Violet Socks

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„Und ich nehme ..." Florence zeigt mit der Glasflasche durch die Runde, schwenkt langsam und konzentriert von links nach rechts, gleitet ab und zu mal an mir vorbei. Und schließlich peilt sie mit der Flasche genau in meine Richtung. „Dich."

Ich runzle die Stirn und drehe mich um. Meint sie Benja hinter mir?

„Nicht er", sagt Florence jetzt feixend und sieht mir direkt in die Augen. „Ich meine dich, Violet Berry-Loser."

Entsetzt sehe ich sie an. „Was?"

Doch Florence zuckt nur arrogant mit den Schultern und legt die Flasche auf den Boden. „Keine Widerrede. Du bist auf unserer Party, also spielst du auch nach meinen Regeln."

„Ich will ihr eine Glatze rasieren", meckert Charly leise hinter mir und ich höre, wie Benja und Carla ihr zustimmen.

Ich würde gerne ebenfalls zustimmen, doch mein Blick ist zu gebannt auf die Flasche gerichtet, mit der Florence gerade Schwung holt. „Der, den die Flasche trifft, muss ... Hm ... Was will denn auf keinen Fall jemand hier in diesem Raum? Hach, ich weiß es." Sie dreht die Flasche. „Der, den die Flasche trifft, muss fünf Minuten lang mit Berry-Loser in die Abstellkammer."

Ich reiße die Augen auf. Rein theoretisch könne ich einfach abhauen und mich weigern, doch der Abend ist noch jung und gehen möchte ich auch nicht. Natürlich sorge ich nicht gerne dafür, dass Florence ihre gemeine Seite an mir ausüben kann, doch in Momenten wie diesen war sie schon immer die Mächtigere. Verdammt seien ihre Beliebtheit und ihre guten Partys.

„Und es kann übrigens jeden treffen", fügt Florence hinzu, als die Flasche immer langsamer wird.

Wie hypnotisiert starre ich auf die Flasche, die immer langsamer wird und immer langsamer und immer langsamer und ...

Sie stoppt.

Ich folge der Richtung, in die sie zeigt, und ersticke beinahe an meinem Entsetzen.

Auf keinen Fall werde ich mit Harry in eine verdammte Abstellkammer gehen. Auch nicht für fünf Minuten.

Manche im Raum atmen erleichtert auf, dass es sie nicht getroffen hat, und manche beginnen gehässig zu lachen und sehen zu Harry, der unbeeindruckt auf die Flasche vor sich sieht, während er lässig auf der Couch sitzt.

„Nein!", haue ich direkt raus und schüttle vehement den Kopf. „Vergiss es, Florence!"

Doch sie verschränkt die Arme und setzt sich weiter auf. „Du willst dich doch nicht etwa wehren? Entweder du tust es oder du kannst mit deinen anderen Freunden abhauen. Außerdem, wovor hast du Angst? Harry wird jemanden wie dich schon nicht anfassen."

Die Runde lacht und ich habe das Verlangen, ihr eine zu knallen. Sogar Harry lacht in sich hinein.

„Tu's einfach", flüstert mir Charly im Hintergrund zu. „Es sind nur fünf Minuten ... Wir wollen wirklich nicht gehen."

Erbost drehe ich mich zu ihr um. „Ich gehe doch nicht mit Harry Ich-bin-so-cool für fünf Minuten in einen geschlossenen Raum", zische ich. „Schon vergessen, dass wir uns hassen?"

„Bitte, Vy", bettelt Benja. „Versau uns doch den Abend nicht mit deinem zu großen Stolz."

„Genau, Vy", ahmt Florence ihn nach. „Also los jetzt. Wir werden hier auf euch warten."

Ich kämpfe mit mir selbst, als ich mich wieder umdrehe, kurz einen Blick auf Harry werfe, ihn dafür verfluche, dass er nichts dazu sagt und stattdessen über alles lacht, das gegen mich spricht. Hätten Charly und Benja nicht so loyal sein können und sagen, dass wir ein Team sind und niemand aus unserem Team Dinge tun muss, die er nicht will. Aber nein. Steht einmal eine Party im Mittelpunkt, muss die doofe Violet wieder irgendwelche doofen Dinge tun.

