Lehrbuch ADHS

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2 Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS

Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität – alle möglichen zu diagnostizierenden ADHS-Subtypen beziehen sich auf diese Kernsymptome. Dabei wurde mehrfach empirisch nachgewiesen, dass die Unaufmerksamkeit abzugrenzen ist von der Hyperaktivität-Impulsivität (Nigg et al. 2002). Das bedeutet, dass Unaufmerksamkeit ein singuläres Konstrukt darzustellen scheint, während Hyperaktivität und Impulsivität fast immer gekoppelt, d. h. gemeinsam, auftreten. Dies spiegelt sich auch in den aktuellen Annahmen zu den Subtypen der ADHS wieder. Die drei Kernsymptome der ADHS, die unterschiedlichen Möglichkeiten ADHS zu diagnostizieren sowie die Subtypen der ADHS werden in diesem Kapitel behandelt.

2.1 Kernsymptome

2.1.1 Unaufmerksamkeit

Die Unaufmerksamkeit zeigt sich in vielen Bereichen: zu Hause, in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen. Kinder mit ADHS sind also häufig unkonzentriert und haben somit Schwierigkeiten beim Spiel oder beim Folgen des Unterrichtsgeschehens.

Flüchtigkeitsfehler

Sie machen oft Flüchtigkeitsfehler und können Anweisungen und Instruktionen nur schlecht folgen.

Vergesslichkeit

Eine weitere Auffälligkeit im Zusammenhang mit der Unaufmerksamkeit ist die Vergesslichkeit von Kindern mit ADHS: verlorene Turnbeutel, vergessene Schirme und verschwundene Federmäppchen gehören zum Alltag dieser Kinder.

Ablenkbarkeit

Zudem lassen sich Kinder mit ADHS oft durch äußere Reize ablenken: Wenn es gerade das Ziel bzw. die Aufgabe ist, sich auf die morgige Klausur vorzubereiten, und der beste Freund an der Tür klingelt, gelingt es Kindern mit ADHS nur schwer, diesen Reiz (in diesem Beispiel der Freund) zu unterdrücken und sich weiter auf die Aufgabe zu konzentrieren (→ Kapitel 8 zu Selbstregulation).

2.1.2 Hyperaktivität

Die motorische Überaktivität ist wohl das am leichtesten zu erkennende Merkmal der Kinder mit ADHS: Übermäßiges Zappeln mit Händen und Füßen, Herumrutschen auf dem Stuhl, Herumlaufen und Klettern gehören dazu.

Zappeln

Insgesamt ist es so, dass Kinder mit ADHS sich nicht ruhig verhalten können, wenn es von ihnen verlangt wird. Beispielsweise im Unterricht oder beim Anstehen in einer Schlange. Die Kinder wirken somit häufig wie „getrieben“.

2.1.3 Impulsivität

Kinder mit ADHS platzen häufig mit Antworten oder Fragen heraus, wenn dies gerade unangemessen ist. Sie können nur schwer abwarten, bis sie an der Reihe sind und unterbrechen andere häufiger als Kinder ohne ADHS.

Fluktuation von ADHS-Symptomen im Alltag

Bisherige Forschung beschränkt sich weitgehend darauf, ADHS-Symptome als stabile Personenmerkmale zu betrachten, auf Basis derer eine Unterscheidung zwischen Personen (mit versus ohne ADHS-Diagnose) möglich ist. Dementsprechend erfolgt die Beurteilung dieser Symptome im Rahmen der ADHS-Diagnostik in der Regel nur zu einem einzigen Zeitpunkt. Neuere empirische Befunde weisen darauf hin, dass eine solche Betrachtungsweise zu kurz greift (Schmid et al. 2016): Von Jugendlichen selbstberichtete Symptome der Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zeigten im Alltag Schwankungen von Tag zu Tag. Für ein umfassenderes Verständnis der Symptomatik ist es somit angezeigt, ADHS-Symptome nicht nur einmal, sondern wiederholt an mehreren verschiedenen Tagen zu erfassen. Auch exekutive Funktionen, von denen angenommen wird, dass sie ADHS-Symptomen unterliegen, fluktuieren über kürzere Zeiträume beträchtlich – ebenso wie die im Klassenzimmer beobachteten ADHS-Symptome im Jugendalter (Helps et al. 2011; Imeraj et al. 2016).

