Handbuch Ius Publicum Europaeum

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

5. Die Verfassungsänderung






a) Das ordentliche Verfahren gemäß Art. 89 der Verfassung



41





Die Voraussetzungen der Verfassungsänderung sind in Art. 89 CF geregelt. Die Formen und Annahmeverfahren der Gesetze von Verfassungsrang unterscheiden sich erheblich von denen einfacher Gesetze. Das Antragsrecht zur Verfassungsänderung steht „konkurrierend“ dem Präsidenten der Republik und den Parlamentsmitgliedern zu. Der Antrag des Präsidenten erfordert insofern eine Übereinstimmung beider Oberhäupter der Exekutive, als er nur auf Vorschlag des Premierministers gestellt werden kann. Darüber hinaus kann jedes Parlamentsmitglied, gleich ob Abgeordneter oder Senator, die Initiative zur Verfassungsänderung ergreifen. Allerdings muss der parlamentarische Änderungsvorschlag, um beraten zu werden, auf die Tagesordnung einer der beiden Parlamentskammern gesetzt werden (unten

Rn. 86

).



42








Art. 89 CF unterteilt das Ausarbeitungsverfahren in zwei unterschiedliche Phasen: die Annahmephase und die Approbationsphase. Die erste Phase erfolgt im gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren: Die beiden Kammern des Parlaments müssen sich auf eine Gesetzesvorlage einigen, die auf Grundlage des ursprünglichen Vorschlags ausformuliert wurde, wobei Änderungsanträge gestellt werden können. Daraufhin wird das Gesetz unter den gewöhnlichen Mehrheitsvoraussetzungen angenommen. Im Unterschied zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren ist die Übereinstimmung beider Kammern allerdings unerlässlich, was konkret bedeutet, dass die Nationalversammlung sich über den Widerstand des Senats nicht hinwegsetzen kann. Nachdem das Gesetz angenommen wurde, wird es einem speziellen Approbationsverfahren unterzogen, das entweder in Form eines Referendums oder im Rahmen des „Kongresses“ erfolgt. Der Kongress vereint die Mitglieder beider Parlamentskammern und ist als parlamentarische Sonderversammlung aufzufassen. Die Approbation hat mit einer Mehrheit von drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen zu erfolgen. Indes ist dieses Approbationsverfahren (im Kongress) nur für den Fall zulässig, dass die Initiative zur Verabschiedung eines verfassungsändernden Gesetzes vom Staatspräsidenten ausgeht. In diesem Fall steht es im Ermessensspielraum des Präsidenten, zwischen Approbation durch den Kongress oder Approbation per Referendum zu entscheiden. Im Gegenzug kann einem parlamentarischen Vorschlag zur Änderung der Verfassung nur per Referendum zugestimmt werden. Die Mehrzahl der achtzehn auf Grundlage des Art. 89 CF durchgeführten Verfassungsänderungen wurde vom Kongress verabschiedet.






b) Das fragwürdige Verfahren gemäß Art. 11 der Verfassung



43





Als General de Gaulle im Jahr 1962 die Veränderung des Präsidialwahlsystems in Angriff nimmt, beschließt er, Art. 89 CF zu umgehen, der die Übereinkunft der Parlamentskammern voraussetzt. Hierzu greift er auf das von Art. 11 CF vorgesehene Verfahren zurück: Auf Vorschlag der Regierung kann der Staatschef „jede die Organisation der öffentlichen Gewalt betreffende Gesetzesvorlage“ im Rahmen eines Referendums dem Volk unterbreiten. Zwar betrifft der Präsidialwahlmodus zweifelsohne die „Organisation der öffentlichen Gewalt“, doch ist hierzu eine formelle Veränderung des Verfassungstexts erforderlich, was ordnungsgemäß nur auf Grundlage des Art. 89 CF geschehen kann, der seinerseits die Möglichkeit des Referendums vorsieht. Die Entscheidung, auf Art. 11 CF zurückzugreifen, um den Verfassungstext zu ändern, war ein deutliches Zeichen dafür, wie die Exekutive das Parlament nun gering schätzen konnte, und war – beraubt man die besondere Vorschrift aus Art. 89 CF nicht ihres Zwecks – ein verfassungswidriger Akt.



