Handbuch Ius Publicum Europaeum

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

I. Ursprung und Entstehung des Verfassungssystems der Fünften Republik

Für die hervorragende Übersetzungsarbeit und den unermüdlichen Einsatz danke ich Herrn Yoan Hermstrüwer, Freiburg i. Brg. Redaktionell bearbeitet von Dr. Jürgen Bast und Nicole Betz.

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › I. Ursprung und Entstehung des Verfassungssystems der Fünften Republik › 1. Eine komplizierte Beziehung: Staat und Nation in Frankreich

1. Eine komplizierte Beziehung: Staat und Nation in Frankreich

1

Am 28. Januar 1960 gab General de Gaulle vor dem Staatsrat (Conseil d’État) eine seiner tiefsten Überzeugungen kund: „Frankreich gibt es nur durch den Staat.“[1] Voraussetzung der grande nation ist demnach ein starker Staat. Das ewige Frankreich ist eine „Erfindung“,[2] und zwar großenteils eine Erfindung des Staates; das zentralisierte Frankreich bildet keine Einheit, sondern eine „Vielfalt.“[3] Der Staat hat diese Vielfalt zur Einheit gebracht und als „Nation“ geschaffen. Dies war ein langwieriger Vorgang, der seine Anfänge im ausgehenden Mittelalter findet und durch eine bewusste Politik des absolutistischen Staates weitgehend abgeschlossen wurde.[4] Alexis de Tocquevilles bekannter These zufolge führte die große Revolution einen Zentralisierungsprozess des Verwaltungsapparates zu Ende, der lange zuvor von der Monarchie in Gang gesetzt worden war.[5] Die Kapetinger fügten nicht nur Territorien und Bevölkerungen wie nach Plan zusammen, sie schufen auch die nationale Ideologie, den Mythos, der dieser zusammengesetzten Substanz die äußere Form einer Einheit gab.[6] Es war das „Wunder der Kapetinger.“[7] Hobbes’ Satz war – jenseits der Fiktion – Wirklichkeit geworden: „For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One.“[8] Diese Einheit ist jedoch ideeller Natur, da Frankreich – konkret betrachtet – eine Vielfalt bleibt: „Weder die Staatsgewalt, noch die gesellschaftliche Ordnung und das kulturelle System können eine Einheit schaffen, die mehr als nur äußerer Schein wäre.“[9]

2

„L’État c’est moi“. Dieses geflügelte Wort hat Ludwig XIV. in Wirklichkeit nie ausgesprochen.[10] Der Grundgedanke des französischen Absolutismus zielte nicht darauf, den Staat in der Person des Monarchen völlig aufgehen zu lassen, sondern darauf, Privatmann und „Krone“ radikal voneinander zu trennen.[11] Doch trifft Francis Bacons Zitat über die englische Monarchie auch hier zu: König und Krone sind „untrennbar und doch verschieden“[12]. Das Corpus mysticum rei publicae hatte den König als Haupt und die drei Stände als Glieder. Die „Nation“ war keine autonome Größe, denn „die Nation bildet in Frankreich keinen Körper. Sie liegt voll und ganz in der Person des Königs.“[13] In einer berühmten Stellungnahme vor dem Parlement de Paris prangert Ludwig XV. am 3. März 1766 den Pariser Gerichtshof an, der den Anspruch erhebt, als Vertreter der Nation agieren zu dürfen. Seine Kritik begründet Ludwig mit dem Argument, damit „wage“ man, die Nation als „einen vom Monarchen getrennten Körper“ zu errichten.[14] Diese aus dem 15. Jahrhundert tradierte Vorstellung[15] war bis zum Ende der absoluten Monarchie Bestandteil der königlichen Ideologie. État-Nation: der Bindestrich steht für Frankreichs König. Grundlage der juristischen Konstruktion des monarchischen Staatsrechts war ebendiese fingierte Montage. Unter Zugrundelegung einer besonderen Vorstellung vom mystischen Körper, und mit Hilfe juristischer Sinnsprüche, entwickelten die Légistes eine Theorie des französischen Königtums und festigten Staat und Nation zugleich.[16] Hierdurch wurde der Staat verfasst und die absolute Monarchie rechtlich begrenzt.[17]