2.2 Stärken und Ressourcen der Kinder mit ADHS

In einer eigenen nicht-publizierten Befragung von Eltern und Lehrern konnten wir folgende Stärken der Kinder mit ADHS feststellen:

Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn,

Kreativität,

Harmoniebedürfnis,

Nicht-nachtragend-Sein.

Dies deckt sich mit Einschätzungen von Lauth und Naumann (2009) – als positive Seiten der Kinder mit ADHS listen diese Autoren auf:

Spontaneität,

Sinn für Situationskomik,

Ideenreichtum und Kreativität,

körperliche Fitness und Spaß an Bewegung,

Gespür für soziale Fairness,

kratzbürstiger Charme.

2.3 Diagnosesysteme, Subtypen und Erscheinungsbilder


Eine ADHS-Diagnose kann entweder nach dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) oder der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) vorgenommen werden. In Deutschland werden Diagnosen nach der ICD erstellt – in wissenschaftlichen Arbeiten werden allerdings häufig DSM-Diagnosen verwendet.

DSM

Das DSM ist ein Klassifikationssystem psychischer Störungen der American Psychiatric Association. Die erste Auflage erschien im Jahr 1952 – mittlerweile gibt es auch entsprechende Publikationen in anderen Sprachen weltweit. Die aktuelle deutsche Version aus dem Jahr 2015 heißt DSM-5®.

ICD

Die ICD ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für Diagnosen und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Die aktuelle deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2010 lautet ICD-10-GM (German Modification).

Tab. 2.1: Geschichte der ADHS-Diagnosen nach DSM und ICD


DSM-DiagnosenICD-Diagnosen
1980DSM-IIIAttention Deficit Disorder1965ICD-8
1987DSM-III-RAttention Deficit Hyper-activity Disorder1975ICD-9Hyperkinetisches Syndrom des Kindesalters mit Entwicklungsrückstand / mit Störung des Sozialverhaltens
1994DSM-IVAttention Deficit Hyper-activity Disorder1991ICD-10Hyperkinetische Störung
2013DSM-5Attention Deficit/Hyperactivity Disorder

2.3.1 ADHS-Subtypen nach dem DSM


Laut DSM können drei Subtypen der ADHS unterschieden werden: Kinder mit einer ADHS vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsbildes, Kinder mit ADHS vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsbildes und Kinder mit ADHS des gemischten Erscheinungsbildes. Im DSM werden die Subtypen also anhand der Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität unterteilt. Ein wichtiges Diagnosekriterium für alle Subtypen ist der Beginn der Störung vor dem 12. Lebensjahr.

ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsbildes

Träumer

Dieser Subtyp wurde mit Veröffentlichung des DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) eingeführt. Kinder mit ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Subtyps werden oft als „Träumerinnen“ oder „Träumer“ bezeichnet. Eltern und Lehrer berichten häufig, dass die Kinder zu Hause oder im Unterricht abwesend und mit den Gedanken ganz woanders zu sein scheinen, wichtige Informationen nicht wahrnehmen und im Vergleich zu anderen Kindern wesentlich langsamer sind.

Es gibt Hinweise darauf, dass dieser Subtyp in klinischen Stichproben weniger häufig und in nicht klinischen Stichproben häufiger ist als die anderen Subtypen der ADHS. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass die Kinder mit ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsbildes weniger auffallen als Kinder, die zusätzliche Merkmale von Hyperaktivität und Impulsivität aufweisen. Aus diesem Grund ist eine gezielte Diagnostik dieses Erscheinungsbildes von großer Bedeutung (→ Kapitel 11). ADHS dieses Erscheinungsbildes tritt häufiger bei Mädchen als bei Jungen auf (→ Kapitel 6).

 

Ein weiterer wichtiger Unterschied zu den anderen beiden Subtypen der ADHS sind die komorbiden Störungen (→ Kapitel 3). Kinder mit ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsbildes zeigen weniger externalisierende (z. B. aggressive) komorbide Symptome, leiden jedoch häufiger an Lernstörungen wie zum Beispiel Lese-Rechtschreibstörungen.