Und deswegen stehe ich auch schon dreißig Sekunden später in der dunklen Abstellkammer, die nur mit einer einzigen Glühbirne an der Decke beleuchtet wird und sowieso viel zu eng ist. Mir gegenüber Harry, der sich auf den Boden setzt und sich gelangweilt an die Wand lehnt.

Hier drin ist es völlig still und weil die Wände aus Beton sind, bin ich mir sicher, dass man kein Wort von draußen hören wird, zumal die Musik sowieso wieder läuft.

Wir schweigen. Ich sehe auf ihn herab. Ihm scheint es gar nichts auszumachen, dass wir uns gerade seit vier Jahren wieder auf weniger als einen Meter nähern. Er sitzt dort, als wäre ich niemand, nur ein dummes Mädchen aus seiner Schule.

Er sieht mich nicht mal an. Er hat mich sowieso kein einziges Mal angesehen, als wir hier hineingedrückt wurden.

Doch ich tue nicht so, als würde ich ihn nicht kennen. Zumindest tat ich das mal, bevor er sich um hundertachtzig Grad verändert hat.

Ich lehne mich an die Tür und lasse meinen Blick über das kleine Regal an der Wand schweifen, in dem ein paar Handwerkssachen liegen. „Hast dir wirklich eine tolle Freundin mit Florence geangelt", spreche ich die ersten neun Worte seit einer halben Ewigkeit zu ihm.

Mein Herz pocht. Jedoch nicht vor Nervosität oder Schwärmerei, sondern vor Verachtung.

Allerdings ignoriert er mich vollkommen.

„Was? Willst du jetzt fünf Minuten schweigend hier rumsitzen?"

„Hab gehört, so geht die Zeit schneller rum", erwidert er resigniert und spricht somit die ersten acht Worte seit Jahren mit mir.

„Eigentlich ist es genau andersrum", korrigiere ich ihn und betrachte sein Gesicht. Er war schon immer ein hübscher Junge, aber sein Charakter macht alles kaputt, wirklich alles. Was für eine Verschwendung.

Er lehnt seinen Kopf zurück und schließt die Augen. „Mir scheißegal. Es reicht, dass ich mit dir hier drin feststecke, mach es nicht noch ätzender."

Ich hebe die Brauen. Er versucht es nicht mal, angenehm zu machen, er macht es nur mit jeder Sekunde schlimmer, in der er abweisend und kalt ist. So wie er nun mal ist.

Ich schnaube und setze mich ebenfalls auf den Boden, jedoch weit genug von ihm weg. So weit, wie es nun mal möglich ist. „War ja klar, dass man mit dir kein normales Wort wechseln kann", murmle ich vor mich hin.

„Wie war das?"

„Ich sagte, dass man mit dir kein normales Wort wechseln kann", wiederhole ich mich, diesmal laut und deutlich, weil es mir vollkommen egal ist, ob er sich in irgendeiner Weise verletzt fühlt.

Sein ernster Blick trifft meinen. Das erste Mal seit ... Verdammt langer Zeit.

„Vielleicht liegt das daran, dass ich kein Wort mit dir wechseln will, schon mal darüber nachgedacht?"

Ich kneife die Augen zusammen und halte seinem Blick stand. „Wie schön, dann geh doch."

Es herrscht Stille. Die Glühbirne über uns fiept leise vor sich hin und von draußen hört man die lauten Bässe gemischt mit dem Geplaudere der anderen. Jedoch ist die Spannung in diesem kleinen Raum so heftig, dass ich das Gefühl bekomme, die Wände kommen näher. Er empfindet mindestens genauso wenig Sympathie für mich wie ich für ihn und keiner von uns scheint das verstecken zu wollen. Warum auch? Wir unterscheiden uns in jeglichen Aspekten.