3

Die Revolution brachte einen neuen Verfassungsbegriff hervor, der mit dem alten Konzept der monarchischen „Verfassung“ nicht in Einklang zu bringen war. „Eine Gesellschaft, in der weder die Garantie der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung“, heißt es in Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.[18] Der Hauptunterschied zwischen altem und neu verfasstem Staat war jedoch tiefgründiger. Da die Nation nunmehr naturrechtlich[19] die Souveränität und somit die verfassunggebende Gewalt innehatte,[20] war diese denknotwendig dem Staat und seinem Haupt vorauszusetzen. Die Nation bildete eo ipso einen Körper, koppelte sich von König und Staat ab und verfasste selbständig ihren Staat.[21] Nachdem der Staat die Nation hervorgebracht hatte, musste nun die Nation ihrerseits den Staat schaffen. In diesem dialektischen Umschlag der bisherigen Verhältnisse liegt das wesentliche Problem der Entstehung des revolutionären Staates. Die durch den Staat geformte Nation hatte größte Schwierigkeiten, den passenden Staat zu errichten. Sie lassen sich, von einem sozial-historischen Standpunkt aus, darauf zurückführen, dass die französische Gesellschaft noch lange Zeit und mindestens durch das 19. Jahrhundert hindurch den Staat benötigen sollte, um selbst geschaffen zu werden.[22] Es mangelte an gesellschaftlicher Autonomie gegenüber dem Staat. Die institutionelle Frage wurde zum beständigen Problem der französischen Verfassungsgeschichte. Lange Zeit wurde angenommen, erst die Fünfte Republik, die eine subtile Mischung monarchischer und republikanischer Elemente hervorbrachte, habe diese Frage endlich gelöst.[23] Damit übernahm man, bisweilen eher unkritisch, de Gaulles Vorstellung und Darstellung. „Ich habe keine neue Republik gegründet“, erklärte er, „sondern der Republik nur ein Fundament gegeben, das sie noch nicht hatte. [...] Ich habe versucht, Monarchie und Republik zur Synthese zu bringen.“[24] Heute wird dieser monarchisch-republikanische Ausgleich vermehrt in Frage gestellt. Frankreichs strukturelle Schwierigkeiten, sich international weiter zu behaupten und innenpolitisch passende gesellschaftliche Steuerungsmodelle zu entwerfen, werden immer häufiger auf die institutionellen Verhältnisse der Fünften Republik zurückgeführt. Demokratiedefizit, parlamentarische Schwäche, Übergewicht der Exekutive, Unzulänglichkeiten bei der Verfassungsgerichtsbarkeit und eine notwendige Globalreform der Justiz: Das sind die Grundmotive, auf die sich ein immer lauter werdender Ruf zur Gründung einer Sechsten Republik stützt.[25]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › I. Ursprung und Entstehung des Verfassungssystems der Fünften Republik › 2. Die Fünfte Republik und die französische Verfassungstradition

2. Die Fünfte Republik und die französische Verfassungstradition

a) Die institutionelle Frage als beständiges politisches Problem der französischen Verfassungsgeschichte

4

„In Frankreich“, schreibt Jean-Marie Denquin ganz richtig, „ist die Verfassung seit der Revolution immer schon ein politisches Streitobjekt, eine nie beendete Baustelle, die Ursache allen Übels und das Sammelbecken aller Hoffnungen gewesen.“[26] Paradoxerweise sind Verfassungstexte im Allgemeinen einerseits mit beachtlicher Symbolkraft ausgestattet, andererseits werden sie bisweilen als Quelle der schwerwiegendsten Übel aufgefasst, die den Staat heimsuchen können. Daher auch das besondere Verhältnis, das die französische Gesellschaft lange Zeit zu ihren Verfassungen pflegte: Sie wurden kaum verändert; sie wurden umgestoßen, durch plötzliche Bewegungen komplett ausgetauscht. Gerade weil die Verfassungen von bedeutender Symbolkraft waren, richtete sich die zu ihr gepflegte Beziehung nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Zweifelsohne ist auch die Verfassung der Vereinigten Staaten ein Text, der in der amerikanischen Mentalität als symbolisch wichtiger, ja geheiligter Text gilt. Allerdings ist der Text von 1787 erstaunlich stabil und im Wesentlichen pragmatisch durch Praxis und Interpretation verändert worden. Frankreich hingegen hat seit 1791 die Anwendung elf verschiedener Verfassungen erfahren, die zuweilen zudem durch radikale Verfassungsänderungen substanziell modifiziert wurden. Hinzu kommen mehrere niemals angewandte Texte und einige de facto-Regime, alles in allem etwa dreißig verschiedene politische Regime.[27]