Tom, 10 Jahre, ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Subtyps

Tom ist ein ruhiger und friedlicher Junge. Als Kleinkind war er zwar häufig quengelig und schnell gereizt, aber trotzdem war mit ihm immer gut auszukommen. Im Kindergarten ist er recht gut mit den anderen Kindern zurechtgekommen, auch wenn er meistens allein gespielt hat und bei den Tobespielen der Jungs nicht mitmachen wollte. In der Grundschule hatte er keine größeren Schwierigkeiten – er fiel aber auch nicht durch übermäßig gute Leistungen auf. Meistens schaute er verträumt aus dem Fenster und so wunderte es seine Lehrerin auch nicht, dass er oft wichtige Informationen und Instruktionen verpasste. Seine Vergesslichkeit war ein weiteres Problem: Ständig ließ Tom wichtige Dinge zu Hause liegen oder vergaß seinen Turnbeutel, seinen Schirm etc. in der Schule. Nun steht der Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule an und es treten die ersten größeren Probleme auf: Toms Klassenlehrerin hält ihn prinzipiell für geeignet, ein Gymnasium zu besuchen; viele seiner weiteren Lehrer haben jedoch Bedenken, ob er den Gymnasialstoff bewältigen kann: Aus ihrer Sicht scheint Tom kognitiv nicht in der Lage dafür zu sein. Die Eltern sind ratlos und wenden sich an einen Schulpsychologen, der eine Gymnasialeignung aufgrund eines Intelligenztests sowie eine ADHS feststellt.

ADHS des vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsbildes

Auch dieser Subtyp wurde 1994 im DSM-IV eingeführt, da in empirischen Studien festgestellt wurde, dass ein kleiner Prozentsatz der Kinder mit ADHS lediglich Hyperaktivitäts- und Impulsivitätssymptome aufweist, aber keine Zeichen der Unaufmerksamkeit zeigt. Dieser Subtyp wird häufiger im jüngeren Alter festgestellt (Kindergarten, Grundschule), weshalb angenommen wurde, dass ADHS des vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsbildes ein Vorläufer des ADHS-Mischtyps ist. Hierzu ist aber weitere Forschung unbedingt notwendig.

In eigenen Untersuchungen konnten wir in Übereinstimmung mit obiger Theorie feststellen, dass bei Kindern im Vorschulalter die Symptome Hyperaktivität und Impulsivität häufiger sind (Merkt / Gawrilow 2011). Bezüglich komorbider Störungen scheint dieser Subtyp dem ADHS-Mischtypus sehr ähnlich zu sein. Die Kinder zeigen also häufig externalisierende Störungen (z. B. oppositionelles Trotzverhalten). Empirisch und klinisch ist dieser Subtyp jedoch wesentlich seltener nachzuweisen als die anderen beiden Subtypen (Lahey et al. 2005): ADHS-Mischtypus und ADHS – vorwiegend unaufmerksamer Subtyp werden öfter diagnostiziert als ADHS – vorwiegend hyperaktiv impulsiver Subtyp.

ADHS: gemischtes Erscheinungsbild

Kinder mit ADHS des Mischtyps sind sowohl unaufmerksam als auch hyperaktiv-impulsiv. Diese Kinder haben sowohl zu Hause, in der Schule als auch in sozialen Beziehungen enorme Schwierigkeiten: Sie scheinen nicht zuzuhören, können sich nicht länger auf eine Aufgabe oder Interaktion konzentrieren, zappeln herum und stören bzw. ärgern damit ihre Eltern und Klassenkameraden.

2.3.2 ADHS-Subtypen nach der ICD


Laut der ICD können folgende Subtypen der ADHS diagnostiziert werden: einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens und Aufmerksamkeitsstörungen ohne Hyperaktivität. Wichtig ist in der ICD der frühe Beginn der Störung, d. h. vor dem 6. Lebensjahr. In der ICD wird auf die aktuell unbefriedigende Situation der Untergliederung der ADHS hingewiesen – als wesentliche Gliederungsmerkmale werden das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein von Aggressivität, Delinquenz und dissozialem Verhalten herangezogen (Abb 2.1).

Einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung

Dieser Subtyp soll diagnostiziert werden, wenn Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität-Impulsivität vorliegen. Jedoch dürfen keine Symptome der Störung des Sozialverhaltens erkennbar sein: Beispielsweise dürfen die Kinder kein dissoziales, aggressives oder aufsässiges Verhalten an den Tag legen.

Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens

Kinder, die eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens aufweisen, sind unaufmerksam, hyperaktiv und impulsiv sowie gleichzeitig aggressiv. Sie zeigen also neben den typischen ADHS-Symptomen auch Symptome einer Störung des Sozialverhaltens und damit ein andauerndes und wiederkehrendes Muster dissozialen, aggressiven und aufmüpfigen Verhaltens.


Abb. 2.1: Kriterien zur Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach DSM-5 (nach Döpfner et al. 2013)

Aufmerksamkeitsstörungen ohne Hyperaktivität

Kinder, die nur unaufmerksam, aber nicht hyperaktiv-impulsiv sind, können in der aktuellen ICD wie folgt diagnostiziert werden: Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in Kindheit und Jugend. Auch hier zeigt sich, dass in der ICD (anders als im DSM) die ADHS nach dem Vorhandensein einer Störung des Sozialverhaltens und nicht entlang der Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität gegliedert wird.

ADHS und Emotionserkennung

Die Fähigkeit, Emotionen in der Stimme und im Gesichtsausdruck anderer Menschen zu erkennen, ist eine Schlüsselfähigkeit im Bereich sozialer Interaktion. Aus diesem Grund wird das Erkennen von Emotionen bei psychiatrisch erkrankten Patienten seit langem erforscht. Es wurde beispielsweise beobachtet, dass autistische Kinder Probleme haben, in der Stimme und im Gesichtsausdruck anderer Menschen Emotionen zu erkennen. In sozialen Situationen (d. h. in der direkten Interaktion mit anderen Menschen) zeigen autistische Kinder ebenfalls diese Schwierigkeiten.

Untersuchungen zu den Grundemotionen (Angst, Ekel, Freude, Trauer, Wut und Überraschung) konnten ähnliche Defizite in der Emotionserkennung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS feststellen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS negative Emotionen überinterpretieren, was dazu führt, dass ADHS-Betroffene vermeintliche und tatsächliche Wut häufiger bei ihrem Interaktionspartner erkennen (Cadesky et al. 2000). In den meisten vorhandenen Untersuchungen wird dieses Problem in Zusammenhang mit defizitären exekutiven Funktionen und defizitärer Selbstregulation gebracht: Vermutlich wird dieses Problem der Emotionserkennung durch eine mangelhafte Selbstregulation verursacht. Die Probleme bei der Emotionserkennung könnten möglicherweise auch erklären, warum ADHS-Betroffene Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen zeigen. Bislang ist jedoch noch nicht nachgewiesen, ob dieser kausale Zusammenhang existiert.

2.4 Spezifische Kriterien für eine Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter

Viele der bisher benannten ADHS-typischen Probleme sind sehr spezifisch für Kinder und Jugendliche. ADHS gibt es jedoch auch bei Erwachsenen (→ Kapitel 10). Eine ADHS bei Erwachsenen hat ein gänzlich anderes Erscheinungsbild als eine ADHS bei Kindern.

Das DSM-5 trägt diesem Rechnung und auch insbesondere dem Umstand, dass ADHS bis in das Erwachsenenalter hinein bestehen kann. Mit Einführung des DSM-5 müssen bei Patienten ab 17 Jahren lediglich 5 der genannten Symptome bestehen.

Aufmerksamkeitsstörung: das Unvermögen, Gesprächen aufmerksam und konzentriert zu folgen, eine erhöhte Ablenkbarkeit (irrelevante Stimuli können nicht gefiltert werden) und Vergesslichkeit (z. B. häufiges Verlieren von Alltagsgegenständen wie Autoschlüssel oder Brieftasche).

Motorische Hyperaktivität: innere Unruhe, „Nervosität“ (im Sinne eines Unvermögens, sich entspannen zu können), Unfähigkeit, sitzende Tätigkeiten durchzuhalten (z. B. am Tisch still zu sitzen, Spielfilme im Fernsehen anzusehen, Zeitung zu lesen), stets „auf dem Sprung“ sein. Bei Inaktivität treten gehäuft dysphorische, depressive Stimmungslagen auf.

