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 Pädagogik der frühen Kindheit

 in der Schweiz



Die kurze Übersicht hat gezeigt, dass mit Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit sehr Unterschiedliches, teils Widersprüchliches und Gegensätzliches gemeint sein kann. Nun geht es um die Frage, was die Pädagogik der frühen Kindheit in der Schweiz darunter versteht und welche Konsequenzen das für die Ausgestaltung pädagogischen Handelns hat. Dies soll anhand von einigen ausgewählten Publikationen beantwortet werden.



Die Autoren des Berichts «Familien – Erziehung – Bildung» bevorzugen den Begriff Chancengerechtigkeit (beziehungsweise Equity), weil Chancengleichheit «missverständlich» sei (Moser & Lanfranchi 2008, S. 13). Die Autoren argumentieren, dass ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit in jeder Gesellschaft unvermeidlich sei – und das Bildungswesen deshalb nur beschränkt etwas daran ändern könne (ebd.). Auch der «Bildungsbericht Schweiz» der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung von 2010 macht sich für den Begriff Equity zur Umschreibung von Chancengerechtigkeit stark, da Chancengleichheit «nach einer langen ideologisch geprägten Debatte in den letzten Jahrzehnten nicht nur positiv besetzt» sei (Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung 2010, S. 32). Im Gegensatz zu diesen beiden Beispielen wird aber in vielen anderen Publikationen nicht systematisch unterschieden zwischen Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit, oder aber der Begriff Chancengleichheit wird bevorzugt verwendet.



Der Evaluationsbericht der Pädagogischen Hochschule Luzern «Integrationsförderung im Frühbereich» (Buholzer 2012) verwendet Chancengleichheit und -gerechtigkeit weitgehend gleichbedeutend. Die beiden Begriffe gelten als zentrale Ziele von früher Förderung und Bildung. Mit Chancengleichheit sind vor allem Startchancen beim Eintritt in Kindergarten und Schule gemeint. Allerdings ist unklar, ob diese Startchancen für alle wirklich gleich sein sollen oder ob es nur darum geht, Startchancen für benachteiligte Kinder zu verbessern, sie also den privilegierteren Kindern anzugleichen. Da die Verbesserung von Startchancen nicht nur auf Schule, sondern auch auf den Einstieg in die Arbeitswelt bezogen wird, stellt sich die Frage, ob dies auf eine Angleichung der Schulleistungen bei Ende der Schulzeit hinauslaufen würde, also eine angestrebte Gleichheit am Ziel. Die frühe Förderung richtet sich zwar formell an alle Kinder, jedoch liegt der Fokus auf Kindern «aus sozial benachteiligten Familien, vornehmlich solchen mit Migrationshintergrund». Diese sollen nicht separiert, sondern «innerhalb Regelstrukturen» (also in heterogenen Gruppen) gefördert werden (ebd.).



Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich veröffentlichte 2009 den Hintergrundbericht «Frühe Förderung» (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2009). Auch hier wird nicht systematisch zwischen Chancengleichheit und -gerechtigkeit unterschieden, beide Begriffe werden häufig schlagwortartig verwendet. Chancengleichheit meint die Abschwächung von Benachteiligungen gewisser Kinder durch frühe Förderung. Fremdsprachige Vorschulkinder sollen beispielsweise im Hinblick auf den Schulstart in der Zweitsprache Deutsch gefördert werden. Das Ziel ist also nicht, dass die Startchancen für alle gleich sind, sondern nur, dass sie für benachteiligte Kinder besser werden. Um das zu erreichen, sollen sowohl eine «allgemeine frühe Förderung» (für alle Kinder) als auch eine «besondere frühe Förderung» (für Kinder, die diese speziell benötigen) angeboten werden (ebd.).



Im Schlussbericht «Better together» der Hochschule Luzern (Hafen 2012) wird nur von Chancengleichheit gesprochen. Diese wird als zentraler Wert für moderne Gesellschaften bezeichnet und «bedeutet …, dass niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft, seiner Geschlechtszugehörigkeit, seiner ethnischen Herkunft und anderer sozialer Merkmale im Bildungssystem benachteiligt werden darf» (ebd., S. 70). Daneben werden gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Kindergarten und Schule genannt. Unterschiede aufgrund verschiedener Leistungen gelten als gerecht, aufgrund persönlicher oder familiärer Merkmale aber als ungerecht. Anders als in anderen Publikationen bedeutet Chancengleichheit hier auch, dass alle Kinder «gleich behandelt» werden sollen, wobei unklar ist, ob das bereits vor der Schule oder erst während der obligatorischen Schulzeit gelten soll (ebd.).