Als er nichts darauf sagt, allerdings auch nicht geht, weil er wohl weiß, dass Florence sonst ausrastet, schweigen wir noch eine Weile.

Doch irgendwann sage ich dann, weil ich es endlich aussprechen will: „Welche Ironie, dass du es dir erlaubst, dich so idiotisch aufzuführen, während ich diejenige bin, die dich an den Pranger stellen könnte."

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich seine Stirn kraust und er zu mir sieht.

Ich blicke jetzt wieder in seine Augen, die hellblau strahlen, allerdings ein wenig rot durch den Alkohol sind.

Sein rechter Mundwinkel hebt sich spottend und er gibt zurück: „Dass du dich traust, auch noch irgendwen an den Pranger zu stellen, während du zu den größten Losern der Schule gehörst."

Ich beiße die Zähne aufeinander. Zwar habe ich schon oft das Wort Loser gehört und auch schon oft wurde ich als solcher betitelt, aber noch nie von ihm. Und ganz ehrlich? Er hätte es sich sparen können. Er ist derjenige, der alles versaut hat, indem er mich einfach von einem Tag auf den anderen nicht mehr beachtet hat, und nicht ich. Harry hat nicht das Recht dazu, mich so zu behandeln.

„Na und?", keife ich noch leise genug zurück, damit uns niemand belauschen kann. „Wenigstens betrinke ich mich nicht jedes Wochenende und schreibe gute Noten in der Schule. Was man von dir ja nicht behaupten kann."

Er lacht gehässig auf. „Oh, scheiße, ich vergaß, dass du noch ätzender als meine eigene Mutter bist."

„Und ich vergaß, dass du ein Arsch bist."

Wieder schließt er ausatmend die Augen und lehnt den Kopf unbeeindruckt zurück. „Sei für die nächsten zwei Minuten noch still, ich kann mir dein Gerede nicht mehr geben."

Ich balle wütend die Fäuste. Er kann sich mein Gerede nicht mehr geben? Wer glaubt er, wer er ist?

„Noch dazu gehen mir deine Strümpfe dermaßen auf den Sack", fügt er hinzu.

„Wie bitte? Was haben denn meine Strümpfe damit zu tun?"

Seine Augen sind weiterhin geschlossen. „Sie sehen scheiße aus, das haben sie damit zu tun. trägst sie jeden verdammten Tag."

Mir klappt die Kinnlade herunter. Niemand hat mir je gesagt, dass meine Strümpfe scheiße aussehen. Sie sind das, was mich von den anderen unterscheidet, und außerdem gehören sie schon immer zu meinem Leben. Er weiß ganz genau, er wusste es schon immer, wie sehr ich meine Kniestrümpfe liebe, und jetzt wagt er es sich tatsächlich, sie gegen mich zu verwenden?

„Schon vergessen, dass du mal sagtest, niemanden würden Kniestrümpfe so gut stehen wie mir?", hole ich eine alte Erinnerung von früher hervor, in der er mir schon als kleiner Junge das ständig gesagt hat.

Harry zuckt gleichgültig mit einer Schulter. „Da habe ich wohl gelogen."

Ich presse die Lippen aufeinander. Okay, er hat gelogen. „Ich verstehe schon", rede ich wütend vor mich hin und stehe auf, worauf er mich wieder ansieht. „Du bist und bleibst ein Arsch. Verrotte doch einsam in der Hölle." Ich klopfe mehrmals gegen die Tür, damit sie von außen aufgeschlossen wird. „Und weißt du noch was?", sage ich noch zu ihm, als ich von draußen höre, wie jemand den Schlüssel dreht. „Ich gönne es niemanden mehr, dass er so abgerutscht ist, wie dir."

 

Dann öffnet Florence die Tür und noch ohne einen weiteren Blick an Harry zu verschwenden, stürme ich aus der Abstellkammer, gebe Charly und Benja ein Zeichen, das bedeutet, dass wir ohne weitere Diskussionen gehen werden, und verschwinde dann schließlich mit ihnen.