Aufmerksamkeitsstörung und motorische Hyperaktivität müssen noch immer vorliegen (somit wird mit diesen Kriterien nur der kombinierte Typ gemäß DSM-IV-TR diagnostiziert), zusätzlich müssen mindestens zwei weitere der folgenden Aspekte erfüllt sein:

Affektlabilität: der Wechsel zwischen normaler bzw. niedergeschlagener Stimmung und leichter Erregung (mit einer Dauer von einigen Minuten bis maximal einigen Tagen); die niedergeschlagene Stimmungslage wird von den Betroffenen häufig als Unzufriedenheit oder Langeweile beschrieben.

Desorganisiertes Verhalten: unzureichend strukturierte, geplante und organisierte Aktivitäten; diese Desorganisation wird im Zusammenhang mit der Arbeit, der Haushaltsführung oder mit schulischen Aufgaben berichtet. Aufgaben werden häufig nicht zu Ende gebracht, die Patienten wechseln planlos von einer Aufgabe zur nächsten und lassen ein gewisses „Haftenbleiben“ vermissen. Unsystematische Problemstrategien liegen vor, weiterhin finden sich Schwierigkeiten in der zeitlichen Organisation und die Unfähigkeit, Zeitpläne oder Termine einzuhalten.

Affektkontrolle: andauernde Reizbarkeit, verminderte Frustrationstoleranz und in der Regel kurzfristige Wutausbrüche, die häufig eine nachteilige Wirkung auf die Beziehung zu Mitmenschen haben; typisch ist auch eine erhöhte Reizbarkeit im Straßenverkehr.

Impulsivität: Dazwischenreden, Unterbrechen anderer im Gespräch, Ungeduld, impulsives Geldausgeben sowie das Unvermögen, Handlungen im Verlauf zu verzögern, ohne dabei Unbehagen zu empfinden.

Emotionale Überreagibilität: überschießende emotionale Reaktionen auf alltägliche Stressoren. Die Patienten beschreiben sich selbst als schnell „genervt“ oder gestresst.

Liegen also neben Aufmerksamkeitsstörung und motorischer Hyperaktivität (kombinierter ADHS-Typ) noch zwei zusätzliche Kriterien vor, kann ADHS im Erwachsenenalter diagnostiziert werden.


Weitere Informationsquellen

Die Spezifika der ADHS-Symptome sind zitiert nach einer Stellungnahme der Bundesärztekammer zur ADHS im Erwachsenenalter: http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/ADHSLang.pdf

Die jeweils aktuell gültige ICD kann man online recherchieren unter: www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/index.htm

Der aktuelle Stand und die Entwicklungen bezüglich des DSM können unter dem folgenden Link nachgelesen werden: https://www.dsm5.org/Pages/Default.aspx


Vertiefungsfragen

 

3. Welche Kernsymptome kennzeichnen die ADHS? Wie können diese Kernsymptome beschrieben werden?

4. Sind die Charakteristika dieser ADHS-Symptome immer Ausdruck klinisch gestörten Verhaltens?

5. Welche Symptome kennzeichnen eine ADHS im Erwachsenenalter und was unterscheidet die Kernsymptome der ADHS im Erwachsenenalter von den Kernsymptomen der ADHS im Kindesalter?

6. Was sind Stärken bzw. positive Seiten von Kindern mit ADHS?

3 Komorbide Störungen

Komorbide Störungen, also Störungen die im Sinne einer Doppel- bzw. Mehrfachdiagnose neben der ADHS zusätzlich vorliegen, sind bei ADHS-Betroffenen eher eine Regel als eine Ausnahme. Nachgewiesenermaßen ist es oft schwieriger, bei den ADHS-Betroffenen mit dominanter Hyperaktivität und Impulsivität solche komorbiden Störungen zu diagnostizieren: Bei hyperaktiven und impulsiven Kindern mit ADHS werden komorbide Störungen also häufig übersehen. Dass Menschen mit ADHS hochgradig impulsiv sind, führt weiterhin dazu, dass zusätzliche (komorbide) externalisierende bzw. extraversive Störungen und Verhaltensweisen zu erwarten sind: Die Betroffenen handeln unüberlegt, aggressiv und oppositionell.