44





Nach dem erfolgreichen Referendum vom 28. Oktober 1962 wurde der

Conseil constitutionnel

 vom Senatspräsidenten mit dem Gesuch angerufen, das Gesetz für verfassungswidrig zu erklären. In seiner berühmten Entscheidung vom 6. November 1962 verkündet der

Conseil constitutionnel

 jedoch, er sei für ein solches Gesuch nicht zuständig. Art. 61 CF überantworte dem

Conseil

 ohne genauere Angaben die Aufgabe, die Verfassungsmäßigkeit von „Gesetzen“ zu beurteilen. Doch ergebe sich laut

Conseil constitutionnel

 aus dem „Geist der Verfassung“, dass diese Gesetze ausschließlich parlamentarische seien und nicht etwa „solche, die vom Volk im Rahmen eines Referendums angenommen werden und insofern die nationale Souveränität unmittelbar zum Ausdruck bringen“. Die Begründung des

Conseil constitutionnel

 hat zur Folge, dass alle Referendumsgesetze seiner Zuständigkeit entzogen sind. Kritisch zu hinterfragen ist die Begründung vor allem deshalb, weil sie auf einer vereinfachten Vorstellung beruht, der zufolge das „Volk“ bei Durchführung des Referendums

unmittelbar

 anwesend sei, als wäre die Wählerschaft das „Volk“ und als wäre das Referendum nicht ein komplexes Verfahrenskonstrukt, das dem „Volk“ ermögliche, durch die Wählerschaft eine Entscheidung

unter Einwirkung

 des Rechts zu treffen. Das Urteil ist Teil einer Mythologie der Volkssouveränität, die in Frankreich im Grunde seit der Revolution gepflegt wird.



45








General de Gaulle hat ein zweites Mal auf das von Art. 11 CF vorgesehene Referendum zurückgegriffen, um eine Verfassungsreform in die Wege zu leiten. Das Referendum vom 27. April 1969 stellte sich als Fehlschlag heraus und hatte de Gaulles sofortigen Rücktritt von seinem Amt zur Folge. Die bisweilen vertretene Ansicht, wonach diese beiden Erfahrungen einen

Verfassungsbrauch

 hervorgebracht hätten, der die Anwendung des Art. 11 CF zu Zwecken der Verfassungsänderung gestatten würde, scheint nicht haltbar. Zum einen gibt es nur zwei Präzedenzfälle, zum anderen stimmen die beiden Fälle nicht überein; schließlich setzt oben genannte Ansicht auch die Möglichkeit voraus, dass sich Verfassungsgewohnheitsrecht

contra constitutionem

 herausbildet. Aus diesem Grund ist es wohl richtig, sich mit der Feststellung zu begnügen, dass der

Conseil constitutionnel

 nach gegenwärtiger Rechtsprechungslage den Weg zu verfassungswidrigen Verfassungsänderungen offen lässt.






c) Die Grenzen der Verfassungsänderung



46





In den Absätzen 4 und 5 des Art. 89 CF sind Schranken hinsichtlich der Umstände und des Inhalts von Verfassungsänderungen normiert. Die erste Vorschrift verbietet Einleitung und Durchführung von Änderungsverfahren, wenn die Integrität des Staatesgebietes gefährdet ist. Erinnert sei an ein ähnliches Verfassungsgesetz vom 10. Juli 1940, das Marschall Pétain nach der Niederlage der französischen Armee eine Generalvollmacht erteilte. Laut der zweiten Vorschrift kann die „republikanische Regierungsform“ in keinem Fall Gegenstand einer Verfassungsänderung sein. Es handelt sich um die einzige

expressis verbis

 geregelte materielle Schranke der Verfassungsänderung.