Der Unterschied ist wohl darauf zurückzuführen, dass das Ursprungsereignis – eine Revolution, die in beiden Fällen die Bedeutung eines politischen Gründungsmythos erlangt hat – keine vergleichbaren Wirkungen gezeitigt hat. Wenngleich die Etablierung politischer Bundeseinrichtungen sich auch in den Vereinigten Staaten nicht ohne Widerstand und Schwierigkeiten vollzog, so hat die Verfassung in ihren ersten Jahren doch eine hinreichende Stabilisierung des Systems und die Überwindung der anfänglichen politischen Wechselfälle bewirken können. In Frankreich hingegen bleibt die erste Verfassung weniger als ein Jahr lang in Kraft, vom 3. September 1791 bis zum 10. August 1792, dem Tag, an dem Ludwig XVI. stürzt. Das tatsächlich revolutionäre Gründungsereignis in Frankreich war die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789; in institutioneller Hinsicht hat die Revolution weder 1791 (parlamentarische Monarchie), noch 1793–1794 (revolutionäre Regierung und Terrorregime), noch 1795 (erste angewandte republikanische Verfassung; sog. Direktorialregime, das mit dem Staatsstreich Bonapartes 1799 zusammenbricht) etwas Lebensfähiges und Dauerhaftes hinterlassen. Sie hat die französische Gesellschaft begründet, nicht jedoch den Staat als Institution.

 

5

Von 1789 bis 1875 ist Frankreich ein großes Verfassungslaboratorium gewesen, in dem alle vorstellbaren institutionellen Kombinationen durchgespielt wurden: parlamentarische Monarchie (1791–1792), Republik mit strikter Gewaltenteilung (1795–1799; 1849–1851), „Cäsarismus“ und Dominanz der Exekutive nach bonapartistischen Modellen (1799–1814; 1851–1870), „konstitutionelle“ Monarchien (1814–1830; 1830–1848). Eine Verfassung hielt sich durchschnittlich etwa zehn Jahre.

6

Die Verfassungsgesetze von 1875 stellten erstmals ein gleichermaßen dauerhaftes, republikanisches und parlamentarisches System her. Sie blieben in Kraft bis zur Niederlage der französischen Armee im Frühjahr 1940, dem Auftakt zur Errichtung des Vichy-Regimes und der Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht (1940–1944). Ihre Entstehung war langwierig und gestaltete sich schwierig. Die bereits im Februar 1871 gewählte verfassunggebende Nationalversammlung verabschiedete die drei Verfassungsgesetze erst zwischen Februar und Juni 1875. Es waren „republikanische“ Verfassungsgesetze, die jedoch zahlreiche monarchistische Vorkehrungen enthielten. In der Tat war die Nationalversammlung, die diese Gesetze verabschiedete, mehrheitlich von Monarchisten besetzt. Doch führte die Spaltung des monarchistischen Lagers am 30. Januar 1875 zur Annahme des republikanischen Prinzips mit einer Mehrheit von einer Stimme.[28] Diese republikanische Lösung hatte aus Sicht der Monarchisten allenfalls provisorischen Charakter und sollte lediglich bis zur erhofften Wiederherstellung der Monarchie fortbestehen. Hierdurch erklärt sich auch die Form dieser in drei verschiedene Gesetze gegossenen, extrem kurzen, jegliche „Rechteerklärung“ entbehrenden, unvollständigen und unzureichenden Verfassung.