Aber auch internalisierende bzw. intraversive Störungen und Verhaltensweisen sind häufig. Dazu gehören z. B. affektive Störungen, wie depressive und Angststörungen. Des Weiteren zeigen Kinder mit ADHS mit Eintritt in die Grundschule auch oft Lern- und Leistungsstörungen. Sobald komorbide Störungen im Spiel sind, wird eine ADHS-Diagnose erschwert, da der Diagnostiker erkennen muss, ob tatsächlich eine komorbide Störung vorliegt oder eine Differentialdiagnose erstellt werden muss (→ Kapitel 4). Alle komorbiden Störungen stellen für die Entwicklung der Betroffenen einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Dies bedeutet, dass der Verlauf der ADHS für Patienten mit zusätzlichen komorbiden Erkrankungen zumeist schwerwiegender und beeinträchtigender ist als für Patienten ohne komorbide Erkrankungen.

Bauermeister und Kollegen (2007) sind in einer empirischen Untersuchung der Frage nachgegangen, ob auch bei der ADHS eine „Illusion des Klinikers“ vorliegt. Diese Illusion beschreibt die Tatsache, dass sich klinische Studien meist auf Stichproben beziehen, deren Patienten chronische und schwerwiegende Verläufe der Störung bzw. Erkrankung zeigen. Aus diesem Grund haben Bauermeister und Kollegen in einer umfassenden Studie zur Komorbidität der ADHS nicht nur klinische sondern auch Stichproben aus dem Feld miteinbezogen. Das Ergebnis zeigt, dass die Muster komorbider Störungen der ADHS in beiden Stichproben recht ähnlich sind – auch wenn sich die jeweiligen Prävalenzen unterschieden (Tab. 3.1 und Tab. 3.2).


Komorbide Störungen sind bei der ADHS die Regel: Insgesamt weisen ca. 2 / 3 der Kinder mit ADHS neben den Kernsymptomen für die ADHS noch weitere Störungen auf. Sobald komorbide Störungen im Spiel sind, wird eine ADHS-Diagnose erheblich erschwert.

Tab. 3.1: Häufigkeit komorbider Störungen der ADHS


QuelleHäufigkeit der komorbiden Störungen
94,8 % der Kinder mit ADHS haben eine oder mehrere komorbide Erkrankungen.
76 % der Kinder mit ADHS haben mindestens eine komorbide Erkrankung
44 % der Kinder mit ADHS haben eine weitere Störung. 43 % der Kinder mit ADHS haben zwei oder mehrere komorbide Störungen.
Kadesjö / Gillberg (2000)87 % der Kinder mit ADHS haben eine weitere Störung. 67 % der Kinder mit ADHS haben zwei oder mehrere komorbide Störungen.
79 % der Schulkinder (und 74 % der Vorschulkinder) mit ADHS haben mindestens eine komorbide Erkrankung.
Bauermeister et al. (2007)30 % (34 %) der Kinder mit ADHS haben eine weitere Störung. 24 % (39 %) der Kinder mit ADHS haben zwei oder mehrere komorbide Erkrankungen (Gemeinde-Stichprobe, in Klammern: klinische Stichprobe).
90 % der Kinder mit ADHS haben eine oder mehrere komorbide Erkrankungen.

3.1 Externalisierende Störungen

Kinder mit ADHS zeigen oft aggressives und dissoziales Verhalten als komorbide Symptome. Besonders häufig kann bei Kindern mit ADHS auch die oppositionelle Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert werden. Typisch für diese Kinder ist, dass sie oft streiten – z. B. mit den Eltern oder Lehrern – und nicht gehorchen. Weiterhin treten häufig Ärgerperioden auf: Das Kind schreit und ist schwer zu beruhigen. Die oppositionelle Störung des Sozialverhaltens kann man auch daran erkennen, dass die Kinder gerne andere ärgern und sich leicht durch andere ärgern lassen. Zudem machen sie oft andere für die eigenen Fehler verantwortlich.

