Handbuch Ius Publicum Europaeum

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b) Die Gesetzgebungsorgane[138]

aa) Das Bikameralismusprinzip

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„Das Parlament besteht aus der Nationalversammlung und dem Senat.“ – Art. 24 CF legt das Bikameralismusprinzip offen dar. Der Ausdruck „französisches Parlament“ bezeichnet demnach formell einen aus zwei getrennten Häusern – Nationalversammlung und Senat – zusammengesetzten Gesamtkomplex. Der Senat ist eine Parlamentskammer, die die Gesamtheit parlamentarischer Kompetenzen und Funktionen innerhalb der ihr zugewiesenen Schranken ausübt (Gesetzgebung, Haushaltsplanung, Kontrolle der Regierung). Im Unterschied zum französischen Bikameralismus in der Dritten Republik ist der der Fünften Republik – wie der der Vierten auch – inegalitär: Obgleich der Senat mit denselben Kompetenzen ausgestattet ist wie die Nationalversammlung, so sind seine Befugnisse doch weniger weitreichend. Mit Ausnahme der Verfassungsgesetze[139] und einiger Organgesetze[140] kann die Nationalversammlung auf Antrag der Regierung und nach mindestens zwei Lesungen in jeder der beiden Kammern (Art. 45 CF) letztinstanzlich alleine über Gesetze, auch Haushaltsgesetze, abstimmen. Zwar hat die Regierung die Möglichkeit, an den Senat ein Gesuch auf Zustimmung zu einer Erklärung zur allgemeinen Politik heranzutragen, doch kann nur die Nationalversammlung über die Zurückweisung der Vertrauensfrage oder die Annahme eines Misstrauensantrags die Existenz der Regierung selbst in Frage stellen. Ein negatives Votum von Seiten des Senats bleibt für die Aufrechterhaltung der Regierung folgenlos. Diese Ungleichheit ermöglicht einer Regierung, sobald eine ausreichende Mehrheit der Nationalversammlung hinter ihr steht, sogar in Kohabitation gegen die Mehrheit der Senatoren zu regieren.

bb) Die Parlamentswahlen

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Gemäß der in Art. 3 CF enthaltenen Generalklausel beruhen die Parlamentswahlen, wie alle politischen Wahlen (europäische, nationale und lokale), auf einem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht. Doch fügt Art. 3 CF hinzu, dass die Wahl direkt oder indirekt erfolgen kann, was auf Art. 24 CF verweist: „Die Abgeordneten der Nationalversammlung werden in unmittelbarer Wahl gewählt. Der Senat wird in mittelbarer Wahl gewählt.“ Die Verfassung enthält keine weiteren Vorschriften zum parlamentarischen Wahlverfahren; das Nähere regelt ein einfaches Gesetz (Art. 34 Abs. 8 CF).

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Die Abgeordneten der Nationalversammlung werden traditionell in einem Wahlbezirk und in einer zwei Wahlgänge beinhaltenden Mehrheits- und Persönlichkeitswahl gewählt, eine Regelung, die im Wesentlichen das Wahlsystem der Dritten Republik wieder aufgreift. Die Verhältniswahl wurde einmal in der Fünften Republik anlässlich der Wahlen von 1986 eingeführt, um kurz darauf wieder durch das Mehrheitswahlsystem ersetzt zu werden. Nach der in de Gaulles Augen verheerenden Erfahrung der Verhältniswahl in der Vierten Republik konnte für ihn allein das Mehrheitswahlsystem zufrieden stellende Regierungsmehrheiten gewährleisten. Mittels einer Interpretation des Wahlgleichheitsprinzips hat der Conseil constitutionnel präzisiert, dass die Nationalversammlung auf „im Wesentlichen demographischer Basis gewählt“ werden muss, weswegen bei der Aufteilung der Wahlbezirke ein gewisses Gleichgewicht zwischen ihren jeweiligen Bevölkerungsanteilen zu berücksichtigen ist.[141]

