Catra Corbett: Wiedergeburt

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KAPITEL 4
MEINE ERSTEN SCHRITTE

Im Jahr 1996, zwei Jahre nachdem ich wieder clean war, ging es mir gut. Ich arbeitete in einem Bagel-Laden, betrieb Sport und ging wieder zur Schule, um meinen Abschluss zu machen. Außerdem hatte ich ein Dach über dem Kopf, auch wenn ich wieder bei meiner Mutter lebte.

Allerdings hatte ich keine Freunde. Ich steigerte mich so sehr in meinen Entzug, die Schule und den Sport hinein, nur damit ich diese ekeligen Drogen aus meinem Körper bekam. Meine einzigen Kameraden waren Oskar, mein Zwergdackel, Kevin, mein Trainingspartner und späterer Freund, und meine Mutter.

Die alte Süchtige oder der freche Teenager in mir hätten mich ausgelacht. Aber ich war nun ein anderer Mensch. Ich war keine Goth, keine Clubgeherin oder Tänzerin mehr. Ich war Assistant Manager in einem Bagel-Laden und eine 30-jährige Schülerin an der Highschool sowie eine erwachsene Frau, die mit ihrer Mutter lebte. Das genaue Gegenteil meines früheren Lebens. Das war in vielerlei Hinsicht auch gut so. Also entschied ich mich, dieses neue Ich mit offenen Armen willkommen zu heißen.

Zu jenem Zeitpunkt hatte ich bereits zwei Jahre lang Krafttraining hinter mir und war mit Oskar täglich an die fünf Kilometer spazieren gegangen. Doch eines Tages beschloss ich, dass ich das Spazierengehen satthatte. Es war einfach extrem langweilig.

Der Gedanke kam mir, als ich die Leute auf den Laufbändern im Fitnesscenter beobachtete. Das sah nicht gerade bequem aus. Tatsächlich wirkte es eher anstrengend. Doch ich dachte auch, dass ich es einmal ausprobieren könnte, anstatt mit Oskar jedes Mal fünf Kilometer spazieren zu gehen. Sonst gab es eigentlich keinen Grund dafür. Irgendwie möchte ich daran glauben, dass es mein Vater war, der mir diesen Gedanken zugeflüstert hat.

Am nächsten Tag stand ich auf und zog mir meine Sportsachen an. Ich besaß kein tolles Laufoutfit. Ich hatte keine Crosstrainingschuhe, keine Sportuhr von Garmin oder eine Wasserflasche, und Oskar war auch nicht dabei. Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was ich da tat. Trotzdem ging ich bei der Tür hinaus und begann zu joggen.

Gleich von Anfang an spürte ich, dass ich etwas tat. Ich spürte es in meiner Brust und kam schnell außer Atem. Ich steigerte meinen Puls. Das war genau das, was ich wollte, also lief ich weiter.

Ich wusste nichts darüber, wie man sich die Geschwindigkeit einteilt. Damals lief ich wahrscheinlich schneller, als ich sollte.

Wenn du trainierst, solltest du mit einer Geschwindigkeit beginnen, bei der du noch ohne Probleme eine Unterhaltung führen kannst. Nur das wusste ich damals nicht. Ich lief einfach.

Ich lief einfach um den Häuserblock und dachte, ich würde gleich sterben.

Als ich es dann geschafft hatte, fühlte ich mich überhitzt und völlig erschöpft. Ich setzte mich auf die Treppe vor dem Haus und atmete tief durch.

Irgendwie fühlte ich mich gut.

Wow, dachte ich. Ich bin die ganze Strecke gelaufen, ohne zu gehen, stehen zu bleiben oder eine Pause einzulegen. Ich bin gelaufen. Ich bin tatsächlich gelaufen.

Ich fühlte mich so gut, dass ich beschloss, Läuferin zu werden. Ich wollte so sein wie diese Leute im Fernsehen, die an diesen großen Rennen teilnahmen.

Gleich neben dem Bagel-Shop, in dem ich arbeitete, gab es einen Barnes & Noble-Buchladen. In meiner Pause ging ich immer hinüber und schmökerte ein wenig in den Büchern. Am Eingang gab es auch einen Ständer mit Flyern, die einen darüber informierten, was alles in Freemont los war. Da gab es auch Prospekte, die 5K- und 10K-Läufe bewarben.