Deren Anwendung sollte vom ersten Verfassungsstreit endgültig geprägt werden. Am 16. Mai 1877 brach zwischen dem Präsidenten der Republik und der Abgeordnetenkammer die Krise aus: Das Staatsoberhaupt zwang den Regierungschef, der das Vertrauen der Parlamentskammern genoss, zum Rücktritt. Die Abgeordnetenkammer hatte der neuen Regierung das Vertrauen verwehrt, woraufhin der Präsident mit der Auflösung reagierte. Das Lager des Staatschefs verlor die Wahlen und dieser war gezwungen, eine der Abgeordnetenkammer wohlgesonnene Regierung zu ernennen, um nach erneut zu seinen Ungunsten ausgefallenen Neuwahlen sein Amt schließlich niederzulegen. Mit dieser Krise fasst das parlamentarische Regime in der Dritten Republik insofern endgültig Fuß, als nunmehr jede Regierung das Vertrauen des Parlaments haben muss. Gleichzeitig bringt die Krise das Instrument der Parlamentsauflösung in Misskredit, dessen man sich bis ans Ende des Regimes nicht mehr bediente. Das Resultat ist ein aus dem Gleichgewicht geratenes System, in dem kein Gegengewicht zur Macht der Parlamentskammern existiert: Die Auflösung ist de facto unmöglich, die Akte des Parlaments, insbesondere die Gesetze, sind gegen jeglichen Einwand gefeit. Die Regierungen sind voll und ganz von den Parlamentskammern abhängig. Diese Situation verschlechtert sich dadurch, dass es dem indirekt gewählten Sénat gelingt, sich mit gleicher Macht zu behaupten wie die Nationalversammlung.

Die Instabilität grassierte: Erstreckte sie sich bis 1875 noch auf die Verfassungen, so fielen ihr bald die Regierungen zum Opfer. Besonders seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts folgten die Regierungen in einem außerordentlich schnellen Rhythmus aufeinander. Eine Regierung hielt sich in der Dritten Republik durchschnittlich etwa sieben Monate. Die parlamentarische Republik wurde zu einem Regime der „parlamentarischen Souveränität“. Die Zahl der Abhandlungen über die Systemkrise nahm nach dem Ersten Weltkrieg um ein Vielfaches zu: „République des camarades“ (Robert de Jouvenel, 1914), „République des professeurs“ (Albert Thibaudet, 1927), „République des comités“ oder „des ducs“ (Daniel Halévy, 1934, 1937). Die Republik war als von der parlamentarischen Klasse beschlagnahmt verschrien. In den 1930er Jahren bestimmte die Réforme de l’État mehr denn je zuvor die Agenda der Intellektuellen, Politiker und Juristen. Zu letzteren gehörten Joseph Barthélémy[29], René Capitant[30], Marcel Prélot[31], Boris Mirkine-Guetzévitch, aber auch Raymond Carré de Malberg, der Professor aus Straßburg.[32] Das Ergebnis war ein „buntes“[33] und widersprüchliches Konglomerat von Betrachtungen über die Krise des parlamentarischen Regimes, wobei der kraftvolle Aufstieg autoritärer und totalitärer Systeme in Europa diesen Überlegungen besonders dringlichen Charakter verlieh.

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte André Tardieu, seinerzeit einer der bedeutendsten Politiker, ein zweibändiges Pamphlet, das unter dem bezeichnenden Titel erschien: „La Révolution à refaire“[34]. Doch könnte dieser pointierte Titel noch durch die Aussage verschärft werden, dass die institutionelle Revolution noch gar nicht stattgefunden hatte, denn das Jahr 1789 hat Frankreich kein gangbares institutionelles Schema beschert, sondern stellte lediglich das Prinzip einer immer noch gegen die bestehenden Institutionen zu erkämpfenden Volkssouveränität auf.