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Die Senatoren werden je nach Gewicht des Départements, d.h. je nach Zahl der in dem jeweiligen Département zu wählenden Senatoren, entweder in einer Mehrheitswahl oder einer Verhältniswahl gewählt. Die Wahl selbst übernimmt ein Wahlausschuss, der sich aus den in den verschiedenen Wahlbezirken des Départements gewählten Abgeordneten und lokalen Repräsentanten zusammensetzt. Die Repräsentation der Gemeinden in diesen Wahlausschüssen und ihre besondere Struktur (rund 36 000 Gemeinden, deren überwältigende Mehrheit aus ländlichen Kommunen besteht) führen dazu, dass in diesen Ausschüssen die Gemeinden, und vornehmlich kleine, überwiegen. Der Senat bleibt in dieser Hinsicht dem Gründungskonzept von 1875 entsprechend der „große Rat der Kommunen Frankreichs“ (Léon Gambetta).[142]

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Die bedeutendste Modifikation des Wahlsystems zog wohl das Verfassungsgesetz vom 8. Juli 1999 nach sich, mit dessen Verabschiedung das Prinzip der Parität zwischen Mann und Frau Eingang in das französische Verfassungsrecht gefunden hat. Das Gesetz „fördert den gleichen Zugang von Frauen und Männern zu Wahlmandaten und Wahlämtern“ (Art. 3 Abs. 5 CF), und die Parteien „tragen zur Umsetzung dieses Prinzips bei“ (Art. 4 Abs. 2 CF). Diese beiden Verfassungsprinzipien beinhalten zwar selbst nicht das Paritätsprinzip, doch haben sie das seiner Einführung im Weg stehende Hindernis überwunden, das die bis dato aufrechterhaltene Interpretation der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zur Wahlgleichheit darstellte. Laut dieser Interpretation ist jede Unterscheidung nach Wähler- und Wählbarenkategorie abzulehnen und demzufolge insbesondere auch jegliche nach dem Geschlecht der Kandidaten.[143] Die neuen Vorschriften der Verfassung wurden ihrem Zweck entsprechend dahingehend ausgelegt, dass sie den Gesetzgeber berechtigen, Gesetze fördernder oder beschränkender Natur zu verabschieden, um „effektiv“ gleichen Zugang zu Wahlämtern zu gewährleisten.[144] Für Streitigkeiten bei der Wahl der Abgeordneten oder Senatoren ist der Conseil constitutionnel zuständig (Art. 59 CF).

cc) Die Organisierung der Parlamentskammern

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Seltsamerweise ist die Dauer parlamentarischer Mandate nicht in der Verfassung festgesetzt, sondern wird durch ein Organgesetz bestimmt (Art. 25 Abs. 1 CF). Die Mandatsdauer der Abgeordneten hat sich seit 1958 nicht verändert und bleibt auf fünf Jahre festgeschrieben. Im Gegenzug wurde die Mandatsdauer der Senatoren durch das Organgesetz vom 30. Juli 2003[145] um drei Jahre von neun auf sechs Jahre verkürzt. Die extreme Länge von neun Jahren ging bis auf die Dritte Republik zurück, wobei schon seinerzeit der Einwand vorgebracht wurde – und das nicht ohne Grund –, hierdurch werde der Senat von „der klaren und treuen Repräsentation der Wählerschaft“ abgebracht.[146] Dieser Anomalie in Hinblick auf die demokratische Idee, der zufolge Repräsentativmandate von relativ kurzer Dauer sein müssen, wurde schlussendlich über eine Systemkorrektur Rechnung getragen. Überdies sei angemerkt, dass – im Unterschied zur alle fünf Jahre neu gewählten Nationalversammlung – der Senat eine ständige und unauflösliche Versammlung ist, die alle drei Jahre zur Hälfte erneuert wird.