47





In seiner Entscheidung vom 2. September 1992 (

Maastricht II

) hat der

Conseil constitutionnel

 zum ersten Mal die Schranken der Verfassungsänderung erwähnt. „Die verfassunggebende Gewalt ist souverän“, bestätigt der

Conseil constitutionnel

; allerdings „unter dem Vorbehalt“ der in der Verfassung verankerten umstandsbedingten und materiellen Schranken. Indes handelt es sich hierbei um ein

obiter dictum

. Das Urteil hat seinerzeit zahlreiche Stellungnahmen von Seiten der Lehre nach sich gezogen und wurde als Anzeichen gedeutet, dass der

Conseil constitutionnel

 implizit seine Zuständigkeit für die Kontrolle von Verfassungsänderungsgesetzen bestätigt habe. Dies verkennt allerdings, dass der

Conseil constitutionnel

 sich lediglich zum materiellen Recht geäußert hat, in keiner Weise jedoch zur Frage nach seiner Zuständigkeit. Auch wurde vernachlässigt, was der

Conseil constitutionnel

 in einer unmittelbar danach verkündeten Entscheidung, in einem weiteren

obiter dictum

, präzisiert hat: Seine Zuständigkeit sei „von der Verfassung scharf umgrenzt“; Art. 61 CF ermächtige den

Conseil

 insofern nur, die Verfassungsmäßigkeit „von Organgesetzen und einfachen Gesetzen“ zu beurteilen, was seine Zuständigkeit für Verfassungsgesetze, sogar parlamentarische Verfassungsgesetze, recht eindeutig ausschließt. Die Frage nach der Zuständigkeit des

Conseil constitutionnel

 für Verfassungsgesetze wurde erst 2003 endgültig geklärt: Unter Rückgriff auf die prägenden Worte des

obiter dictums

 vom 23. September 1992 schloss der

Conseil constitutionnel

 seine Zuständigkeit aus. Verfassungsgesetze, gleich ob per Referendum angenommen oder vom Parlament, sind also jeglicher gerichtlichen Kontrolle entzogen. Diese Entscheidung bestätigt im Grunde die Tradition, die seit der Dritten und Vierten Republik Wurzeln schlägt, der zufolge kein wesentlicher Unterschied zwischen

Verfassung

 und

Verfassungsgesetz

, zwischen

Verfassunggebung

 und

 Verfassungsänderung

 besteht.



§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich

 › III. Die Struktur des Verfassungssystems





III. Die Struktur des Verfassungssystems



§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich

 › III. Die Struktur des Verfassungssystems › 1. Die Verfassungsgewalten

 





1. Die Verfassungsgewalten






a) Die Exekutivorgane



48





Ob man von „vollziehender Gewalt“ oder von „Regierungsgewalt“ spricht, ist wahrscheinlich nur Geschmacksache. Vorzugswürdiger wäre es vielleicht, im Bereich der „vollziehenden Gewalt“ zwischen einer Regierungsfunktion und einer Verwaltungsfunktion zu unterscheiden. Diese Unterscheidung bleibt auch nicht ohne positivrechtliche Folgen, da – grob gesagt – die im Rahmen der Regierungsfunktion getroffenen Maßnahmen („

actes de gouvernement

“), im Unterschied zu den funktional als Verwaltungsakte zu betrachtenden Maßnahmen der Exekutive, vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit grundsätzlich nicht anfechtbar sind. Aus institutioneller Sicht, die hier als Bezugspunkt dienen soll, ist es umso wichtiger hervorzuheben, dass der Staatschef nicht nur

Teil

, sondern auch

Akteur

 der vollziehenden Gewalt ist.






aa) Der Staatschef



49





Die Wahl.

 Seit dem Verfassungsgesetz vom 6. November 1962 wird der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt. Dieses Wahlverfahren soll der Legitimität eines aktiven Staatschefs dienen. Diesem Ziel entsprechend wurde das aus zwei Wahlgängen zusammengesetzte Wahlverfahren in einer Form ausgestaltet, die garantieren soll, dass der Präsident mit absoluter Mehrheit bestimmt wird. Am zweiten Wahlgang nehmen die zwei nach dem ersten Wahlgang bestplatzierten Kandidaten teil. In Hinblick auf die hierdurch bezweckte Legitimation ist das System allerdings nur bedingt befriedigend. In der Tat ist auch das Ergebnis des ersten Wahlgangs für die Legitimation des gewählten Präsidenten von großer Bedeutung. Die Legitimität eines Präsidenten, der in diesem ersten Wahlgang nur eine dürftige Zahl an Stimmen erlangen konnte, ist selbst dann nicht hinreichend sichergestellt, wenn er am Ende mit absoluter Mehrheit gewählt wird. Die Wahl von 2002 statuierte in dieser Hinsicht ein Exempel. Dem Wahlsieger kam die abgrundtiefe Ablehnung zugute, mit der die Öffentlichkeit seinem rechtsradikalen Konkurrenten begegnete; etwa 82% der Stimmen konnte er auf seinen Namen vereinigen. Allerdings zeugt ein solches Votum der Wählerschaft nicht eben von Zustimmung zum politischen Programm eines Kandidaten, der im ersten Wahlgang weniger als 20% der abgegebenen Stimmen (i.e. weniger als 14% der Wahlberechtigten) auf sich vereinigen konnte.