Einmal sah ich dort einen Aushang für ein Rennen namens Carousel-to-Carousel im California’s Great America-Themenpark. Ich nahm mir einen der Zettel und ein Anmeldeformular und sagte meiner Mutter, dass ich mich für das Rennen anmelden wolle. Ich erklärte ihr, dass sie sich für den 5K-Spaziergang anmelden solle und ich würde den 10K-Lauf absolvieren.

Zwei Wochen nach meinem ersten erschöpfenden Lauf um den Häuserblock war ich bereit, an meinem ersten Rennen teilzunehmen. Es war mir egal, dass zehn Kilometer doppelt so viel waren wie die längste Strecke, die ich bis zu jenem Zeitpunkt gelaufen war. Es war mir auch egal, dass mein erstes Rennen hart sein würde. Ich war der Meinung, dass ich es schaffen würde. Wie hart konnte es denn schon sein?

Am Tag des Rennens hatte ich richtige Laufschuhe, ein Paar Reebok, die ich in einem Laden in meiner Nähe gekauft hatte, doch das war es dann schon mit meiner Laufausrüstung. Dazu trug ich meine Cut-Off-Shorts und ein schwarzes T-Shirt, das ich immer beim Laufen anzog. Das Rennen fand im März statt, doch in Kalifornien war es nur ein weiterer heißer Tag. Das schwarze T-Shirt zog die Hitze der Sonne richtig an, und so tropfte mir bereits vor dem Rennen der Schweiß von der Nase.

Ich stand an der Startlinie und blickte mich um. Da waren all diese Leute rund um mich herum, und sie alle sahen so fit aus.

Nun gut, dachte ich mir. Los geht’s.

Als der Startschuss ertönte, lief ich los wie eine Rakete.

Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie man sich ein Rennen einteilt.

Ich blieb auch an keiner Wasserstation stehen, da ich nicht wusste, dass man hydriert bleiben sollte.

Ich rannte einfach, so schnell ich konnte, und wollte jeden überholen. Ich dachte, ich müsse sterben.

Nach knapp 50 Minuten war ich im Ziel. Ich dachte, ich hätte einen Herzinfarkt. Kaum hatte ich die Ziellinie überquert, brach ich erschöpft zusammen. Jemand kam zu mir und fragte, ob alles in Ordnung sei, und zu meiner Überraschung antwortete ich mit Ja.

Ich fühlte mich gut.

Nein, ich fühlte mich großartig.

Wow, dachte ich. WOW.

Ich war gerade zehn Kilometer gelaufen.

Am anderen Ende des Zielraums sah ich meine Mutter, die sich unheimlich für mich freute.

Ich fühlte mich wie eine Heldin. Nachdem sie mir gratuliert hatte, besuchten wir den Vergnügungspark, denn für die Teilnahme an den Rennen hatten wir gratis Eintrittskarten erhalten.

Dort trafen wir auf eine andere Teilnehmerin, die mich vom Rennen wiedererkannte.

„Warum bist du ganz schwarz angezogen?“, fragte sie mich.

Die Antwort war einfach, ich hatte nichts anderes gehabt, doch das sagte ich ihr natürlich nicht, denn es war mir peinlich. Ich sah wie eine blutige Anfängerin aus, die keine Ahnung hatte, was sie tat. Doch das sollte sich bald ändern. Ich lernte. Ich lief mehr. Ich liebte Rennen. Ich wollte mehr.

Mutter und ich fuhren auf einigen der Attraktionen in dem Vergnügungspark, doch schon bald war ich zu müde, um noch länger durchzuhalten. Ich wollte nur mehr heim und ins Bett.

Als wir mein Auto erreichten, sah ich einen Flyer an der Windschutzscheibe meines Wagens stecken. Ich nahm ihn heraus und las darauf in großen, fetten Buchstaben „SAN FRANCISCO MARATHON“. Dem Prospekt war ein Anmeldeformular beigelegt.

Ich musste sofort an meinen Vater denken, der gerade für seinen ersten Marathon trainierte, als er starb. Als ich das Anmeldeformular sah, stieg meine Motivation. Ich werde einen Marathon laufen.