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Auf die Parlamentskammern, deren Organisierung derjenigen anderer parlamentarischer Regime in Europa ähnelt, soll hier nicht näher eingegangen werden.[147] Allerdings soll auf ein Charakteristikum des französischen Verfassungssystems hingewiesen werden. In den früheren Republiken war es üblich zu behaupten, die wahre Verfassung Frankreichs liege in der Geschäftsordnung der Parlamentskammern. Diese Redensart, die eine tiefe Wahrheit des französischen Parlamentarismus zum Ausdruck bringt, legte die fundamentale Rolle der parlamentarischen Geschäftsordnung in der Errichtung und Organisierung der Vormachtstellung der beiden Kammern und somit des Regimes der „parlamentarischen Souveränität“ offen dar. Der Verfassunggeber von 1958 hat gegen einen solchen Drift zweierlei Vorkehrungen getroffen. Zunächst enthält der Verfassungstext nunmehr eine bedeutende Zahl an Vorschriften über die Organisierung des Parlaments und seine Arbeit; Regelungen, die ehemals größtenteils der Geschäftsordnung des Parlaments oder dem Gesetz unterlagen. Die Fähigkeit zur Selbstorganisierung des Parlaments wurde mit der Konstitutionalisierung dieser Regeln beträchtlich reduziert. Die gewichtigsten Vorschriften betreffen wohl das Regime der parlamentarischen Sitzungsperioden (Art. 28 bis 30 CF), die Begrenzung des Initiativrechts und Änderungsantragsrechts der Parlamentsmitglieder (Art. 40 und 41 CF), die detaillierte Reglementierung des Gesetzgebungsverfahrens (Art. 42 bis 47-1 CF), die Begrenzung der Anzahl ständiger Ausschüsse auf sechs in jeder Kammer (Art. 43 Abs. 2 CF) und nicht zuletzt die Bestimmung der Tagesordnung beider Kammern durch die Regierung (Art. 48 CF). Diese Vorschriften zeigen deutlich das Ausmaß der dem Parlament seit 1958 auferlegten Kompetenzbeschneidungen, ein Phänomen, das trotz einiger Lockerungsmaßnahmen[148] weiterhin aktuell bleibt. Des Weiteren bedurften diese in der Verfassung verankerten Vorschriften wirksamer Sanktionen, die eine Umgehung der Normen durch das Parlament, zumal durch die Annahme entsprechender Geschäftsordnungen, untersagen sollten. Die wichtigste Regel ist diesbezüglich in Art. 61 Abs. 1 CF normiert, der dem Conseil constitutionnel nicht nur die Zuständigkeit für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit parlamentarischer Geschäftsordnungen zuspricht, sondern diese Verfassungsmäßigkeitskontrolle auch zwingend vorschreibt. Genau das war eine der wesentlichen dem Conseil constitutionnel 1958 zugewiesenen Aufgaben, die er seither gründlichst erfüllt.[149]