Diese Situation war die Folge einer enormen Zahl an Kandidaten. Auf insgesamt 16 Kandidaten konnten sich die Stimmen der Wählerschaft regelrecht zersplittern. Gegen einen solchen Drift des Wahlsystems hatte der Gesetzgeber schon 1962 versucht, Vorkehrungen zu treffen, wonach jede Kandidatur von Gewählten (Senatoren, Abgeordneten, lokalen Vertretern) „vorgestellt“ (

présenté

) werden musste. Nachdem sich 1974 zwölf Kandidaten zur Wahl gestellt hatten, wurde die Zahl erforderlicher „Vorstellungen“ von 100 auf 500 erhöht. Dennoch hat das System im Jahr 2002 seine evidente Unzulänglichkeit unter Beweis gestellt.



50





Seit 1988 unterliegt die Wahlkampffinanzierung gesetzlichen Rahmenvorschriften. Die Ausgaben der Kandidaten sind begrenzt und werden – wie die Einnahmen auch – auf ihre Herkunft geprüft. Alle Kandidaten erhalten einen staatlichen Zuschuss und ein Teil der darüber hinausgehenden Wahlkampfkosten wird je nach Ergebnis des Kandidaten vom Staat zurückerstattet. Auch müssen alle Kandidaten alle den Wahlkampf betreffenden Finanzbewegungen in einem Budget darlegen und Rechenschaft vor dem

Conseil constitutionnel

 ablegen. Dieser kann im Falle unrichtiger Informationen das Budget ablehnen, was zur Folge hat, dass die Wahlkampfkosten dem Betroffenen nicht erstattet werden.



51








Insgesamt prüft der

Conseil constitutionnel

 die ordnungsgemäße Durchführung der Präsidialwahlen. Er setzt die Liste der zugelassenen Kandidaten fest, beaufsichtigt den Ablauf der Wahl, entscheidet über die von Wählern bzw. Kandidaten erhobenen Einsprüche und verkündet die Wahlergebnisse.



52





1958 wurde die Amtsdauer des Staatschefs auf sieben Jahre festgesetzt. Mit der Erfahrung der

Cohabitation

 wurde der Unterschied zwischen der Amtsdauer des Präsidenten einerseits (7 Jahre) und der Dauer einer Legislaturperiode der Nationalversammlung andererseits (5 Jahre) zum Problem. Das Verfassungsgesetz vom 2. Oktober 2000 bewerkstelligte durch die Verkürzung der Amtsdauer des Präsidenten auf fünf Jahre die notwendige Synchronisierung. Zur Entsynchronisierung der beiden Ämter könnte es mit der frühzeitigen Auflösung der Nationalversammlung durch den Präsidenten aber auch in Zukunft noch kommen.



53








Der Präsident genießt einen weitreichenden Schutz vor Strafverfolgung. Für die im Rahmen seiner Amtsausübung unternommenen Handlungen darf er allenfalls wegen Hochverrats angeklagt werden, wobei der Begriff „Hochverrat“ weder in der Verfassung noch im Strafgesetzbuch näher bestimmt ist. Die Anklage ist Gegenstand eines von beiden Parlamentskammern mit absoluter Mehrheit zu fassenden Beschlusses. Das Urteil verkündet ein aus Parlamentsmitgliedern zusammengesetzter Staatsgerichtshof, die

Haute Cour

 (Art. 67 und 68 CF). Umstritten ist jedoch die Frage nach der strafrechtlichen Immunität des Präsidenten für Handlungen, die

 nicht

 an seine Verfassungsfunktion anknüpfen. In seiner Entscheidung vom 22. Januar 1999 hat der