Der Bericht «Integrationsförderung im Frühbereich» des Universitären Zentrums für frühkindliche Bildung Fribourg (ZeFF) der Universität Fribourg (Stamm et al. 2011) legt gegenüber den anderen Publikationen Wert auf eine Trennung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit. Chancengleichheit meint «die gleiche Chance zu Leistungsentfaltung und -bestätigung» für alle, möglichst unabhängig von ihrer sozialen Herkunft (ebd., S. 67). Die Autorinnen und Autoren sprechen hier also explizit nicht von gleichen Chancen auf Förderung oder Bildung, sondern betonen den Leistungsaspekt. Mit Chancengerechtigkeit ist die «Verteilung von Chancen in Abhängigkeit der individuellen Bedarfslage» gemeint (ebd.). Die Überlegung ist hier, dass nicht alle Kinder dieselbe Förderung brauchen. Deshalb müssen sie unterschiedlich behandelt werden, damit alle das ihnen «Entwicklungsangemessene» erhalten (ebd.). Chancengleichheit soll bei Schuleintritt gewährleistet werden, wobei die Startchancen nicht zwingend gleich, sondern ebenfalls «entwicklungsangemessen» sein sollen. Es bleibt unklar, was das genau bedeutet, wie beispielsweise Bedarf und Angemessenheit bestimmt werden können. Klar ist aber zumindest, dass benachteiligte Kinder mit Migrationshintergrund eine «andere Begleitung und Betreuung … als nicht benachteiligte Kinder» brauchen und auf «zusätzliche Unterstützung» angewiesen sind (ebd., S. 21). Vorschulangebote sollen demzufolge besonders für benachteiligte Kinder ausgebaut werden (ebd.).



Im «Aktionsplan ‹PISA 2000›-Folgemassnahmen» (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren 2003) sind der Frühbereich und die Vorschulstufe (Kindergarten) und dabei besonders die Forderung nach Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit wichtige Ansatzpunkte für Maßnahmen, welche im Anschluss an die PISA-2000-Untersuchung beschlossen wurden. Chancengleichheit soll als «Orientierung für die Systementwicklung» dienen, sie wird im Sinn einer Startchancengleichheit für alle verstanden (ebd., S. 18). Auch hier wird das Leistungsprinzip betont und Ungleichheit aufgrund der sozialen Herkunft als Problem dargestellt. Gefordert wird auch «Chancenfairness»: Für die Selektion im Bildungswesen sollen «adäquate Leistungskriterien und nicht sozio-kulturelle Kriterien ausschlaggebend» sein (ebd., S. 19). Um die Leistung derjenigen Jugendlichen zu verbessern, die bei PISA schlecht abgeschnitten haben, braucht es gemäß der EDK eine gezielte Förderung bereits in der Vorschulzeit, vor allem für «Fremdsprachige und bildungsferne Schichten» (ebd.).



Zusammenfassend kann man sagen, dass beide Begriffe, Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit, in der Pädagogik der frühen Kindheit in der Schweiz gebräuchlich sind. Sie werden aber häufig nur als Schlagworte verwendet und nicht systematisch voneinander unterschieden. Meist ist damit die Vorstellung verbunden, dass die Startchancen von benachteiligten Kindern beim Eintritt in Kindergarten oder Schule verbessert oder den Startchancen von privilegierten Kindern angeglichen werden sollen. Die Forderung nach Gleichheit dieser Startchancen wird aber in der Regel aufgegeben mit dem Hinweis, dass dies sowieso nicht erreichbar sei. Mit einer Ausnahme

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 beschränkt sich Chancengleichheit auf den Schulbeginn und nicht auf die obligatorische Schulzeit oder den Übergang in den Beruf. Man möchte allen Kindern einen guten Einstieg ins Bildungswesen bieten. Was aber danach bezüglich der Verteilung der Chancen passiert, welche Kinder mit welchem Hintergrund Aussichten auf welche weiterführende Bildung oder später Beschäftigungsmöglichkeiten haben, steht weniger im Zentrum des Interesses. Angestrebt wird also höchstens annäherungsweise die Gleichheit der Zugangschancen (beim Start), nicht aber Gleichheit im Ergebnis (beim Ziel).



Dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird ein wichtiger Stellenwert eingeräumt. Ungleiche Bildungschancen gelten als gerecht oder fair, wenn sie durch unterschiedliche Leistungen entstehen, aber als ungerecht, wenn sie durch die soziale Herkunft (z.B. den sozialen Status der Familie) oder persönliche Merkmale (z.B. das Geschlecht) zustande kommen. Allerdings bleibt unklar, ob das Leistungsprinzip auch schon für die Vorschulzeit gelten soll. Der Begriff «Entwicklungsangemessenheit» deutet eher darauf hin, dass bestehende Fähigkeiten und Begabungen (die sich zwischen den Kindern unterscheiden) gefördert werden sollen. Aber bedeutet das, dass benachteiligte Kinder intensiver zu fördern sind, damit sie ihren Rückstand bis zur Einschulung aufholen können (gleiche Chancen für alle beziehungsweise uneingeschränktes Gleichheitsprinzip)? Oder sollen umgekehrt die begabteren Kinder bessere Förderung erhalten, weil ihnen mehr Potenzial zugesprochen wird (gleiche Chancen bei gleichen Voraussetzungen beziehungsweise Begabungsgerechtigkeit)? Die untersuchten Publikationen deuten darauf hin, dass in der Vorschulphase eher das Gleichheitsprinzip, im Verlauf der obligatorischen Schulzeit aber eher die Begabungs- oder Leistungsgerechtigkeit gelten sollen.

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 Skepsis und Kritik



Kann nun durch frühpädagogische Angebote Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit überhaupt erreicht werden? Obwohl international vielfach untersucht, gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Frühe Förderung zeigt sowohl bei privilegierten wie nichtprivilegierten Kindern eine gewisse Wirkung, beispielsweise kognitiv oder sprachlich. Ob aber benachteiligte Kinder vergleichsweise größere Fortschritte machen (was in Richtung des Ziels der Chancengleichheit gehen würde), hängt von vielen Bedingungen ab und kann nicht eindeutig beantwortet werden (Betz 2010; Burger 2010; Rabe-Kleberg 2010).

 



Es gibt verschiedene kritische Einwände. Erstens wies der Soziologe Pierre Bourdieu bereits in den 1960er-Jahren nach, dass der Zugang zu höherer Bildung eng mit der sozialen Herkunft zusammenhängt. Über Erfolg und Misserfolg im Bildungswesen bestimmt demnach maßgeblich das familiäre Milieu, in dem man von klein an aufwächst (Bourdieu & Passeron 1971). Die Schule setzt zweitens gewisse Grundkenntnisse, Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten bereits voraus (z.B. in Bezug auf Sprachkenntnisse). Kinder, die diese Grundlagen schon zu Hause erworben haben, sind deshalb in der Schule im Vorteil, oder anders ausgedrückt: Die Schule belohnt die privilegierten Schülerinnen und Schüler aufgrund ihres Vorwissens. Entscheidend sind hier aber nicht nur konkrete kognitive oder sprachliche Fähigkeiten, sondern vor allem auch der «schulische Habitus», so beispielsweise die Fähigkeit, sich in die Klasse einzufügen, Rollen einzunehmen oder über längere Zeit fokussiert bleiben zu können. Dies haben benachteiligte Kinder weniger verinnerlicht (ebd.). Drittens wird argumentiert, dass Lehrpersonen auf ungleiche Lernvoraussetzungen von Kindern häufig mit Ungleichbehandlung reagieren. Jenen mit besseren Ausgangsbedingungen verschaffen sie zusätzliche Vorteile durch bessere Lernmöglichkeiten.

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 Aus dieser Perspektive werden bestehende herkunftsspezifische Ungleichheiten durch die Schule nicht abgeschwächt, sondern sogar noch verstärkt (Heid 1988; vgl. Sturm 2013). Angesichts solcher Erkenntnisse bezeichnet Bourdieu Chancengleichheit insgesamt als «Illusion» (Bourdieu & Passeron 1971).