Auch wenn ich nach diesem ersten 10K-Lauf dachte, dass ich tot umfallen würde, fühlte ich mich gleichzeitig fantastisch. Ich wollte dieses Gefühl unbedingt noch einmal verspüren. Also warum nicht für ein Rennen trainieren, das viermal so lang war wie ein 10K-Lauf?

Also sagte ich meiner Mutter, dass ich den Marathon in Angriff nehmen würde, und sie sah mich stirnrunzelnd an und fragte: „Wie lange ist das?“

„Oh, ich weiß nicht genau. Vielleicht so knapp über 30 Kilometer?“, antwortete ich.

„Guter Gott. Du bist ja verrückt“, sagte meine Mutter darauf und schüttelte den Kopf.

Ich rief Kevin an, meinen Trainingspartner (und noch nicht Lebenspartner), und fragte ihn, wie lange so ein Marathon eigentlich sei. 42,195 Kilometer, kam die Antwort.

Oh Mann.

„Stell dir vor, ich werde an einem teilnehmen“, sagte ich.

An diesem Abend schnitt ich das Anmeldeformular von dem Flyer für den San Francisco Marathon, den ich an meinem Auto vorgefunden hatte, ab und schickte ihn ab. Nun gab es kein Zurück mehr.

XXX

Am Tag darauf ging ich in meinen örtlichen Barnes & Noble-Buchladen und suchte nach einem Buch über das richtige Training für den ersten Marathon. Ich griff zum erstbesten Buch, das ich sah. Was ich am dringendsten brauchte, war ein Trainingsplan. Ich kaufte das Buch und blätterte es durch.

Bingo! Da war der Plan.

Beim Training für einen Marathon waren laut dem Buch die Trainingsläufe während der Woche weniger wichtig als die langen Dauerläufe an den Wochenenden. (Das gilt im Großen und Ganzen auch für Ultramarathons, obwohl, das würde ich erst später lernen.) In diesem Trainingsplan wurden die Wochenendläufe als lange Dauerläufe bezeichnet, das heißt, dass diese Läufe das richtige Marathontraining waren. Die Idee dahinter war, sich langsam auf die 42 Kilometer einzustellen, indem man diesen langen Dauerlauf jede Woche etwas länger macht.

Mein Marathon würde in drei Monaten stattfinden. Um im Plan zu bleiben, musste ich also am Sonntag 15 Kilometer laufen.

Oh Mann. Bis zu jenem Punkt war meine längste Strecke der 10-Kilometer-Lauf gewesen. Nun musste ich den und zusätzliche fünf Kilometer laufen.

Es war Freitag.

Zu jener Zeit besaß ich keine GPS-Uhr, um die gelaufene Distanz ablesen zu können. Also setzte ich mich ins Auto, setzte meinen Kilometerzähler auf null und fuhr, bis er 7,5 Kilometer anzeigte, also die Hälfte, und sah, dass es an diesem Platz eine Tankstelle gab. Perfekt. An der Tankstelle kann ich umdrehen, dachte ich mir.

 

Am folgenden Sonntagmorgen zog ich mir meine kurze Hose und ein Baumwoll-T-Shirt an, band mir die Haare zu einem Pferdeschwanz hoch und lief los. Als ich die Tankstelle erreichte, drehte ich um und lief wieder nach Hause.

Zu Hause angekommen, setzte ich mich auf die Treppe und lehnte mich zurück. Ich dachte: Wow. Ich bin gerade 15 Kilometer gelaufen. Ich fühle mich richtig gut. Das muss es sein, wenn die anderen immer von einem Runner’s High, also einem Läuferhoch, sprechen.

Ich fühlte mich wie eine Superheldin.

XXX

Kurz darauf entschied ich mich kurzfristig dazu, einen weiteren 10-Kilometer-Lauf zu laufen, und suchte mir dafür einen Traillauf aus. Es war mein erster Traillauf und erst mein zweites Rennen überhaupt. Da ich noch immer nicht wusste, wie ich mir ein Rennen einzuteilen hatte, begann ich von Anfang an schnell.