Kapitel 2

„Eins ... Zwei ..." Ich zähle die Kopien für den Theaterkurs ab, auf dem meine selbst geschriebenen Dialoge stehen, und eile derweil schnell zur Theaterhalle. „Drei, vier, fünf ..." Schnell weiche ich einer Gruppe von Schülern aus, die mir im Schulflur entgegenkommen, und lasse beinahe meinen Ordner, der unter meinem Arm klemmt, fallen, doch kann ihn noch schnell auffangen. Ich schultere meine Tasche erneut und steuere wieder in die richtige Richtung, während ich noch mal von vorne anfangen muss, meine Blätter laut zu zählen.

„Dreizehn", sage ich schließlich seufzend, als ich genau vor der Tür des richtigen Raums stehe, und greife nach dem Türgriff. Ich will sie öffnen, doch …

Kurzerhand werden mir die Blätter aus der Hand gerissen und achtlos zu Boden geschmissen.

„Ups", macht Florence unschuldig, als sie sich die Hand vor den Mund hält und die Blätter auf dem Boden sieht. „Das wollte ich nicht."

Neben ihr Clarissa, auch bekannt als Die Braue. Ihre Augenbrauen sind nämlich mit Permanent-Make-up verschönert worden, jedoch viel zu weit oben und viel zu dunkel für ihre Haut und Haare. Es sieht grausam aus und lässt sie immer wie ein geschocktes Reh wirken, doch zu schämen scheint sie sich nicht deswegen.

Sofort ist meine Laune wieder auf dem Nullpunkt, als ich mich bücke, um die Blätter aufzuheben. „Hast du nichts Produktiveres zu tun?"

„Nein, warte, ich helfe dir", sagt Florence gespielt freundlich und bückt sich mit mir zu den Blättern, hilft mir, sie einzusammeln. „Das war doch nur ein Versehen."

„Ein Versehen", wiederhole ich spottend, als sie mir ein paar Blätter reicht und ich sie staple. „Selbst dir habe ich eine kreativere Ausrede zugetraut."

Sie kneift die Augen zusammen, als wir wieder stehen und ich meine Blätter mürrisch sortiere. „Sei nicht so frech, Berry-Loser. Ich kann dir gerne deine verdammten Strümpfe mit dem Faden, der dir da am Saum hängt, aufribbeln, wenn du willst."

Ich runzle die Stirn. Was redet sie denn jetzt wieder für seltsames Zeug?

Und noch bevor ich über ihre Worte nachdenken kann, um ihr auf die Schliche zu kommen, grinst sie dreckig und verschränkt die Arme. „Oh, Moment mal. Das tue ich ja schon."

Als ich ein leichtes Ziehen an meinem linken Bein spüre, blicke ich hinab. Ich muss leider feststellen, dass das Ziehen nicht von einem Muskelkater, sondern von einem Faden kommt, der gerade dabei ist, meinen schwarzen Strumpf von oben an aufzureißen.

Entsetzt drehe ich mich um, damit ich rausfinden kann, wer sich den Faden geschnappt hat, damit meine Socke immer kleiner wird. Clarissa läuft schnell und lachend mit dem schwarzen Faden in der Hand den Gang entlang.

„Hey!", rufe ich ihr hinterher und lasse meine Tasche einfach zu Boden fallen. Schnell schnappe ich mir den Faden und will daran ziehen, damit sie loslässt, doch mir bleibt nichts anderes übrig, als zu rennen. Mittlerweile hat meine Socke nur noch die Hälfte an Fadenreihen. Clarissa ist unberechenbar.

„Verdammte Scheiße", fluche ich vor mich hin, als Clarissa um eine Ecke verschwindet und ich ihr schnell hinterher will. Mein Strumpf wird immer kürzer und so langsam muss ich mir klarwerden, den Rest des Tages mit nur einer Socke zu verbringen.

Ich bin froh, dass nur wenige Schüler in den Fluren sind, weswegen diese Nummer weniger unangenehm für mich ist. Natürlich werde ich ausgelacht, während ich eilig einem Faden folge, doch das interessiert mich gerade nicht. Helfen tut mir selbstverständlich auch niemand, warum auch? Ist doch durchaus amüsant die ganze Szene. Zumindest als Beobachter.