7

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die institutionelle Frage erneut gestellt. Das am 21. Oktober 1945 von der provisorischen Regierung unter General de Gaulle organisierte Referendum bot der nunmehr männlichen und weiblichen Wählerschaft die Alternative zwischen schlichter Rückkehr zu den Institutionen der Dritten Republik oder der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Knapp 700 000 Wähler forderten die Wiederherstellung der ehemaligen Institutionen, während nahezu 20 Millionen eine neue Verfassung verlangten. Ein erstes Projekt vom 19. April 1946 wurde per Referendum am 5. Mai 1946 abgelehnt. Ein zweites Projekt wurde per Referendum am 13. Oktober 1946 angenommen und am 27. Oktober 1946 verkündet, der Geburtsstunde der Vierten Republik. Die Kernfrage hinsichtlich der Institutionen blieb weiterhin schwierig. Die Verfassung wurde von einer lediglich mäßigen Mehrheit befürwortet.[35] Sie verringerte in beträchtlichem Maße die Kompetenzen der zweiten Kammer, die nicht mehr offiziell Sénat, sondern Conseil de la République genannt wurde. Sie bemühte sich um die Einführung von Korrekturmechanismen für die parlamentarischen Institutionen, indem sie einerseits die Voraussetzungen modifizierte, unter denen die Regierung von der ersten Kammer, nunmehr „Nationalversammlung“ genannt, eingesetzt wurde. Andererseits modifizierte sie die Bedingungen, unter denen die Nationalversammlung einem Kabinett das Vertrauen entziehen konnte. Darüber hinaus bekräftigte sie im Grundsatz das Auflösungsrecht: Sofern innerhalb von 18 Monaten zwei Regierungen unter den in der Verfassung vorgesehenen Bedingungen gestürzt wurden, durfte die Exekutive die Nationalversammlung auflösen. Diese Mechanismen funktionierten nicht, zumal die Nationalversammlung sie unterlief und umging. Die Regierungen waren ebenso instabil wie in den Endjahren der Dritten Republik. Was zunächst als Rationalisierung des Parlamentarismus bezeichnet worden war, entpuppte sich kurzerhand als Fehlschlag. Die Einführung der Verhältniswahl zur Nationalversammlung verschlimmerte die Situation. Zweck der Reform des Wahlsystems im Jahr 1951 war denn auch weniger die Herstellung stabiler Mehrheiten als vielmehr die Blockierung von Parteien, insbesondere der kommunistischen oder gaullistischen, die dem gewöhnlichen Parlamentsgeschehen abträglich zu sein schienen. Eine Verfassungsänderung im Jahr 1954 hatte zur Folge, dass das institutionelle System der Vierten Republik dem der Dritten Republik im Wesentlichen angeglichen wurde. Offensichtlich verkörpern die parlamentarische Souveränität und die Instabilität der Regierungen das strukturelle Übel des französischen Parlamentarismus.

8

Ein Grund für die strukturelle Schwierigkeit, stabile Regierungen im parlamentarischen Regime herzustellen ist wohl, ungeachtet der den Verfassungsmechanismen eigenen Vor- und Nachteile, auf manche Eigenarten des französischen Parteiensystems zurückzuführen. Das Zwei-Parteien-System nach englischem Vorbild hat niemals Fuß gefasst. Seit Albert Thibaudet, der schon 1932 sechs das französische Parteileben strukturierende politische Familien zählte,[36] ist es Usus, nicht nur die Vielparteienkonstante der französischen Politik zu betonen, sondern auch die Tiefe der Spaltungen, welche die Koalitionssysteme äußerst empfindlich machen: Die Bipolarität links/rechts spiegelt in keiner Weise die Divergenzen und Spannungen innerhalb dieser beiden großen Pole wider. Koalitionen rechter wie linker Parteien können sich nachhaltig nur mittels institutioneller Vorkehrungen halten, deren Wirkungen radikal sein müssen, um tatsächlich wirksam zu sein. Die Rationalisierung des Parlamentarismus konnte in der Vierten Republik mangels Radikalität nicht gelingen. Eine solche Radikalität ist charakteristisch für die Institutionen der Fünften Republik, deren Entwurf weitestgehend General de Gaulles Willen entsprang, dem – wie er es nannte – „Parteienregime“ ein Ende zu setzen. Der Preis hierfür war eine starke Relativierung des Parlamentarismus als Staatsform und des Parlaments als Institution.