Etwa bei der Hälfte klebte mir ein junges Mädchen an den Fersen, und ein älterer Mann, der neben der Strecke herlief, rief ihr zu, weiter zu pushen. Er schrie und schrie, und als sie endlich an mir vorbei war, schrie er, dass sie mich nicht wieder vorbeilassen sollte. Dann begann die Kleine, sich zu übergeben, und der Typ schrie sie weiter an. Was für ein Arsch.

Am Ende lag sie weniger als eine Minute vor mir.

Als ich ins Ziel kam, schlug mir das Herz bis zum Hals, zumindest fühlte es sich so an, da ich es laut in meinen Ohren pochen hörte. Da kam plötzlich dieser Typ zu mir.

„Mann, ich dachte schon, du holst uns ein“, sagte er. „Das Mädchen ist eine unsere Top 4 Highschool-Läuferinnen. Ich bin ihr Coach. Ich musste sie richtig antreiben. Du bist verdammt schnell. Wer bist du?“

Obwohl ich halb tot war, fühlten sich seine Worte richtig gut an. Ich fühlte mich plötzlich wie eine Läuferin. Und nicht nur wie eine Läuferin, sondern wie eine verdammt gute Läuferin.

Seine Worte waren Balsam für meine Seele. Ich war ein neuer Mensch. Vor ein paar Jahren hätte ich das nicht glauben können. Ich war clean. Ich war eine Sportlerin. Ich war eine Läuferin. Ich ähnelte meinem Vater mehr, als ich jemals gedacht hätte.

Ich hatte noch immer keine Freunde. Wenn also Leute, die so aussahen, als wären sie Läufer, bei mir im Laden vorbeikamen, sprach ich mit ihnen übers Laufen.

Sie gaben mir einen guten Tipp für eine Trainingsstrecke, nämlich einen nahegelegenen, asphaltierten Weg, der sich entlang eines Bachbetts erstreckt. Außerdem gab es Kilometermarkierungen entlang dieses Weges, die es mir ermöglichten, genau zu sehen, wie weit ich laufen musste. Jetzt musste ich auch die Distanz nicht mehr vorher mit dem Auto abfahren. Das war praktisch. Das Training während der nächsten beiden Wochen lief gut, und schon bald stand der magische 32-Kilometer-Lauf auf meinem Plan.

Bei den meisten Trainingsplänen sind die 32 Kilometer die längste Distanz. Die Theorie besagt: Wenn du 32 Kilometer laufen kannst, schaffst du auch einen Marathon.

An jenem Sonntag stand ich in der Früh auf. Ich verzichtete aufs Frühstück und trank auch nichts. Dann lief ich 16 Kilometer auf dem Weg neben dem Bachbett, drehte dann um und lief wieder zurück. Am Ende ging es mir richtig schlecht. Aufgrund des ganzen Trainings hatte ich auch stark abgenommen. Ich hatte einfach nicht genug Energie.

XXX

Zwei Tage vor dem San Francisco Marathon holte ich mir mein Päckchen ab. Meine Mutter begleitete mich. Sie war ganz aufgeregt, ob all dieser Gratisproben, die wir bekamen. Eine davon war ein Gel, das einzige auf der Rennexpo. Es war ein neues Produkt, und ich hatte absolut keine Ahnung, wofür es gut war.

„Nimm es bei Kilometer 35, wenn du gegen die Wand läufst“, sagte jemand zu mir.

Immer wieder hörte ich andere Läufer von dieser ominösen „Wand“ reden, doch was meinten sie damit? Als ich einen der Veranstalter fragte, erklärte er mir, dass das der Punkt sei, an dem du einfach aufhören willst und keinen Schritt mehr machen kannst.

Autsch. Das hört sich furchtbar an.

Auf der Rennexpo besorgte ich mir gleich ein neues Paar Shorts. Das waren diese neuen, bunten Shorts, in leuchtendem Pink, und dazu kaufte ich mir noch ein lilafarbenes Leibchen. Ich war ein neuer Mensch und brauchte deswegen auch einen neuen Look. Kein Schwarz mehr.

Schließlich war ich keine Goth-Tänzerin mehr, die Drogen nahm, um sich gut zu fühlen. Ich war eine Läuferin. Am Tag vor dem Marathon war ich fest entschlossen, meine Beine ja nicht zu belasten, und versuchte, so wenig wie möglich zu gehen. Meine Mutter meinte, das wäre lächerlich.