c) Der Conseil constitutionnel

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Am 27. August 1958 stellte der Justizminister, Michel Debré, die in der französischen Verfassungsgeschichte bislang unbekannte Institution des Conseil constitutionnel (Verfassungsrat)[150] der Generalversammlung des Conseil d’État wie folgt vor: „Die Errichtung des Conseil constitutionnel bringt den Willen zum Ausdruck, das Gesetz, d.h. die Entscheidung des Parlaments, der in der Verfassung verankerten höheren Norm zu unterstellen. Es gehört weder zum Geist des parlamentarischen Systems noch zur französischen Tradition, der Justiz, d.h. jedem Rechtssuchenden, ein Prüfungsrecht hinsichtlich des Wertes [„valeur“] des Gesetzes zuzugestehen. Dementsprechend sieht der Entwurf eine besondere Institution vor, die von nur vier Autoritäten angerufen werden kann: vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, von den Präsidenten der beiden Kammern. [...] So hat die Verfassung eine Waffe gegen den Irrgang des parlamentarischen Regimes geschmiedet.“[151] Zu Beginn war es äußerst schwierig, den neuen Conseil constitutionnel irgendeiner bekannten Kategorie des Staatsrechts zuzuordnen. In seiner berühmten Rede vom 4. September 1958, die den endgültigen Verfassungsentwurf dem französischen Volk präsentieren soll, kann General de Gaulle die neue Institution nicht einmal korrekt benennen und spricht von einem „Comité constitutionnel“. Eine Art „cour suprême“ sagt der Generalberichterstatter vor dem Conseil d’État.[152] „Ich denke nicht“, behauptet hingegen der Regierungsvertreter vor dem Comité consultatif constitutionnel am 31. Juli 1958, „dass der Text zur Idee einer cour suprême und einem gouvernement des juges führt.“[153] Als die Frage nach der Wirkung der Entscheidungen des Conseil constitutionnel beim Conseil d’État erörtert wird, wird der Vorschlag vorgebracht, diesen Entscheidungen formelle Rechtskraft zuzuschreiben. Der Regierungsvertreter lehnt sogleich den Ausdruck „Rechtskraft“ (autorité de chose jugée) mit der Begründung ab, er „fürchte, dass der Ausdruck ‚autorité de la chose jugée` bedeuten würde, diese Institution sei ein Gericht, und davon [sei er] nicht überzeugt.“[154] Später aber, als es um die Zusammensetzung der Institution geht, besteht ein Mitglied des Conseil d’État darauf, der Conseil constitutionnel solle zumindest im Falle von Streitigkeiten bei den Parlamentswahlen eine „Rechtsprechungsfunktion“ übernehmen. Doch fügt er merkwürdigerweise hinzu: „Ich freue mich auf die Mitgliedschaft der ehemaligen Staatschefs im Conseil constitutionnel.“[155] Es fällt also offensichtlich schwer, die neue Institution in eine überlieferte Kategorie von Staatsfunktionen einzuordnen. Des Öfteren ist auch von einem „politisch-juristischen Körper“ die Rede, eine Beschreibung, die wenig Sinn hat. Ob der Conseil constitutionnel anfangs als Verfassungsgericht konzipiert wurde, ist mehr als fraglich, zumal im französischen Verfassungstext nirgends von einer „Verfassungsgerichtsbarkeit“ die Rede ist. Die Aufgaben des Conseil constitutionnel sind nicht explizit als Rechtsprechungsfunktionen gekennzeichnet, seine Mitglieder nicht als „Richter“ aufgeführt. Nicht nur funktionell, sondern auch der Organisation und dem Verfahren nach stellt der Conseil constitutionnel eine etwas sonderbare Institution dar.[156]

 

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In Hinblick auf die Zusammensetzung des Conseil constitutionnel sei darauf hingewiesen, dass dessen Mitglieder sich in zwei Kategorien unterteilen. In Art. 56 CF heißt es: „Der Conseil constitutionnel besteht aus neun Mitgliedern.“ Dann aber: „Außer diesen neun Mitgliedern gehören dem Conseil constitutionnel noch weitere Personen an“. Die neun ordentlichen Mitglieder werden vom Präsidenten der Republik, vom Präsidenten der Nationalversammlung und vom Senatspräsidenten ernannt. Es gibt also kein Wahlverfahren, sondern nur Ernennungen. Hinzu kommt, dass diese neun Mitglieder ohne jede andere Bedingung als die der französischen Staatsangehörigkeit ausgewählt werden. Eine juristische Ausbildung ist demzufolge keine Voraussetzung. Dennoch ist der Conseil constitutionnel in seiner Entscheidung vom 20. Februar 2003 der Ansicht, dass „juristische Kenntnisse eine notwendige Bedingung zur Ausübung von Rechtsprechungsfunktionen“ darstellen.[157] Ein reines Ernennungsverfahren ohne Beteiligung der parlamentarischen Kammern und das Fehlen jedweder bindender Bestellungsbedingung sind europaweit einzigartig für ein „Verfassungsgericht“. Überdies sind die anderen Personen, die von Rechts wegen dem Conseil constitutionnel angehören, die ehemaligen Präsidenten der Republik. Eine solche Zusammensetzung spricht nicht gerade für die Gerichtsqualität des Organs.