b) Zwischen demokratischem Cäsarismus und republikanischer Monarchie: die Fünfte Republik als autoritäre Republik

9

Maurice Hauriou, eine der zentralen Gestalten der Wissenschaft des französischen öffentlichen Rechts im 20. Jahrhundert, stellte zwei Strömungen von Verfassungskonzeptionen gegenüber, welche die Schwankungen französischer Institutionen erklären sollten: eine ursprünglich revolutionäre, die Strömung der „parlamentarischen“ oder „konventionellen Regierung“; und eine „direktoriale, konsularische, imperiale, präsidentielle Strömung, die, gewissermaßen als Reaktion auf parlamentarische Regierungen, um die Stärkung der von der ehemaligen Monarchie vermachten Exekutive besorgt war und aus diesem Grund deren unmittelbare Unterstützung aus dem Volk mittels eines Plebiszits befürwortete.“[37] Ungeachtet gewisser Vereinfachungen beschreibt diese Darstellung recht gut, was heute „demokratischer Cäsarismus“ genannt wird und sich exemplarisch in den beiden bonapartistischen und napoleonischen Regimes (1799–1814 und 1851–1870) niedergeschlagen hat. Einige Grundzüge der Fünften Republik sind sicherlich den bonapartistischen Modellen entlehnt.[38]

10

Wie die napoleonischen Regime ist die Fünfte Republik ursprünglich das institutionelle System einer kraftvollen Reaktion von Seiten der Exekutive. Das Ziel ist, die Exekutive handlungsfähig zu machen und sie so zur Staatsführung zu befähigen, dass sie von den Repräsentativversammlungen nicht behindert werden kann, zumindest nicht vollständig. Diese Restauration der Exekutive erfolgt, wie in den bonapartistischen Systemen, zugunsten eines mit großer Machtfülle ausgestatteten Staatschefs und nicht unmittelbar zugunsten der Regierung.

Diese institutionellen Übereinstimmungen entsprechen jedoch einer tieferen, von de Gaulle und Napoleon I. im Grunde geteilten Grundvorstellung. Jean-Jacques Chevallier hat die Grundvorstellung Napoleons zum Verfassungsproblem richtig skizziert.[39] Die Revolution brachte Individuen hervor, die von der alten Ordnung des Ancien Régime losgerissen waren. Hierdurch wurde die „organisierte Gesellschaft“ zur Masse, die nur noch vom Staat kanalisiert werden konnte.[40] Da eine Rückkehr zur alten Gesellschaft undenkbar ist, bleibt so für Napoleon nur eine Ordnung „von oben“ möglich. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine grundsätzliche Autonomie des Staates gegenüber der Gesellschaft. Die politische Dimension der Gesellschaft kann sich nur in „Vertrauen“ erschöpfen, die „Autorität“ muss in Händen des Staates bleiben. Vertrauen von unten, Autorität von oben, so lautet die von Sieyes formulierte Formel des „demokratischen“ Cäsarismus.[41] Selbstverständlich hat die Umsetzung dieser Maxime eine Entleerung des Souveränitätsbegriffs zur Folge: Volkssouveränität beschränkt sich nunmehr darauf, dass der Staat auf das Volksvertrauen angewiesen ist, um dieses vertrauensvolle Volk hiernach autonom zu regieren.