Die ICD-10 wird dieser auffallenden Koppelung der ADHS mit oppositionellen Verhaltensweisen durch die mögliche Diagnose „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ gerecht (→ Kapitel 2 und 11). Diese Diagnose drückt an sich die Überlappung beider Symptombereiche aus. Tritt eine solche Störung des Sozialverhaltens als komorbide Störung besonders früh ein, ist es umso wichtiger, mittels geeigneter Therapiemaßnahmen einzugreifen: Diese Kinder zeigen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung weiterer Störungen wie einer Substanzabhängigkeit oder einer antisozialen Persönlichkeit (Döpfner 2003). Insgesamt ist es also für die Therapieplanung von großer Bedeutung, ein Profil eventuell vorhandener komorbider Störungen zu erstellen.

Tab. 3.2: Häufigkeit bestimmter komorbider Störungen bei der ADHS


QuelleHäufigkeiten bestimmter komorbider Störungen in %
Bauermeister et al. (2007)Störung des Sozialverhaltens: 13.18 (10.22)*Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten: 38.89 (61.19)Angststörungen: 24.43 (33.51)Depressive Störungen: 9.27 (22.73)(Gemeinde-Stichprobe, in Klammern: klinische Stichprobe)
Ghanizadeh et al. (2008)Depressive Störungen: 7.4Angststörungen: 28.4Spezifische Phobien: 16.0Sozialphobie: 1.2Verhaltensstörungen: 60.5Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten: 59.3Störung des Sozialverhaltens: 13.6Enuresis: 11.1Enkopresis: 1.2Tic-Störungen: 21.0Substanzmissbrauch (Zigaretten, Opium): 1.2Nägelkauen: 38.3

* Anmerkung: Werte in Klammern entstammen einer klinischen Stichprobe (Bauermeister et al. 2007)

Antisoziale Verhaltensstörungen und die ADHS: Überlappung und Differenzierung auf neuropsychologischer Ebene

Antisoziale Verhaltensauffälligkeiten (wie z. B. die oppositionelle Störung des Sozialverhaltens) überlappen sich häufig mit der ADHS und treten gemeinsam, also komorbid, auf. Bislang gibt es wenig Forschung zur Frage, welche exekutiven Funktionsmuster (→ Kapitel 8) die beiden Störungen voneinander differenzieren. In einer aktuellen Studie fanden Hobson und Kollegen (2011) beim Vergleich von Kindern mit reinen sozialen Verhaltensstörungen, Kindern mit ADHS und zusätzlichen sozialen Verhaltensstörungen und Kontrollkindern ohne Störungen heraus, dass soziale Verhaltensstörungen mit „heißen“ exekutiven Funktionen, also mit Funktionen, die belohnungsbasiert sind, im Zusammenhang stehen. Diese Gruppe von Kindern zeigt in experimentellen Aufgaben Reaktionen, die stark auf Belohnungen fokussieren. Weiterhin sind soziale Verhaltensstörungen auch mit bestimmten Mustern „kalter“ kognitiver exekutiven Funktionen assoziiert, die unabhängig von der ADHS zu sein scheinen. Weitere Forschung und vor allem empirische Studien, die zusätzlich noch eine reine ADHS-Gruppe einschließen, sind jedoch notwendig.

3.2 Internalisierende Störungen

Kinder mit ADHS können auch unter zusätzlichen internalisierenden Störungen leiden. Zu diesen Störungen gehören beispielsweise affektive Störungen (z. B. Depressionen) mit einer Häufigkeit von 10–40 % und Angststörungen mit 20–25 % unter den ADHS-Kindern.

3.3 Lern- und Leistungsstörungen

Kinder mit ADHS zeigen häufiger als Kinder ohne ADHS Störungen wie Legasthenie, d. h. eine massive und lang andauernde Störung des Erwerbs der Schriftsprache. Die Betroffenen haben Probleme mit der Umsetzung der gesprochenen zur geschriebenen Sprache und umgekehrt. Auch die Dyskalkulie, d. h. eine Entwicklungsverzögerung des mathematischen Denkens bei Kindern und Jugendlichen (und auch Erwachsenen), ist eine häufige komorbide Störung von Kindern mit ADHS.