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Was die verfahrensrechtlichen Aspekte der Institution anbelangt, ist zu betonen, dass lediglich das Wahlprüfungsverfahren durch das Organgesetz über den Conseil constitutionnel formalisiert ist. Die Normenkontrollverfahren folgen manchen Regeln, die sich nur durch Bräuche und Gewohnheiten eingebürgert haben. Eine öffentliche Verhandlung findet in keinem Falle statt. Die Beratung ist geheim und Sondervoten sind verboten. Ein Ablehnungsverfahren wegen Befangenheit ist nicht vorgesehen.

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Der Conseil constitutionnel verfügt über Beratungskompetenzen einerseits, Entscheidungsbefugnisse andererseits. Als Beratungsinstanz greift der Conseil constitutionnel im Falle der in Art. 16 CF vorgesehenen Notstandserklärung ein. Bevor der Staatschef von Art. 16 CF Gebrauch macht, der die Gesamtheit der Legislativ- und Exekutivbefugnisse in seiner Person vereinigt, muss eine Stellungnahme des Conseil constitutionnel zur Verfassungsmäßigkeit einer solchen Erklärung eingeholt und veröffentlicht werden. Jede auf der Grundlage des Art. 16 CF ergriffene Maßnahme setzt eine weitere Stellungnahme des Conseil constitutionnel voraus, die jedoch unveröffentlicht bleibt. Eine Konsultativfunktion erfüllt der Conseil constitutionnel auch bei der Vorbereitung eines Referendums. Entscheidungskompetenzen kommen dem Conseil constitutionnel hingegen im Rahmen folgender Funktionen zu: Er wacht über die Ordnungsmäßigkeit der Wahl des Präsidenten der Republik, prüft die Beschwerden und gibt das Wahlergebnis bekannt (Art. 58 CF); er entscheidet im Falle der Anfechtung über die Ordnungsmäßigkeit der Wahl der Parlamentsmitglieder sowie über den Verlust des parlamentarischen Mandats, wenn ein Parlamentsmitglied während seiner Amtszeit eine mit seinem Mandat unvereinbare Funktion annimmt oder unwählbar wird (Art. 59 CF); er wacht über die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens bei einem Referendum und gibt dessen Ergebnisse bekannt (Art. 60 CF); er entscheidet präventiv über die Verfassungsmäßigkeit der Organgesetze, der Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern (in diesen beiden Fällen ist die Kontrolle obligatorisch), der einfachen Gesetze sowie der völkerrechtlichen Verträge (Art. 54 und 61 CF);[158] er entscheidet über die Frage, ob ein Gesetzesentwurf (Präventivverfahren: Art. 41 CF) bzw. ein geltendes Gesetz (vom Premierminister berufen: Art. 37 Abs. 2 CF) eine Bestimmung enthält, die materiell Verordnungscharakter trägt; er entscheidet im Falle einer Vakanz des Amtes des Präsidenten der Republik oder dessen Verhinderung (Art. 7 CF).

Funktional betrachtet liegt die Singularität des Conseil constitutionnel darin, dass das Institut der konkreten Normenkontrolle überhaupt nicht existiert.[159] Außerdem fehlt die Individualbeschwerde im Sinne der deutschen Verfassungsbeschwerde bzw. des spanischen Amparos.

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All diese Besonderheiten haben in den ersten Jahren der Fünften Republik eine große Diskussion hervorgerufen. Die Mehrheit vertrat bis in die 1970er Jahre die Ansicht, er sei ein politisches Gremium zur Sicherung des neuen Gewaltenteilungssystems.[160] Die Institution erfuhr dann jedoch eine so tief greifende Veränderung, dass eine neue herrschende Meinung sich nach und nach durchsetzen konnte. Der Conseil constitutionnel wurde zum „Verfassungsgerichtshof“[161]. Hierauf wird unten näher eingegangen (Rn. 88ff.).