Ich jogge gerade wieder um die nächste Ecke und will Clarissa zuschreien, dass sie gefälligst stehen bleiben soll, doch noch bevor ich überhaupt in den nächsten Gang komme, knalle ich unsanft gegen etwas Menschliches.

Sofort fliege ich zu Boden, genauso wie meine dreizehn Blätter, die wieder dreckig werden und sich im ganzen Flur verteilen.

„Autsch", brumme ich und reibe mir den Kopf, weil ich ihn mir gestoßen habe. Der Faden wird immer weiter gezogen und die Hoffnung, dass dieser Strumpf noch auf irgendeine Art und Weise zu retten ist, ist auch schon verloren.

Die Person, gegen die ich gestoßen bin, dreht sich zu mir um, sieht erst über mich hinweg, dann zu mir herab. Meine Augen treffen Harrys und ich habe das Gefühl, dass mein Tag kaum noch schlimmer werden kann. Hätte ich nicht gegen Mister Miller laufen können? Er hätte mich hier nach sofort nach Hause geschickt, weil er Angst haben würde, ich hätte mir etwas gebrochen.

„Pass das nächste Mal auf, wo du hinläufst", spricht Harry mir zu und dreht sich dann wieder desinteressiert zu seinen Freunden, die vor ihm stehen. Zweifellos wird er mir nicht hochhelfen oder sich erkundigen, ob ich mir wehgetan habe, aber das erwarte ich auch nicht. So ist Harry nun mal nicht.

„Du mich auch, Idiot", rede ich vor mich hin und in der nächsten Sekunde ist das letzte Stück Faden von meinem Strumpf entfernt und mein linkes Bein ist, bis auf das Stück in meinen Schuhen, komplett nackt. Gott, bin ich irgendwie verdammt? Muss mir so was auch noch direkt in Harrys Gegenwart passieren?

Seufzend rapple ich mich auf und beginne genervt, die Blätter vom Theaterkurs einzusammeln. Mittlerweile sind mehrere Fußspuren darauf zu erkennen, denn niemanden scheint es zu interessieren, dass diese Papiere eventuell wichtig sein könnten.

„Was soll das sein?", fragt Ethan, der bei Harry steht, und hebt einen Zettel vom Boden auf, um darauf zu sehen. „Henriette & Victor", liest er vor und verzieht das Gesicht. „Bullshit."

„Natürlich ist das für dich Bullshit", rufe ich ihm zu und sammle den vorletzten Zettel vom Boden auf. „Von Lyrik verstehst du nichts."

„Ach ja?", blökt er und zerknüllt kurzerhand den Zettel. „Hier, versteh die Scheiße, Borrymore." Er zerreißt den Zettel noch zweimal und dann werden mir die Schnipsel vor die Füße gepfeffert. „Da hast du deine Lyrik."

Ich balle die Fäuste, als ich auf den zerkleinerten Zettel vor meinen Füßen sehe und starre dann Ethan an, der lässig mit verschränkten Armen am Schließfach steht und mich gehässig auslacht. „Zufällig habe ich das noch gebraucht und zufällig spricht man meinen Namen Berrymore aus und nicht Borrymore!"

„Da ist wohl jemand empfindlich", feixt Lucas, ein weiterer Idiot von Harrys Freunden. „Stell dich nicht so an, niemanden interessiert deine Scheiße."

„Noch dazu fehlt dir da eine Socke", sagt Ethan und zeigt schief grinsend auf mein nacktes Bein. „Hat das Geld nicht für zwei gereicht?"

„Sei bloß still", fauche ich ihn an. „Oder hat das Geld nicht für ein Hirn gereicht?"

Ethan guckt jetzt weniger belustigt und stößt sich von dem Schließfach ab. „Halte die Klappe, Borrymore oder …''

„Berrymore", korrigiere ich ihn.