Was bedeutet das nun für die Zeit vor dem Schuleintritt? Die Kinder werden schon früh durch die Verhältnisse und Gepflogenheiten in ihrer Familie sozialisiert. Gemäß den obigen Annahmen wird der vererbte familiäre Habitus dann in der Schule bedeutsam: Die Unterschiede zwischen den Kindern werden größer. Aber bereits in Spielgruppen, Kindertagesstätten und Kindergärten ist es wahrscheinlich, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, unterschiedlich bewertet und anerkannt werden. Es gibt Hinweise darauf, dass Erziehende anders mit privilegierten Kindern umgehen als mit benachteiligten (Betz 2010; Rabe-Kleberg 2010). Dies kann beispielsweise aus der Logik hervorgehen, dass es Erzieherinnen und Erziehern als lohnenswerter erscheint, Kinder zu fördern, welche in ihrer Entwicklung bereits weiter fortgeschritten sind. Als Erklärung dafür können zwei Gründe angeführt werden: Erstens ist denkbar, dass diesen fortgeschrittenen Kindern von den Erzieherinnen und Erziehern mehr Potenzial zugeschrieben wird, welches durch zusätzliche Förderung ausgeschöpft werden soll. Und zweitens: Geht man davon aus, dass weiter entwickelte Kinder bereits zu Hause eine gewisse Förderung erfahren haben, kann von den Eltern dieser Kinder angenommen werden, dass sie die Weiterführung dieser Förderung erwarten. Da es Erzieherinnen und Erzieher – so die Annahme – möglichst vermeiden wollen, diese Erwartungen der Eltern zu enttäuschen, werden sie deren Kinder eher fördern als solche, deren Eltern mit weniger Erwartungen auftreten. Ein solches pädagogisches Handeln kann aber auch auf der Haltung «entwicklungsangepasster Förderung» fußen. Diese postuliert, dass alle Kinder eine anregungsreiche Umgebung brauchen. So erhalten Kinder, die einen hohen Lern- und Entwicklungsstand aufweisen, noch zusätzliche Unterstützung oder Angebote und bauen damit ihren Entwicklungsstand weiter aus. Obwohl nicht beabsichtigt, können sich auch durch diese Haltung die Entwicklungsunterschiede zwischen den Kindern noch verstärken.



Um eine hohe Wahrscheinlichkeit auf einen guten Start in die Schule zu haben, ist neben guten kognitiven und sozialen Voraussetzungen zudem der erwähnte schulische Habitus von großem Vorteil (Isler & Künzli 2010). Auch der Kindergarten stellt gewisse Anforderungen an die Kinder, etwa bezüglich der Spielkultur. Bildungsnahe Familien, so die Annahme, vermitteln ihren Kindern bereits früh die nötigen Fähigkeiten, um sich in Kindergarten und Schule zurechtzufinden. Dies kann mit ein Grund dafür sein, dass benachteiligte Kinder schon im Kindergarten mehr Mühe haben, den Einstieg zu finden, was bis weit in die Schulzeit hinein negative Auswirkungen haben kann.



Neben der Skepsis, ob Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit erfüllt werden kann, gibt es auch grundsätzlichere Kritik daran, diese überhaupt anzustreben. Diese Kritik setzt unter anderem an bei den Vorstellungen davon, was Begabungen und Fähigkeiten sind. Eine Begabung kann nicht einfach als gegeben betrachtet werden, sie wird einem Kind zugeschrieben, etwa von Erziehenden oder Lehrpersonen. Dabei ist die Herkunft des Kindes nicht unwichtig. Kommt es aus einem bildungsnahen Elternhaus, wird es eher als begabt angesehen, seine Fähigkeiten gelten eher als Begabungen. Es hat beispielsweise früh gelernt, sich differenziert auszudrücken, weshalb ihm viel sprachliches Potenzial attestiert wird. Fähigkeiten und Ausdrucksformen von benachteiligten Kindern und die Bildungs- und Förderleistungen ihrer Herkunftsfamilien werden demgegenüber weniger als Begabungen erkannt – und implizit abgewertet. Dies führt dazu, argumentiert Bourdieu, dass geerbte soziale Privilegien im Bildungswesen in «Begabungen» oder individuelle Verdienste umgedeutet und dadurch soziale Ungleichheiten im Bildungswesen verfestigt werden (Bourdieu & Passeron 1971).