11

Diese Entwicklung zeichnet drei Grundzüge vor, die sich parallel in Napoleons Verfassungswerk, aber auch in den Verfassungen von 1851 und 1958 finden. Auffallend ähnlich ist erstens die Methodik der Verfassunggebung. In einer mehr oder weniger provozierten Krisensituation arbeitet sich ein starker Mann unverhofft an die Spitze der Exekutive, um von dort aus einen raschen Verfassunggebungsprozess in Gang zu setzen und zu steuern. Im Wesentlichen ist der Verfassungstext das Werk der Exekutive und ihres Umfeldes. Der Staat konzentriert sich im entscheidenden Moment der Verfassunggebung ganz in der Exekutive und konstituiert sich selbst. 1799, 1851 und 1958 vollzogen sich drei ihrem Wesen nach gleichartige Prozesse, die in eine Selbstproduktion des Staates einmündeten. Ausschlaggebend ist in allen drei Fällen der völlige Ausschluss parlamentarischer Instanzen aus dem Verfassunggebungsverfahren. Die Nation wird zur Mitgestaltung ihres künftigen Staats nicht vorgeladen. Alle Beratungen finden unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Aufgabe der Nation erschöpft sich in „Vertrauensgebung“, in einem bestätigenden Plebiszit, mit dessen Hilfe das Werk von oben sich von unten absegnen lässt.[42]

 

12

Konsequenterweise wird in der Systematik des Verfassungswerkes die starke Stellung der Exekutive hervorgehoben. Die Exekutive ist um ihr Haupt vereinigt und handelt unter dem Zeichen der Einheit. Anders das Parlament, das in erster Linie Vertreter der Gesellschaft ist – der Gesellschaft in ihrer Pluralität und ihren Konflikten, Spaltungen und Spannungen, Teilungen und Schwungkräften. Das Parlament ist Schauplatz der Fraktionen und der raschen Meinungswechsel, wohingegen der Staat auf Einheit und Kontinuität angewiesen ist. Er ist nicht in erster Linie Bürge eines Ausgleichs kollidierender Privatinteressen, sondern Bauträger eines transzendentalen Allgemeininteresses. Das intérêt général an sich, als abstraktes Ideal, ungeachtet seiner konkreten Bestimmungen, bleibt das grundlegende Legitimationsmuster des Staates und der Staatstätigkeit. Im intérêt général hebt sich das individuelle Interesse im Hegelschen Sinne zugunsten des Universalen auf. In der Tat hat der „französische Geist“ – nicht nur bei und durch Rousseau – diese Ideologie nachhaltig geprägt, denn sie gehört konstitutiv der französischen Staatsgeschichte an.[43] Cäsarismus im Sinne Bonapartes und de Gaulles zielt darauf, die Wahrung staatlicher Einheit und Kontinuität grundsätzlich der Exekutive zu überantworten. Das Parlamentarische im Staat leistet nur noch eine am Horizont der Moderne unerlässliche demokratische Bürgschaft.

13

Aus diesen Prämissen folgt nunmehr, dass die Exekutive im von der Verfassung normierten Gewaltenteilungssystem eine starke Autonomie gegenüber dem Parlament genießen muss. Konsulat und Erbkaisertum waren die bonapartistischen Reaktionen auf dieses Erfordernis. Derartige Lösungen kamen 1958 selbstverständlich nicht mehr in Frage. Immerhin stand der Präsident der Fünften Republik nicht beim Parlament in der Pflicht, da dieses nicht mehr als Legitimationsinstanz des Staatschefs fungieren durfte. Damit war der Bruch mit der Tradition der Dritten und Vierten Republik vollzogen. Wenngleich die direkte Volkswahl des Präsidenten erst 1962 eingeführt wurde, so war die parlamentarische Wahl des Staatschefs doch seit 1958 abgeschafft, da die Entscheidung in den Händen von etwa 80 000 Wahlmännern lag.[44] Wenn aber die Exekutive vor dem Parlament gerettet werden sollte, so war es notwendig, auch die Autonomie der Regierung zu bewahren. Hierzu war ein Kompromiss erforderlich, da das Prinzip der parlamentarischen Verantwortung der Regierung nicht verhandlungsfähig war.[45] Zwar ist die Regierung dem Präsidenten und der Nationalversammlung gleichermaßen verantwortlich, doch muss sie, nach einem bekannten Ausdruck von de Gaulle, „vom Präsidenten hervorgehen“ (procéder du Président). In der berühmten Pressekonferenz vom 31. Januar 1964 behauptet der Gründer der Fünften Republik sogar eine „Vorrangstellung“ (primauté) des Staatschefs vor allen anderen Institutionen, das Parlament eingeschlossen.[46] Dieses gaullistische Schema wurde erst durch die so genannte Cohabitation in Frage gestellt, also die Konstellation einer parlamentarischen Mehrheit, die sich nicht aus dem politischen Lager des Präsidenten zusammensetzt.