Noch wütender presst er den Kiefer aufeinander. Er schweigt kurz und scheint mich mit seinem Blick töten zu wollen und im nächsten Moment reißt er mir die Blätter aus der Hand und zerreißt sie in einem Schwung.

Entsetzt sehe ich zu, wie er die zerteilten Papiere durch den Flur schmeißt.

„Hier!", ruft Ethan böse. „Ich scheiß auf deinen Namen, Loser!"

Die Jungs in der Runde lachen und ich filtere Harrys leises Lachen heraus, als das Blut in mir noch mehr kocht. Ich habe echt Nächte mit diesen Dialogen verbracht und Ethan erlaubt sich einfach, sie zu zerreißen?

„Alter", flüstert jetzt ein weiterer Kerl aus der Gruppe und haut Ethan auf die Brust. Er nickt hinter uns, wo uns Misses Heath, die Schuldirektorin entgegenkommt und absolut nicht glücklich darüber aussieht, wie es hier im Flur zugeht.

„Scheiße", flucht Ethan und sieht mich ein letztes Mal böse an.

Und dann machen sie sich schnell auf den Weg um die nächste Ecke, während Misses Heath uns immer näher kommt.

Auch Harry will einen Abgang machen, doch Misses Heath ruft mit schriller Stimme: „Stehen geblieben, Mister Perlman!"

Harry bleibt gestresst stehen und dreht sich stöhnend um.

Misses Heath kommt auf uns zugeklackert, da sind Ethan und die anderen schon längst verschwunden. Sie stemmt die Hände in die Hüften, als ich die zerrissenen Blätter aufsammele, um einen elenden Eindruck zu machen, damit sie Mitleid mit mir hat. Harry kann gerne eine Strafe bekommen, auch wenn er rein theoretisch nichts gemacht hat. Mir egal. Er hat mich letzten Freitag beleidigt und das kann er jetzt gerne zurückbekommen.

„Was ist hier passiert?", kräht Misses Heath und starrt Harry böse an.

„Ich habe hiermit nichts zu tun", erwidert er.

Sie wird wütender und ihre Zornfalte größer. „Das sagen Sie immer, Mister Perlman. Was fällt Ihnen ein, einfach Miss Berrymores Arbeitszettel zu zerreißen?"

„Die übrigens enorm wichtig für mich waren", werfe ich noch ein.

Harry sieht erst mich böse an und dann Misses Heath. „Ich habe diese verdammten Zettel nicht zerrissen! Was kann ich dafür, wenn Violet nicht geradeaus gucken kann?"

„Was kann ich dafür, wenn du mitten im Weg stehst!", blöke ich ihn von der Seite an.

„Was kann ich dafür, wenn du deine Klappe nicht halten kannst?", meckert er sofort zurück.

Misses Heath wechselt den Blick zwischen Harry und mir hin und her. Sie scheint zu überlegen, während ich eingeschnappt die Arme verschränke. Er kann ruhig nachsitzen, das tut ihm gut. Vielleicht kommt er dann endlich mal zum Lernen und tut was für die Schule, außer nur blöd in den Gängen rumzustehen.

„Was ist mit deinem Strumpf passiert?", fragt Misses Heath.

„Jemand Nettes hat den Faden gelöst", erkläre ich missbilligend und wünschte, ich könnte Clarissas Augenbrauen abrasieren, jedoch sind sie ja permanent.

„Also wirklich", schnauft Misses Heath wieder und wendet sich entrüstet an Harry. „Sie wissen wirklich nicht, wann Schluss ist oder?"

Harry hebt ungläubig die Brauen. „Was? Ich habe den Faden ganz bestimmt nicht gezogen!"

„Natürlich haben Sie das nicht." Sie schüttelt mit dem Kopf und legt einen Arm um meine Schulter. „Ihr beide kommt mit mir ins Sekretariat, damit wir für Sie eine gerechte Strafe aussuchen können, Mister Perlman."

Er wirft die Hände fassungslos in die Luft. „Man, ich war das nicht! Nichts hiervon war ich! Violet sag's ihr, verdammt!"