Das Leistungsprinzip bildet einen weiteren Ansatzpunkt für Kritik. Gemäß dem Erziehungswissenschaftler Helmut Heid setzt es voraus, dass etwas aufgrund von Kriterien als Leistung bewertet wird. Diese Kriterien werden von denjenigen festgelegt, die vom Leistungsprinzip profitieren und dadurch ihre sozial höhere Position in der Gesellschaft rechtfertigen können. Diese Kritik zielt in eine ähnliche Richtung wie zuvor bei den Begabungen: Es hängt von der sozialen Herkunft des Kindes ab, ob etwas, das es tut, als Leistung erkannt und anerkannt wird (Heid 2012). Ein privilegiertes Kind lernt beispielsweise früh, seine aktuellen Bedürfnisse zugunsten eines entfernten Ziels, etwa einer guten Note, zurückzustellen (Ryffel 2010); seine Schulleistung wird deshalb langfristig vergleichsweise besser bewertet werden. Was benachteiligte Kinder tun, wird demgegenüber weniger mit Leistung in Verbindung gebracht. Diese Zusammenhänge werden aber häufig übersehen, weil das Leistungsprinzip irrtümlicherweise als universal und herkunftsunabhängig gilt (Heid 2012). «Leistung» entscheidet in einer meritokratischen Gesellschaft mehrheitlich darüber, wer Zugang zu weiterführender Ausbildung erhält. Das wiederum hat Konsequenzen für Berufswahlmöglichkeiten, den erreichbaren sozialen Status und generell die späteren Lebensbedingungen. Nur wegen des Leistungsprinzips erscheint es als legitim und gerecht, dass das Bildungswesen Selektion betreibt und damit einen so bedeutenden Einfluss darauf hat, was aus einem Menschen einmal werden kann (Bellenberg 2010). Geht man aber davon aus, dass Leistung herkunftsabhängig verschieden bewertet wird, erscheint diese Legitimität infrage gestellt.



Die Frage, wie man mit sozialer Ungleichheit umgehen soll, ist in pädagogischen Kontexten hoch relevant. Es wird gemeinhin angenommen, dass bei größerer Chancengleichheit im Bildungswesen die soziale Ungleichheit weniger ausgeprägt ist. Heid (1988) hält diese Annahme für falsch. Er argumentiert sogar, dass das Gegenteil der Fall sei: Wer Chancengleichheit fordert, nimmt Ungleichheit in Kauf, ja rechtfertigt sie sogar. Das Bildungswesen hat unter anderem die Funktion, seinen Absolventinnen und Absolventen gesellschaftliche Positionen zuzuteilen. Wenn Chancengleichheit herrscht, bedeutet das nur, dass mehr Personen um die gleiche Anzahl «guter Plätze» (also beispielsweise gute Ausbildungen oder gut bezahlte Arbeitsplätze) buhlen. Die Konkurrenz nach Ende der obligatorischen Schulzeit wird also verstärkt, ohne dass etwas an der Logik der Positionszuteilung verändert worden wäre.

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 Dass alle gleiche Chancen haben (sollen), bedeutet auch, dass nur ein Teil von ihnen ihre Chance auch nutzen können. In der Forderung nach Chancengleichheit, sei es beim Schulstart oder am Ende der Schulzeit, steckt also immer auch die Annahme, dass es nicht alle schaffen können und dass viele scheitern (müssen). Der Entscheid über Erfolg und Misserfolg in der Bildung wird individualisiert: Jede und jeder scheint es aus eigenem Antrieb zum Beispiel an die Universität schaffen zu können, da ihr und ihm ja die Chance dazu geboten wurde.

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 Weil auch die Gescheiterten eine (gleiche oder gerechte) Chance hatten, wird ihr Scheitern als gerechtfertigt wahrgenommen, und sie müssen sich mit einem wenig einträglichen Beruf und geringeren Lebenschancen begnügen. Chancengleichheit im Bildungswesen bewirkt und rechtfertigt auf diese Weise soziale Ungleichheit, obwohl sie ursprünglich zum Ziel hatte, diese zu verringern (Heid 1988; Ryffel 2010; Böhm 2005; Rolff 1989).





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 Fazit



Die Forderung nach Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ist nicht so unumstritten, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Während einschlägige frühpädagogische Publikationen weitgehend wohlwollend darauf Bezug nehmen, zeigen sich bedeutende Skepsis und Kritik von erziehungswissenschaftlicher wie soziologischer Seite.