Conseil constitutionnel

 Art. 68 CF dahingehend ausgelegt, dass der Staatschef über die oben erwähnte

materiellrechtliche

 Strafimmunität hinaus ein Jurisdiktionsprivileg genießt. Während seiner gesamten Amtszeit kann der Präsident nur auf Anklage des Parlaments von der

Haute Cour

 verurteilt werden. Dies garantiert dem Präsidenten während seiner Amtszeit

de facto

 Straffreiheit, sei es wegen Zuwiderhandlungen noch vor Amtsantritt, sei es wegen Handlungen während der Amtszeit, selbst wenn diese in keinerlei Beziehung zur Ausübung seines Amtes stehen. Das Resultat dieser Interpretation wäre nicht nur faktische strafrechtliche Unantastbarkeit des Staatschefs während seiner Amtszeit, sondern auch ein ununterbrochener Ablauf der Verjährungsfrist. Der Kassationshof ist dieser Auslegung in seiner bemerkenswerten Entscheidung vom 10. Oktober 2001 nicht gefolgt. Nach dem höchsten Gerichtshof der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist die

Haute Cour

 nur im Falle des Hochverrats zuständig. Für sonstige Taten, die entweder vor Amtsantritt oder außerhalb der Amtsausübung begangen wurden, bleibt also die ordentliche Gerichtsbarkeit zuständig. Doch ruht deren Kompetenz bis zum Ende des Präsidentenmandats, währenddessen die Verjährung unterbrochen bleibt.



54








Politisch ist der Staatschef gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Diese traditionelle Unverantwortlichkeit ließ sich in den früheren Republiken damit rechtfertigen, dass der Präsident keine tatsächliche politische Macht ausübte. Im Verfassungssystem der Fünften Republik lässt sich die Unverantwortlichkeit des Präsidenten nur noch dadurch erklären, dass die politische Verantwortlichkeit des Staatschefs notwendigerweise seine Unterwerfung unter das Parlament zur Folge hätte, was im Geist des gaullistischen Denkens ganz und gar systemfremd ist.



55





Im Falle einer Vakanz bzw. eines vom

Conseil constitutionnel

 festgestellten Verhinderungsfalles wird die Funktion des Staatschefs dem Senatspräsidenten übertragen, dessen Befugnisse als Interimspräsident jedoch beschränkt sind (Art. 7 CF).






bb) Die Regierung



56





Die Regierung ist das

kollegiale

 Exekutivorgan. Das der Regierung zugrunde liegende Kollegialsystem ist eines der grundlegenden Verfassungsprinzipien. Als Kollegialorgan handelt die Regierung durch den wöchentlich tagenden „Ministerrat“ und ist der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich. Die Regierung ist ein unter die Person des Premierministers vereintes Kollegium, dessen Tätigkeit vom Premierminister geleitet wird (Art. 21 Abs. 1 CF). Die Amtsniederlegung des Premierministers hat unweigerlich die Auflösung der gesamten Regierung zur Folge. Auch kann der Premierminister dem Staatschef formell nicht

seinen

 Rücktritt erklären, sondern ausschließlich den

seiner Regierung

 (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 CF). Ein Ziel des Verfassunggebers von 1958 war insbesondere die globale Stärkung der Exekutive und die Sicherstellung der Leitungsfunktion des Premierministers gegenüber seiner Regierung (Art. 21 CF).



57








Die dem Staatschef untergeordnete Stellung lässt sich auf den in Art. 8 Abs. 1 Satz 1 CF geregelten Ernennungsmodus zurückführen, dem zufolge der Regierungschef vom Staatspräsidenten ernannt wird. Allein der präsidentielle Ernennungsakt stattet den neuen Premierminister mit seinen verfassungsrechtlich garantierten Befugnissen aus. Noch in der Vierten Republik wies ausschließlich das zustimmende Votum der Nationalversammlung dem Regierungschef und seiner Regierung die jeweiligen Kompetenztitel zu, wobei der Staatschef den Kandidaten für das Amt „designieren“, also einen Vorschlag vor der Parlamentskammer einbringen konnte. Das Wort „ernennen“ in Art. 8 CF lässt einen deutlichen Bruch mit dem alten System erkennen. Gemäß Art. 19 CF ist der präsidentielle Ernennungsakt von einer Gegenzeichnung entbunden – ein weiterer Beleg dafür, dass der Regierungschef in der Fünften Republik vom Staatschef „hervorgeht“.



