann die Kommission selbstverständlich Änderungsanträge stellen, wobei die Kammer nicht den von der Kommission veränderten Gesetzesentwurf berät, sondern die von der Regierung ursprünglich eingebrachte Fassung (Art. 42 CF). Auf diese Weise ist die Regierung in der Lage, ihren Entwurf zu verteidigen, während in den früheren Republiken die Regierung schon mit Beginn der Plenarberatungen geschwächt war, da die erste Kammer den schon veränderten und oft von der Kommission denaturierten Entwurf beriet. Zudem können sich Regierungsmitglieder jederzeit auf eigenes Verlangen in die Beratungen einschalten und sind demnach nicht den Regeln über das Rederecht der Parlamentsmitglieder unterworfen (Art. 31 CF). Nicht zuletzt unterliegt auch das Änderungsantragsrecht der Parlamentsmitglieder strengen Rahmenvorschriften: Die Regierung kann sich gegen die Beratung parlamentarischer Gesetzesvorlagen wenden, die nicht zum Bereich der Gesetzgebung gehören (Art. 41 CF). Das Änderungsantragsrecht der Parlamentsmitglieder ist insofern streng umgrenzt, als Änderungen keine Verringerung der öffentlichen Einnahmen oder Erhöhung öffentlicher Lasten zur Folge haben dürfen (Art. 40 CF). Die Regierung kann von der befassten Kammer zudem verlangen, sich in einer einzigen Abstimmung über die ganze oder einen Teil der Vorlage zu äußern, wobei nur die von der Regierung angenommenen Änderungsanträge berücksichtigt werden und die Kammer keine andere Wahl hat, als die auf diese Weise „blockierte“ Vorlage anzunehmen oder abzulehnen (Art. 44 CF). Fügt man diesen im Verfassungstext verankerten Mechanismen die oben erläuterte Möglichkeit des Rückgriffs auf Art. 49 Abs. 3 hinzu, sieht man die Bandbreite an verfassungsrechtlichen Instrumenten, die mit der „Rationalisierung“ des Parlamentarismus eingeführt wurden und die Kontrolle der parlamentarischen Arbeit durch die Exekutive sicherstellen sollen.

c) Die Stellung des Conseil constitutionnel im französischen Verfassungssystem

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In der Landschaft der europäischen Verfassungsgerichte stellt der Conseil constitutionnel eine Besonderheit dar (oben Rn. 69ff.). Es geht nunmehr um die Frage, welche Auswirkungen diese Besonderheit allgemein auf das Verfassungssystem hat. Gegenstand der folgenden Darstellung soll nur das System der Verhältnisse zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit sein.

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Die Fachgerichte können aus der strukturellen Schwäche des Conseil constitutionnel durchaus Nutzen ziehen und sich damit nicht nur eine gewisse Autonomie gegenüber dem Conseil sichern, sondern auch über einen heute oft eingeschlagenen Weg in Konkurrenz zu ihm treten. Diese strukturelle Schwäche ist das Ergebnis der begrenzten verfassungsgerichtlichen Funktionen, die der Conseil constitutionnel übernimmt. Das Charakteristikum des französischen Systems liegt in der strikten Trennung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit. Mangels konkreter Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden existieren zwischen dem Conseil constitutionnel und den Fachgerichten keinerlei prozedurale Beziehungen. Dies führt zur völligen Isoliertheit des Conseil constitutionnel, da dieser nie in der Lage ist, seine Meinungen und Auslegungen bei den Fachgerichten durchzusetzen.

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Wenngleich der Conseil constitutionnel die im Art. 62 Abs. 5 CF statuierte Bindungswirkung seiner Entscheidungen als „formelle Rechtskraft“ (autorité de chose jugée) gedeutet hat, so können die Fachgerichte sich dennoch ermutigt fühlen, diese Bindungswirkung als streng beschränkt anzusehen. Die Bindungswirkung erstreckt sich zwar sowohl auf die Entscheidungsformel als auch auf die tragenden Gründe; ihrer Natur nach gelten die Entscheidungen des Conseil constitutionnel also auch im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle erga omnes. Diese Wirkung ist im Hinblick auf den Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Entscheidung jedoch strikt begrenzt. Das gehört zum traditionellen Begriff der autorité de chose jugée. Schon in seiner oben erwähnten Entscheidung vom 10. Oktober 2001 (Rn. 53) hat der Kassationshof die Frage nach der Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen wie folgt beantwortet: „Die Entscheidungen des Conseil constitutionnel sind gegenüber den Staats- und Verwaltungsbehörden sowie allen Gerichten nur hinsichtlich des von ihm geprüften Textes bindend.“ Damit ist das Fachgericht freier Interpret der Verfassung, soweit es keinen vom Conseil constitutionnel geprüften Text anwendet. Diese Bemerkung ist wichtig, da sich die Beziehung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit ausschließlich nach der Bindungswirkung der Entscheidungen der ersteren richtet. Letztendlich bestimmt aber die Fachgerichtsbarkeit selbst und souverän, wie diese Bindungswirkung zu verstehen ist, und legt die Interpretationen des Conseil constitutionnel frei aus.[172]