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › III. Die Struktur des Verfassungssystems › 2. Die Beziehungen zwischen den Verfassungsgewalten

2. Die Beziehungen zwischen den Verfassungsgewalten

a) Die Beziehungen innerhalb der Exekutive

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Die Beziehungen innerhalb der Exekutive sind von der Undurchsichtigkeit der einschlägigen Verfassungsnormen gezeichnet. Sie setzen Kompetenzen fest, die stellenweise früheren Verfassungstexten entnommen sind. Indes blieben die von den früheren republikanischen Verfassungstexten festgesetzten Kompetenztitel grundsätzlich formeller und nomineller Natur, zumal die Präsidentschaft in der Dritten und Vierten Republik eine im Wesentlichen ehrenamtliche und symbolische Aufgabe darstellte: Der Staatschef unterzeichnete bloß die in der Sache von der Regierung getroffenen Beschlüsse. Da die Präsidentschaft in der Fünften Republik nunmehr ein machtvolles politisches Amt sein soll, werden die dem Präsidenten zugewiesenen Kompetenztitel als Garantie tatsächlicher Machtbefugnisse, zumindest aber als Einflussmöglichkeit auf Verfassungssystem und politische Strukturen gedeutet. Allerdings konkurrieren diese Befugnisse in recht umfassendem Maße mit den parallel dem Premierminister oder der Regierung zugesprochenen Kompetenzen. Art. 15 CF beispielsweise macht den Präsidenten der Republik zum „Oberbefehlshaber der Streitkräfte“. Wenn diese Aufgabe als Zuweisung von Kompetenztiteln und effektiver Gewalt aufgefasst werden kann, wie ist sie dann in Einklang zu bringen mit der Regelung aus Art. 21 CF, der zufolge der Premierminister „für die Landesverteidigung verantwortlich“ ist? Es ist zwecklos, in einer Interpretation des Verfassungstexts selbst nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen. Überdies verfügen weder der Conseil constitutionnel noch die Verwaltungsgerichtsbarkeit über die notwendigen Befugnisse, um die aufgeworfenen Fragen abschließend zu beurteilen. Faktisch bestimmen die institutionelle Praxis und vornehmlich die Praxis der Exekutive über diese Kompetenzverteilung. Allerdings unterliegt diese Praxis starken Schwankungen, je nachdem ob die Regierung in Cohabitation regiert oder nicht. Ein vom Parlament unterstützter Premierminister in Cohabitation erfüllt in vollem Umfang die Aufgaben, die der Verfassungstext ihm überantwortet und „leitet die Tätigkeit“ einer Regierung (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 CF), die ihrerseits – unabhängig von jeglicher Weisung des Präsidenten – „die Politik der Nation bestimmt und führt“ (Art. 20 Abs. 1 CF). Im Gegenzug tendieren entsprechend den politischen Orientierungen des Präsidenten ernannte Premierminister und Regierungen dazu, Vollstrecker der vom Staatschef festgelegten Politik zu werden.[162]

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Völlig ungeachtet der politischen Zusammensetzung der Exekutive normiert Art. 19 CF eine ausdrückliche Regel, die eine gewisse Autonomie des Präsidenten und dessen Eigenschaft als tatsächlicher politischer Akteur gleichermaßen symbolisiert und garantiert. Einige Akte des Staatschefs sind von einer Gegenzeichnung entbunden. Diese Akte werden generell als „eigene Befugnisse“ (pouvoirs propres) des Präsidenten bezeichnet. Er allein übernimmt die Verantwortung für diese Handlungen, eine Verantwortung, die auch nicht vom Parlament in Frage gestellt werden kann. Diese spezifisch präsidentiellen Befugnisse umfassen neben der schon erwähnten Ernennung des Premierministers den Rückgriff auf das Legislativreferendum (Art. 11 CF), die Auflösung der Nationalversammlung (Art. 12 CF), die Ergreifung der Ausnahmebefugnisse (Art. 16 CF), die Ausübung des Mitteilungsrechts, das ihn zum Verkehr mit dem Parlament über Mitteilungen berechtigt (Art. 18 CF), die Ernennung dreier Mitglieder des Conseil constitutionnel und seines Vorsitzenden (Art. 56 CF) sowie die Anrufung des Conseil constitutionnel (Art. 54 und 61 CF). Sie ermöglichen dem Präsidenten die Wahrnehmung seiner Aufgaben, wie sie in Art. 5 CF definiert sind: über die Achtung der Verfassung zu wachen, die ordnungsgemäße Funktionsweise der öffentlichen Gewalt und die Kontinuität des Staates sicherzustellen, die nationale Unabhängigkeit, die territoriale Integrität sowie die Einhaltung völkerrechtlicher Verträge zu garantieren.