58








Auch die Regierungsmitglieder selbst werden auf Vorschlag des Premierministers und durch vom Premierminister gegengezeichneten Beschluss des Präsidenten der Republik ernannt (Art. 8 Abs. 2 i.V.m. Art. 19 CF). Auf diese Weise erfolgt die Regierungsbildung zumindest formell unter doppelter Gewalt – der des Präsidenten und des Premierministers. Regierungsmitglieder sind Minister (von denen einige den protokollarischen Ehrentitel „Staatsminister“ tragen), aber auch „Staatssekretäre“. Letztere sind zwar Regierungsmitglieder, doch nehmen sie einem wohletablierten Brauch nach nicht von Rechts wegen, sondern nur auf ausdrückliche Einladung des Staatschefs hin an den Sitzungen des Ministerrates teil. Insofern sind die Staatssekretäre Minister zweiten Ranges und in der Regel von einem vollamtlich tätigen Minister abhängig.



59








Wenngleich aus dem Wortlaut des Art. 8 CF eindeutig hervorgeht, dass die Regierungsbildung nicht von der Zustimmung der Nationalversammlung abhängt, so wäre es doch vertretbar gewesen, der Nationalversammlung unverzüglich nach Ernennung der Regierung die Vertrauensfrage mit Blick auf die Legitimität dieser Regierung zu stellen. Die sehr bald verfolgte Praxis (seit 1962) hat anders entschieden: Die Vertrauensfrage beruht in jedem Fall auf einer im Ermessensspielraum des Ministerrats stehenden Entscheidung. Allerdings kann die parlamentarische Opposition, wenn die neu ernannte Regierung der Nationalversammlung die Vertrauensfrage nicht stellt, selbst einen Misstrauensantrag stellen, dessen Annahme mit absoluter Mehrheit der Parlamentsmitglieder die Regierung zum Rücktritt verpflichtet (Art. 49 Abs. 2 i.V.m. Art. 50 CF). Ungeachtet der Brüche gegenüber der vormaligen parlamentarischen Praxis, mit denen die Gründung der Fünften Republik einherging, ergibt sich hieraus, dass es dem Staatschef unmöglich ist, eine Regierung zu bestimmen, die von der parlamentarischen Mehrheit zurückgewiesen würde. Bedenkt man die Tatsache, dass einer der wesentlichen Charakterzüge des parlamentarischen Regimes darin liegt, dass die Regierung das Vertrauen der wichtigsten Kammer haben muss oder zumindest nicht auf deren Misstrauen stoßen darf, so ist das Regime der Fünften Republik wohl doch als „parlamentarisches Regime“ zu qualifizieren. Allein diese Betrachtungsweise vermag die

Cohabitation

 zu erklären: Wie „präsidentiell“ das System auch sein mag, der Staatschef kann mit einer der Mehrheit des Unterhauses entgegenstehenden Regierung den Staat weder führen noch regieren.



60








Im Gegenzug läuft die in Art. 23 CF normierte Regel, der zufolge die Regierungsmitgliedschaft mit der Ausübung jeglichen parlamentarischen Mandats inkompatibel ist, völlig der parlamentarischen Tradition Frankreichs zuwider. Ein in die Regierung berufenes Parlamentsmitglied muss, sofern es seine Ernennung annimmt, von seinem Mandat zurücktreten. Nach Ausscheiden aus der Exekutive muss der Betroffene wiedergewählt werden, um seinen Sitz im Parlament zurückzuerlangen. Die Trennung von Regierungsmitgliedschaft und parlamentarischem Mandat geht mit einer strikten Trennung der Organe einher. Im Geiste des Verfassunggebers von 1958 kam dieser Inkompatibilitätsregel beträchtliche Bedeutung zu, zumal sie der Bequemlichkeit ein Ende setzen sollte, die ihren Teil zur Instabilität der Regierungen in den vorangegangenen Republiken b