Doch ich schweige und grinse nur leicht. Tja, da hast du dich aber geschnitten, Mister Perlman. Hoch lebe die guten Beziehungen zu den Lehrern. Ich lüge zwar in der Schule nie, was so was angeht, doch heute habe ich mir das mal verdient, nachdem ich einen Strumpf verloren habe.

Als Harry merkt, dass ich nichts darauf sagen werde, wird er noch wütender. „Ist das dein scheiß Ernst?"

„Gefluche wird Sie auch nicht mehr weiterbringen", sagt Misses Heath und zieht mich mütterlich in Richtung des Rektorenbüros. „Los, folgen Sie uns oder es gibt direkt den nächsten Eintrag ins Schulregister."

Zufrieden laufe ich mit Misses Heath zum Büro und ich höre, wie Harry noch kurz im Flur stehen bleibt, sich jedoch irgendwann dazu entscheidet, uns tatsächlich zu folgen, denn seine Akte im Schulregister ist schon ziemlich voll. Kein Wunder, dass ihm die Rektorin nicht glaubt, ich würde es auch nicht tun. Er stellt eine Gemeinheit nach der anderen an. Ärgert hier mal den Schulnerd oder kritzelt da mal ein paar Karikaturen von Lehrern an die Tafel. Früher hätte er so was nie getan, aber früher hätte er mir auch hochgeholfen, wenn ich hingeflogen bin. Also wundere ich mich über gar nichts mehr, was ihn betrifft.

Misses Heath setzt sich an ihren großen Schreibtisch und ich lasse mich auf einen der beiden Stühle fallen, die davor stehen. Trotzig blicke ich auf mein nacktes Bein. Ich komme mir echt bescheuert vor, vor allem weil ich noch den ganzen Schultag vor mir habe. Eigentlich habe ich mich auf die beiden Stunden im Theaterkurs gefreut, doch die erste Stunde kann ich mir wohl abschminken. Dann muss eben Benja heute die Leitung übernehmen.

 

„Schön, dass Sie es auch endlich geschafft haben", sagt Misses Heath zu Harry, der launisch die Bürotür hinter sich schließt.

Er sagt nichts, sondern setzt sich neben mich auf den Stuhl, lehnt seinen Kopf in seine rechte Hand, wodurch er mehr Abstand zu mir aufbaut.

Ich verschränke wieder die Arme und lehne mich ebenfalls weiter von ihm weg, jedoch ohne den Stuhl zu verschieben. Es ist, als wären wir zwei Magnete, die sich abstoßen.

„Also", fängt Misses Heath an und zieht sich ihre Lesebrille auf, bevor sie etwas beginnt zu schreiben. „Das ist dieses Halbjahr Ihre vierte Ermahnung, Harry."

Harry schweigt weiterhin und sieht unbeeindruckt zu ihr, als kannte er das alles schon. Na ja, tut er ja auch. Er saß hier mindestens genauso oft wie Misses Heaths heimliche Affäre Mister Miller.

„Wissen Sie, was das bedeutet?"

„Keine Ahnung", sagt Harry. „Darf ich diesmal endlich früher gehen, weil Sie mich suspendieren?"

Wie witzig du bist, Mister Obercool.

„Nein, ganz so einfach ist es dann doch nicht", redet Heath ruhig weiter und dreht sich mit verschränkten Fingern zu uns. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mehr, was ich mit Ihnen machen soll, wirklich nicht. Sie scheinen einfach nicht daraus zu lernen."

„Also kann ich doch gehen?"

Halt die Klappe.

„Nicht so voreilig", erwidert Misses Heath und zieht ihre Brille ab. Sie wendet sich an mich. „Violet, wie läuft es denn bei dir in deinem Theaterkurs?"

Ich blinzle, bin verwirrt über diese Frage. „Es läuft gut, denke ich ... Wir bereiten uns auf das Sommerstück vor und proben jeden Montag und Mittwoch."