Dazu trank ich literweise Wasser. Fürs Abendessen bat ich meine Mutter, mir Kartoffelpüree zu machen, damit ich Kohlenhydrate zu mir nehmen konnte.

Am Morgen des Rennens begab ich mich an den Start auf der Golden Gate Bridge. Die Strecke verlief entlang der Sehenswürdigkeiten in San Francisco. Ich erkannte einige der Gesichter von anderen Rennen wieder. Während ich mich anstellte, kam eine Frau zu mir. Ich sagte ihr, dass es mein erster Marathon sei.

„Das hier ist mein 57.“, sagte sie und lächelte.

Wow. Ich konnte es nicht glauben. Wie kann jemand so viele Rennen laufen, fragte ich mich.

Ich zitterte vor Kälte in meinem dünnen Leibchen und den Shorts. Ein anderer Teilnehmer bot mir einen großen Müllsack an, den ich gerne annahm und mir sofort überzog. Erst in der letzten Minute vor dem Start zog ich ihn wieder aus und begann, mich auf die 42 Kilometer zu machen.

Zwar hatte ich den Startschuss überhört, doch es war unübersehbar, wie sich das Feld in Bewegung setzte. Es ging los.

XXX

Mein Vater hatte oft vom Alameda Creek Trail gesprochen, als er für seine Rennen trainierte. Er liebte diese Strecke. Ich musste an ihn denken, als ich Kilometer um Kilometer abspulte. Es war der gleiche Weg, den ich nun entlanglief.

XXX

Nach der Hälfte des Marathons fühlte ich mich noch immer gut und dachte mir: Wow, ich werde ja noch zur Marathonläuferin.

Ich werde zu etwas, das auch Paps gewollte hätte. Ich wurde zu einer dieser sonderlichen Personen im Fernsehen, über die mein Vater immer gesprochen hatte, und auf einmal schienen diese Menschen gar nicht mehr so sonderbar zu sein. Für mich waren sie normal. Ich war auf dem Weg, eine von ihnen zu werden, und dadurch fühlte ich mich meinem Vater näher, auch wenn er nicht mehr unter uns weilte. Es wäre so schön, wenn er noch am Leben gewesen wäre und ich das alles mit ihm hätte teilen können.

Als ich mich der 32-Kilometer-Marke näherte, dem Punkt, an dem ich diese gefürchtete Wand kennenlernen sollte, lief ich an mehreren Nachtclubs vorbei, die ich noch aus meiner Drogenzeit kannte. Damals hatte ich unter einem Nebelschleier gelebt. Die Drogen machten Spaß und fühlten sich gut an, doch einer der Gründe, warum ich mich die ganze Zeit so euphorisch fühlte, war, dass ich von einem Schleier umgeben war, der mich von der harten Realität des Lebens abschirmte. Das Problem war nur, dass dieser Schleier auch viele andere Dinge, viele wundervolle Dinge, verdeckte.

Er hielt mich davon ab, die schönen Seiten des Lebens zu sehen. Damals nahm ich weder Hügel, Berge noch sonst irgendwelche Sehenswürdigkeiten wie etwa die Golden Gate Bridge wahr. Ich konnte das Schöne, das San Francisco zu bieten hatte, nicht sehen.

Natürlich hatte mein Drogenkonsum noch andere Konsequenzen. Ich hätte für lange Zeit im Gefängnis landen können. Ich hätte wie Jason enden können, daliegend mit Einstichen in den Armen, und möglicherweise tot. Es hätte mir wie Peggy ergehen können, die aufgrund ihrer Drogensucht überhaupt kein normales Leben mehr leben konnte. Und auch wenn ich noch einmal glimpflich davongekommen war, so hatte ich trotzdem einiges verloren. Ich hatte viel Zeit verloren, die ich mit meiner Familie hätte verbringen können, mit meiner Mutter, mit der ich mich wieder versöhnt hatte, und meinen Wagen, und viele andere materielle Dinge und Jahre meines Lebens. Alles nur wegen dieses Schleiers in meinem Kopf.