Ein Blick auf wissenschaftliche Studien zeigt, dass Chancengleichheit häufig nicht oder nur unvollständig gewährleistet werden kann, auch beim Schuleintritt (Startchancengleichheit). Zwar attestieren einige Untersuchungen gewissen Vorschulangeboten eine chancenausgleichende Wirkung, aber es gibt auch Hinweise darauf, dass sie herkunftsbedingte Differenzen zwischen Kindern im Vorschulalter verstärken können. Weiter ist zu bedenken, dass gebildete und gut situierte Eltern häufiger familienergänzende Betreuung und frühe Förderung für ihre Kinder wählen (z.B. Schmid et al. 2011; Stamm 2013). Dies hat zur Folge, dass benachteiligte Kinder häufig gar nicht in den Genuss eines Chancenausgleichs kommen können. Diese Erkenntnisse zusammengenommen deuten nicht darauf hin, dass Chancengleichheit in Zukunft vermehrt erreicht werden könnte. Tendenziell könnten sich die heutigen Differenzen unter den gegebenen Umständen eher noch verschärfen.



Eine Erhöhung der Chancengleichheit führt nicht, wie üblicherweise angenommen, zu einer Verringerung von sozialer Ungleichheit. Denn auch wenn alle am Ende der obligatorischen Schule die gleichen Chancen auf einen guten Ausbildungs- und später Arbeitsplatz hätten, stünde nur eine begrenzte Anzahl solcher «guter Plätze» zur Verfügung. Soziale Ungleichheiten, zum Beispiel in Form von ungleich verteilten Einkommen, bestünden also auch bei vollständiger Chancengleichheit nach Schulabschluss.



Der Begriff Chancengerechtigkeit bezieht sich wesentlich auf Begabungs- und Leistungsgerechtigkeit: Wer begabter ist oder mehr leistet, soll auch mehr erhalten, beispielsweise Zugang zu höherer Ausbildung. Doch wer entscheidet mit welchen Kriterien darüber, welche Fähigkeiten und Talente und welches Potenzial ein Kind hat? Bourdieu (1971) und Heid (2012) argumentieren, dass privilegiert aufwachsenden Kindern eher eine Begabung oder eine Leistung zugeschrieben wird als benachteiligten. Folgt man dieser Argumentation, erscheinen Begabungs- und Leistungsprinzip wenig geeignet, um Gerechtigkeit herzustellen. Denn dann ist es – zwar versteckter, aber immer noch – die familiäre Herkunft, die über die Bildungschancen entscheidet, was man eigentlich vermeiden wollte.



Es scheint sinnvoll, frühe Förderung und Bildung auf die Bedürfnisse der Kinder zuzuschneiden, um ihnen «gerecht» zu werden. Doch das kann sehr Unterschiedliches bedeuten. Bedeutet es, dass Erziehende mit Kindern, die zu Hause sprachlich wenig gefördert werden, intensiver an deren Sprachentwicklung arbeiten (sollen) als mit solchen, die sprachlich weiter entwickelt sind? Oder umgekehrt: Sollen sie die Sprachkünstlerinnen und -künstler mehr fördern, weil sie in ihnen mehr Potenzial sehen, ihre Sprachfähigkeiten noch weiter zu entwickeln? Und welche Variante ist gerecht(er)?



Diese Einwände stellen infrage, ob Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit sinnvolle bildungspolitische Ziele sind. Doch welche Alternativen gibt es für das Bildungswesen und speziell für die Frühpädagogik?

 



Eine Möglichkeit besteht darin, im Vorschulalter Fähigkeiten und Interessen von benachteiligten Kindern zu stärken, um ihren Rückstand auf die privilegiert Aufwachsenden möglichst gering zu halten. Wie das allenfalls vor sich gehen kann, zeigen in diesem Band vorgestellte Projekte. Schulische Differenzen sind aber nicht nur auf solche Grundfähigkeiten, sondern auch auf den schulischen Habitus zurückzuführen. Deshalb müssen die Kinder auch explizit auf die Lernkultur in den Bildungsinstitutionen vorbereitet werden (z.B. Lernmotivation; Fähigkeit, Bedürfnisse zurückstellen können). Allerdings zielen beide Ansätze vor allem