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In vielen Verfassungsordnungen ist die Verfassungsgerichtsbarkeit Motor und Nutznießer der „Konstitutionalisierung“ der Rechtsordnung zugleich. Neben dieser relativ neuen Herrschaft der Verfassung über das nationale Rechtssystem fallen neuerdings auch die Internationalisierung und Europäisierung des Rechts vermehrt ins Gewicht. Laut Art. 55 CF „gehen internationale Verträge und Abkommen den Gesetzen vor“. In seiner Abtreibungs-Entscheidung vom 15. Januar 1975[173] hat der Conseil constitutionnel die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen von der Frage nach deren „Vertragsmäßigkeit“ völlig abgekoppelt: Ein Gesetz, das mit einem völkerrechtlichen Vertrag in Widerspruch steht, verstößt nicht schon deswegen gegen die Verfassung. Da die in Art. 61 CF festgesetzte Aufgabe des Conseil constitutionnel sich auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen beschränkt, steht es dem unter Berufung auf Art. 61 CF angerufenen Conseil constitutionnel nicht zu, über die Frage nach der Vertragsmäßigkeit eines Gesetzes zu befinden. In seiner berühmten Nicolo-Entscheidung vom 20. Oktober 1989[174] hat der Conseil d’État nach dem Kassationshof[175] entschieden, dass die Verwaltungsgerichte die Prüfung der Vertragsmäßigkeit von Gesetzen zu übernehmen hätten. In seiner 1996 getroffenen Moussa Koné-Entscheidung[176] hat er hinzugefügt, dass internationale Verträge verfassungskonform auszulegen seien. Schließlich hat der Conseil d’État in der Sarran-Entscheidung von 1998[177] festgestellt, in der nationalen Rechtsordnung habe die Verfassung gegenüber völkerrechtlichen Verträgen Vorrang. Diese Rechtsprechung gilt auch für primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht, wobei der Kassationshof im Grunde der Rechtsprechung des Conseil d’État folgt.[178] In seiner Entscheidung vom 19. November 2004 zur EU-Verfassung hat der Conseil constitutionnel den Vorrang der Verfassung innerhalb der nationalen Rechtsordnung im Grundsatz bestätigt.[179] Prüft ein Fachgericht die Vertragsmäßigkeit eines Gesetzes und bei dieser Gelegenheit auch die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Vertrags, handelt es sich um ein doppeltes Übergreifen der Fachgerichtsbarkeit in den Kompetenzbereich des Conseil constitutionnel. Erstens ist dieser nach Art. 54 CF befugt, Verträge auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu kontrollieren, und zweitens handelt es sich in dem geschilderten Falle wenigstens indirekt auch um eine Verfassungsmäßigkeitskontrolle des in Frage stehenden Gesetzes.

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Darüber hinaus ist die viel gepriesene Rolle des Conseil constitutionnel als Hüter der Grundrechte etwas zu relativieren. Die Verträge, an die Frankreich gebunden ist, enthalten genügend Grundrechtsbestimmungen; man denke bloß an die EMRK.[180] Die Prüfung eines Gesetzes durch die Fachgerichtsbarkeit ist zwar formal und unter Vorbehalt des oben Gesagten keine Verfassungsmäßigkeitskontrolle, doch stellt sie materiell betrachtet eine Grundrechtsprüfung dar. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei überdies betont, dass die Fachgerichtsbarkeit diese Grundrechtsprüfung konkret und je nach Lage des Einzelfalls vornimmt, während der Conseil constitutionnel immer „abstrakter“ Hüter der Grundrechte bleibt. Zudem hat das Gesetz vom 30. Juni 2000 in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein besonderes Eilverfahren zum Schutz der „Grundfreiheiten“ (Référé-liberté) eingeführt,[181] wohingegen vor dem Conseil constitutionnel ein der Verfassungsbeschwerde vergleichbares Verfahren fehlt.

 

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Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass der Conseil constitutionnel im Rahmen abstrakter Normenkontrollverfahren ausschließlich über formelle Gesetze urteilen kann. Rechtsverordnungen sowie jedwede Norm der Exekutive sind seinem Zuständigkeitsbereich entzogen. Im Gegenzug ist die ordentliche Anfechtungsklage (Recours pour excès de pouvoir) vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen alle Normen der Exekutive und sonstiger Verwaltungsbehörden prinzipiell zulässig. In seiner Leitentscheidung Chemins de fer de l’Est vom 6. Dezember 1907 hat sich der Conseil d’État als höchstes Verwaltungsgericht, als Richter aller von der Exekutive erlassenen Normen etabliert.[182] Seit 1958 gilt dies auch für die in Art. 38 CF geregelten „Ordonnances“ (oben Rn. 81), solange diese noch nicht vom Parlament ratifiziert worden sind,[183] sowie für die so genannten „autonomen“ Rechtsverordnungen (oben Rn. 79f.).[184] Für die Anfechtung solcher Normen, die von den höchsten Exekutivorganen des Staates erlassen werden, ist unmittelbar der Conseil d’État in erster Instanz zuständig.[185]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › III. Die Struktur des Verfassungssystems › 3. Die strukturierenden Grundsätze des Systems