Auch ohne das Vorliegen einer diagnostizierten Teilleistungsstörung können exekutive Funktionsdefizite und Arbeitsgedächtnisdefizite bei Kindern mit ADHS zu Schwierigkeiten führen, den schulischen Anforderungen gerecht zu werden (→ Kapitel 8).


Peter, 12 Jahre, ADHS mit komorbider LRS

Peter ist jetzt 12 Jahre alt und besucht die 6. Klasse einer Hauptschule. Bereits im Kindergarten fiel Peter als lebhaftes und umtriebiges Kind auf – Peters Familie und vor allem sein Großvater ordneten dieses Verhalten jedoch nie als problematisch ein, schließlich war Peters Vater als Kind auch ein richtiger „Wildfang“. Mit der Einschulung begannen dann die Probleme: Peter hatte große Schwierigkeiten, Lesen und Schreiben zu erlernen und sich überhaupt auf den Unterricht zu konzentrieren. Permanent war er in Bewegung, störte dabei oft die Mitschüler und Mitschülerinnen und den Unterrichtsablauf, was schnell dazu führte, dass Peters Eltern Kontakt mit dem lokalen Sozialpädiatrischen Zentrum aufnahmen, welches die Diagnosen ADHS und LRS stellte. Peters Eltern entschieden sich zunächst gegen eine medikamentöse Therapie; Peter nahm regelmäßig an Konzentrations- und Lese-Rechtschreibtrainings teil. Die Probleme in der Schule blieben aber bestehen, obwohl vor allem Peters Klassenlehrerin sich engagierte, gute Lösungen zu finden. Nach diversen klärenden Gesprächen mit der Klassenlehrerin und den Eltern der Mitschüler (unter anderem hatte die Klassenlehrerin eine befreundete Schulpsychologin zu einem Elternabend eingeladen, die über das Thema „ADHS in der Schule“ referierte), lief es in der Schule für Peter und die Klasse wieder besser: Seine Klassenlehrerin wusste nun, welche Strategien sie in welcher Situation anwenden konnte, um Peter (und auch die anderen Kinder) zu motivieren. Mit einer Realschulempfehlung ging Peter aus der Grundschule – das erste Schuljahr an der weiterführenden Schule entwickelte sich jedoch schnell zur Katastrophe. Für die Eltern und auch den behandelnden Arzt war nun klar, dass eine Medikation unbedingt erwogen werden sollte, weshalb Peter zur exakten Titrierung der MPH-Dosierung für einige Wochen stationär aufgenommen wurde. Danach waren die Probleme an der Schule nicht gelöst: Nach wie vor gab es Ärger mit den Lehrern und Mitschülern. Zur Unkonzentriertheit und den Lese-Rechtschreibproblemen, die dank der Medikation, sofern Peter seine Tabletten eingenommen hatte, besser wurden, kamen nun soziale Probleme hinzu. Der einzige Freund, den Peter in seiner neuen Schulklasse gefunden hatte, war Jan, der gerade sitzengeblieben und aufgrunddessen der zweite Außenseiter der Klasse war. Außerdem kam Peter mit seinem neuen Klassenlehrer überhaupt nicht zurecht: Die beiden harmonisierten sich einfach gar nicht und Peter hatte immer das Gefühl, missverstanden zu werden. Irgendwann schaltete sich der Schulleiter ein und empfahl den Wechsel auf die nahegelegene Hauptschule – Peters Eltern und Peter selbst waren zu diesem Zeitpunkt so verzweifelt, dass sie dies tatsächlich als Chance sahen. Und wirklich: In seiner neuen Klasse an der Hauptschule blühte Peter auf. Jedoch bleibt bei den Eltern das schlechte Gefühl, dass Peter eigentlich einen besseren Schulabschluss erreichen könnte.

3.4 Störungen, die von Beginn an parallel zur ADHS vorliegen vs. Störungen, die sich im Laufe einer ADHS entwickeln können

Eine bedeutsame und praktisch (klinisch) relevante Differenzierung komorbider Störungen der ADHS ist der Zeitpunkt des Auftretens dieser Störungen. Es kann zwischen solchen Störungen unterschieden werden, die gleichzeitig mit der Primärdiagnose ADHS diagnostiziert werden oder die in Folge der Primärdiagnose ADHS entstehen.

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