Immer wenn ich an einem der Clubs, in denen ich früher Stammgast gewesen war, vorüberkam, bekam ich einen neuen Energieschub. Ich erinnerte mich daran, wie ich von Drogen berauscht war und mit meinen ehemaligen Freunden dort abhing und tanzte.

Nun aber fühlte ich mich ganz anders, als ich an den Clubs vorbeilief. Nun kam die Euphorie aus mir selbst und nicht mehr von den Drogen. Es war vielleicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein High hatte, das nicht durch Drogen hervorgerufen worden war.

Nach etwa 38 Kilometern spürte ich die Wand zum ersten Mal.

Meine Beine fühlten sich taub an, beinahe tot. Doch als ich weiter an den Clubs vorbeilief, dachte ich daran, wo ich damals gewesen war und bis wohin ich es nun geschafft hatte. Ich dachte an meine alten Freunde und konnte nicht glauben, dass ich noch immer nicht rückfällig geworden war.

Ich hoffte für sie, dass sie auch von den Drogen weggekommen waren.

Da liefen mir ein paar Tränen über das Gesicht. Dadurch lernte ich diesen Moment noch mehr zu schätzen. Ich war dankbar dafür, dass es mir gelungen war, diesem finsteren Ort zu entkommen, und nun dort war, wo ich mich jetzt befand: bei einem Marathonrennen mit Tausenden anderen Menschen. Und ich war drauf und dran, etwas zu bewerkstelligen, was auch mein Vater gerne geschafft hätte.

Laufen war ein Weg, mich meinem Vater näher zu fühlen, jene Verbindung wieder aufleben zu lassen, die vor Jahren verloren gegangen war. Ich konnte zwar nicht länger Vaters kleines Mädchen sein, doch ich konnte auf unsere gemeinsame Zeit zurückblicken und das würdigen, was er für mich getan hatte.

Meine Beine waren schwer, taub, doch ich konnte bereits das Ziel sehen. Ich wusste, dass meine Mutter dort auf mich wartete, und ich wusste, dass Paps stolz auf mich wäre.

So stolz.

XXX

Nachdem mein Vater gestorben war, zog ich von einer Party zur nächsten. Es war mein Weg, den Schmerz über den Verlust meines Vaters zu lindern. Meine Freunde wussten natürlich nicht, was sie zu mir sagen sollten. Was sagt man schon Freunden, die einen Elternteil verloren haben?

Meine letzten Worte zu meinem Vater waren, dass ich ihn hasste. Als ich älter wurde, erkannte ich, dass er gewusst hatte, dass ich es nicht so gemeint hatte, ich war eben ein Teenager, doch diese Worte verfolgten mich lange Zeit.

Ich trank viel und trank noch mehr und landete schließlich bei Drogen.

All das ging mir durch den Kopf, als ich ins Stadion einlief. Ich überquerte die Ziellinie und heulte. Ich konnte nicht glauben, dass ich es geschafft hatte.

Danke, Paps.

Laufen war mein Freund geworden. Es half mir, viele Dinge zu überstehen. Es war zu einer Zeit für mich da, als ich absolut nichts anderes hatte. Doch wenn ich lief, war mein Vater bei mir, und er half mir dabei, ein neues Leben aufzubauen, eines ohne Drogen. Er wurde zu meinem inneren Coach. Ich stellte mir vor, er sei mein Schutzengel, der mich leitete und mich „Peanut“ nannte – das war der Kosename, den er mir gegeben hatte – und mich dazu motivierte, alles zu geben.

Je mehr ich lief, desto enger fühlte ich mich ihm verbunden. Und ich wusste, dass, wäre er noch am Leben, er neben mir herlaufen würde.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich selbst damit begann, hatte ich keine Ahnung, was ein Ultramarathon war. Es war schon interessant, dass mein Vater mir an jenem Tag auf der Couch gezeigt hatte, was ein Ultraläufer war.

Doch noch war ich keine Ultraläuferin. Bis dahin lag noch ein langer Weg vor mir. Ich musste erst lernen, wie man im Gelände lief, und danach, wie man Marathons im Gelände lief. Dazu kamen noch zwei Probleme mit meiner Gesundheit.

Doch ich war eine Läuferin.

Und nun war ich sogar eine Marathonläuferin.

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