14

Das gaullistische Verfassungskonzept, das 1958 umgesetzt wurde, ist weitgehend von diesen cäsaristischen Zügen gezeichnet. Doch konnte dies nicht offen eingestanden werden, da der Bonapartismus als Diktatur in Misskredit gebracht war. So radikal wie die Verfassungen der Jahre 1799 und 1852 war das neue Grundgesetz von 1958 auch nicht. Obgleich stark geschwächt, stellte das Parlament immerhin ein relativ effizientes Gegengewicht zum Präsidenten dar. Auszugehen ist deshalb von bonapartistischen Zügen der Verfassung von 1958.

15

Eine monarchische Prägung wird der Fünften Republik nicht selten unter Berufung auf de Gaulles eigene Weltanschauung unterstellt. In seinen jungen Jahren galt de Gaulle als Monarchist und als der Action Française und deren Hauptideologen Maurras nahe stehend.[47] Dies muss aber nuanciert betrachtet werden,[48] ebenso die so genannte monarchische „Inspiration“, die angeblich die Institutionen der Verfassung von 1958 „tief“ beeinflusst hat.[49] Im Allgemeinen werden zur Rechtfertigung eines monarchistischen Erbes der Fünften Republik zwei Charakteristika angeführt: einerseits die besonders lange Dauer des Präsidentenmandats, andererseits die Übernahme doppelter politischer Verantwortung durch die Regierung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Septennats-Prinzip ein (parodoxes) monarchistisches Relikt darstellt. Eingeführt wurde das Prinzip im Rahmen der Beratungen zu den Verfassungsgesetzen der Dritten Republik durch das Gesetz vom 20. November 1873, das General de Mac-Mahon die vollziehende Gewalt ad hominem für eine Dauer von sieben Jahren anvertraute. Zwar wurde diese Entscheidung von einer monarchistischen Mehrheit getroffen, doch war sie umstandsbedingt: Das Septennat erschien als einzige Möglichkeit, sich die für eine Stabilisierung erforderliche Zeit zu verschaffen und somit die Wiederherstellung des monarchischen Regimes zu ermöglichen.[50] Die Verfassungsgesetze der Dritten Republik machten eine unter besonderen Umständen entstandene Regel zur ständigen Einrichtung, die sich bis in die Vierte Republik aufrechterhalten konnte. Allerdings war diese Regel recht harmlos, da der Staatschef im Wesentlichen symbolische Aufgaben übernahm. Zu Beginn der Fünften Republik erfuhr die Regelung einen eindeutigen Bedeutungswandel, zumal sie einem ohnehin mächtigen Staatschef zusätzliche Macht verlieh.

Der andere monarchistische Grundzug des Regimes liegt wohl im Phänomen der doppelten Verantwortung der Regierung. Wenngleich die Regierung auch in der Fünften Republik der Nationalversammlung verantwortlich bleibt, so muss sie gleichermaßen im Vertrauen des Präsidenten stehen. Diese zweite Regel ist freilich nicht im Verfassungstext aufgeführt. Im Gegenteil, der Präsident verfügt über kein rechtliches Instrument, mit dem er den Rücktritt des Premierministers erzwingen könnte. Doch ist es in der Praxis Usus, dass der Premierminister auf Ersuchen des Präsidenten seinen Rücktritt einreicht. Angeblich ließ de Gaulle seine Premierminister bei ihrer Ernennung vorsichtshalber sogar undatierte Rücktrittserklärungen unterzeichnen. Die Regierung muss demnach sowohl das Vertrauen des Präsidenten als auch das Vertrauen des Parlaments genießen. Dieses Prinzip entspricht der Praxis in der Julimonarchie (1830–1848) und wird gemeinhin als „dualistischer“ oder „orleanistischer“ Parlamentarismus qualifiziert.[51] Im Falle der Cohabitation greift das Prinzip allerdings nicht (unten Rn. 35).