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Der Ministerrat ist – wie gesagt – das Kollegialorgan der Regierung. Einer französischen Tradition zufolge, die bis auf die konstitutionellen Monarchien (1814–1848) zurückgeht, übernimmt paradoxerweise nicht, wie im parlamentarischen Regime sonst üblich, der Regierungschef den Vorsitz dieser wöchentlichen Versammlung der Regierungsmitglieder, sondern der Staatschef. Die Gesamtheit der wichtigsten Regierungsbeschlüsse wird im Rahmen des Ministerrates erörtert und gefasst: Ernennung zu den höchsten zivilen und militärischen Staatsämtern, die wichtigsten Dekrete sowie alle Ordonnances, Gesetzesvorlagen, der Beschluss, in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage zu stellen (Art. 13, 38, 39 und 49 CF). Die Tagesordnung wird auf Vorschlag des Premierministers vom Präsidenten der Republik festgesetzt. Alle im Ministerrat durchgesehenen Dekrete (Regierungsverordnungen und Ernennungen) und Ordonnances werden vom Präsidenten der Republik unterzeichnet. Diese Unterschrift stellt die Ausübung einer tatsächlichen, nicht einer lediglich nominellen Kompetenz des Präsidenten dar. Die vom Staatschef unterzeichneten Dekrete sind an der Spitze der Hierarchie der Verwaltungsmaßnahmen (actes administratifs) anzusiedeln, können also nicht durch einfaches Dekret des Premierministers modifiziert werden. Der Regierungschef übt „unter Vorbehalt des Art. 13“, d.h. vorbehaltlich der im Ministerrat erörterten und vom Präsidenten unterzeichneten Dekrete, das Verordnungs- und Ernennungsrecht aus (Art. 21 Abs. 1 Satz 4 CF). Da jedoch, was Verordnungen anbetrifft, keine allgemeine materielle oder formelle Vorschrift existiert, die klar bestimmt, welche Maßnahmen dem Ministerrat unterstehen, führt die Praxis zu einem vom Conseil d’État gebilligten Evokationsrecht des Präsidenten: Im Ministerrat sind diejenigen Regierungsverordnungen zu erörtern, für welche die Verfassung oder ausnahmsweise ein Gesetz dies vorsieht, sowie diejenigen, die der Präsident eigenmächtig aufwirft.[163] Zudem stellt diese Präsidialfunktion im Rahmen des Ministerrates eine uneinnehmbare Bastion dar, mit der der Präsident selbst im Falle der Cohabitation noch über Möglichkeiten zur Einflussnahme verfügt, indem er die Aufnahme eines Themas in die Tagesordnung ablehnt oder aber die Unterzeichnung eines von der Regierung vorgeschlagenen Dekrets verweigert.

 

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Erkennen lässt sich dies insbesondere anhand der Ordonnances des Art. 38 CF. Ein Ermächtigungsgesetz kann der Exekutive zeitweilig die Rechtsetzungsbefugnis in begrenzten Bereichen einräumen, die normalerweise den formellen Gesetzgebungskompetenzen unterliegen. Gemäß Art. 38 Abs. 1 CF wird hierbei die Regierung, nicht der Staatschef ermächtigt. Allerdings zeichnet sich im Lichte des Art. 38 Abs. 2 CF, der die Erörterung solcher Ordonnances im Ministerrat zwingend vorschreibt, und des Art. 13 CF, der die Unterzeichnung im Ministerrat erörterter Ordonnances durch den Präsidenten vorsieht, eine Spannung in der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung ab. Diese problematische Konstruktion ermöglicht einem Präsidenten in Cohabitation, vom Parlament autorisierte und von der Regierung ausgearbeitete Ordonnances abzulehnen.[164]