Sie schmunzelt. „Wie schön. Ich bin mir sicher, ihr braucht noch jemanden, der euch bei dem Bühnenbau hilft."

Schockiert reiße ich die Augen auf und auch Harry richtet sich weiter auf. In welche Richtung soll dieses Gespräch nun gehen? Sie will mir doch nicht etwa anbieten, Harry als Bühnenbauer in meinen Kurs zu lassen. Da soll er lieber ohne Strafe davonkommen, aber nicht das. Die Theatergruppe war mein vorletzter Kurs, in dem ich ihn mal nicht sehen musste, das kann sie mir doch nicht einfach wieder versauen.

„A-Also, äh", sage ich deswegen und versuche, nicht unfreundlich zu klingen. „Eigentlich brauchen wir keine Hilfe mehr. Alles läuft prima. Jordan und Andre kümmern sie zuverlässig um den Bühnenbau und …''

„Schon okay, Violet", unterbricht Misses Heath mich liebevoll und scheint gar nicht zu verstehen, wie sehr ich mich gegen diesen Einfall sträube. „Andre ist für die nächsten Wochen krankgeschrieben, weil er die Mandeln rausbekommen hat, deswegen passt das ja." Sie wendet sich an Harry. „Also, Mister Perlman. Sie werden Violet in der Zeit, in der Andre nicht verfügbar ist, helfen und das ohne jegliche Beschwerden."

„Was?", fragen Harry und ich synchron. Unser Entsetzen ist nicht zu überhören.

„Bei allem Respekt, Misses Heath", versuche ich weiter, auf sie einzureden. „Harry ist ... Also wir bekommen das ohne Hilfe hin. Wirklich!"

„Ich spiel doch nicht irgendeinen minderwertigen Bühnenbauer, um mich herumschubsen zu lassen!", meckert Harry, jedoch unfreundlicher als ich. „Lieber gehe ich wieder zum Hausmeister, um die Kaugummis von den Tischen zu kratzen!"

„Und noch dazu kennt er sich doch gar nicht aus! Es würde Ewigkeiten dauern, ihn bei uns einzuweisen und ihm alles zu zeigen, und bis er das versteht, kann es Jahre dauern!"

Jetzt sieht Harry mich erbost an. „Was zur Hölle?"

Ich verdrehe die Augen. „Ist doch so."

„Was glaubst du, welchen IQ ich habe? Den eines Steins?"

„Frag lieber nicht."

„Für so eine scheiß Bühne muss man nicht besonders geistreich sein. Andre ist ein debiler Vollidiot, also tu nicht so, als bräuchte man dafür einen Durchschnitt von 1,0!"

„Nicht von 1,0, mindestens 3,5 sollte drin sein, aber dass das bei dir nicht drin ist, wissen wir beide, du Obergenie."

Sein Blick ist pures Gift. „Du verdammte …''

„Okay, die Entscheidung ist gefallen!", verkündet Misses Heath und unterbricht unsere Diskussion. „Violet, Sie werden Harry gleich der Theatergruppe vorstellen, und Harry, Sie werden sich benehmen. Wenn Sie nur einmal negativ auffallen, und glauben Sie mir, ich werde mich erkundigen, müssen wir ernsthaft über eine endgültige Suspendierung von der Schule nachdenken."

Verzweifelt flehe ich: „Misses Heath, ich bitte Sie ... So kurz vor dem Sommerstück können wir einen lästigen Neuankömmling wirklich nicht gebrauchen."

"Und ich kann mir wirklich Aufregenderes vorstellen, als in irgendeiner dummen Theatergruppe rumzuhängen", wirft Harry noch nachdrücklich ein.

Ich sehe ihn zornig an. "Dumme Theatergruppe? Hast du sie noch alle? Das …"

„Nein, tut mir leid, Violet", unterbricht die Rektorin mich. "Es geht hier nicht nur um Sie und Ihr Wohlbefinden, sondern darum, dass Mister Perlman lernen muss, dass er nicht alles tun kann, was er will. Diese Gruppe ist seine letzte Chance."