Das lachende Baby

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Oxytocin

Oxytocin ist der unangefochtene chemische Herrscher bei der Geburt. »Das gute alte Oxytocin«, wie Natalie immer sagt. In den letzten zehn Jahren wurde Oxytocin auch zur »Liebesdroge« und zum »Kuschelhormon« hochgejubelt. Angeblich ist es in großen Mengen vorhanden, wenn Menschen sich verlieben, und in weniger großen Mengen, wenn sie Sex haben oder sich nur umarmen. Bei psychologischen Untersuchungen hat man den Teilnehmern Oxytocin in die Nase gesprüht und dann Aufnahmen ihrer Gehirne gemacht. Die Studien haben ergeben, dass Oxytocin die Empathie steigert, die Introversion reduziert und sogar bei Autismus helfen könnte. Die wissenschaftlichen Grundlagen der meisten derartigen Behauptungen sind bestenfalls »unbewiesen«. Frühere Studien hatten nicht genug Teilnehmer, um verlässliche Aussagen zu machen, oder wurden nicht wiederholt. Es ist noch nicht einmal klar, ob in die Nase gesprühtes Oxytocin überhaupt ins Gehirn gelangt.

Der mütterliche Oxytocinspiegel steigt in der späten Phase einer Schwangerschaft allmählich an und steigert das Gefühl der Zufriedenheit, Ruhe und Sicherheit neben dem Partner. Bei den Wehen wird Oxytocin in noch größeren Mengen freigesetzt und verstärkt die Kontraktionen. Und noch mehr Oxytocin wird produziert, wenn das Baby auf dem Weg durch den Geburtskanal den Muttermund und die Vagina stimuliert, wodurch eine positive Feedbackschleife entsteht. Wenn die Geburt nicht recht vorangeht, kann es sein, dass die Mutter an einen Oxytocintropf gehängt wird.

Oxytocin ist nicht der einzige chemische Stoff, der bei einer natürlichen Geburt ins Spiel kommt. Wenn die Wehen sich ihrem Höhepunkt nähern, arbeitet ein komplexer Cocktail von Hormonen und chemischen Stoffen bei Mutter und Baby zusammen. Relaxin entspannt die Bänder der Mutter, und ein Protein namens Noggin sorgt dafür, dass der kindliche Kopf weich und verformbar wird, damit er besser ausgetrieben werden kann. In einem frühen Stadium können die schnell wirkenden Stresshormone Epinephrin und Norepine phrin bei Gefahr die Wehentätigkeit verlangsamen oder zum Stillstand bringen. Und ganz am Ende der Wehen sorgt eine Flut dieser Stoffe dafür, dass Mutter und Baby nach der Geburt wach und aufmerksam sind.

Auch bei dem langsamer reagierenden Stresshormon Cortisol baut sich während der Geburt ein zehnfach höherer Spiegel als üblich auf. Allem Anschein nach fördert das die Bildung von Rezeptoren für das Stillhormon Prolaktin. Endorphine werden freigesetzt, die es der Mutter erleichtern, Stress und Schmerzen auszuhalten, und eine leichte Bewusstseinsveränderung bewirken. Das führt zu einer Art von Euphorie während der Geburt. Endorphine spielen daneben wohl auch noch die Rolle, die Belohnungszentren im Gehirn von Mutter und Baby vorzubereiten, damit sie beide für Prägung und Bindung gerüstet sind und dafür, zu lernen, wie das Stillen geht. Bei der Mutter stimulieren die Endorphine direkt die Freisetzung von Prolaktin. Prolaktin führt zur Milchproduktion, hat aber noch rund 300 andere Wirkungen im Körper, unter anderem stimuliert es die Synthese von Oxytocin.

Dieses komplexe Gewebe von Einzelwirkungen und sich selbst regulierenden Kreisläufen wird häufig durch medizinische Interventionen bei der Geburt durchbrochen. Zum Beispiel ist ein Problem bei der Epiduralanästhesie, dass ohne Schmerzen der Anstieg von Epinephrin und Norepinephrin ausbleibt. Im Blut der Mutter gibt es weniger von diesen Hormonen, und weniger gehen auf das Baby über, das deshalb nicht gut für die Entbindung vorbereitet ist. Ähnliche Effekte hat man bei Kaiserschnitten festgestellt: Durch Kaiserschnitt geborene Babys haben weniger Stress bei der Geburt, aber sehr viel mehr eine Stunde später. Ein Kaiserschnitt verlangsamt anscheinend den Prozess der Bindung, doch das hängt auch damit zusammen, dass die Mutter sich erst erholen muss. Eine Geburt ist auf jeden Fall ein sehr kompliziertes System, und die meisten Mechanismen hat man bis heute nicht ganz verstanden. In diesen letzten Abschnitten habe ich versucht, Sarah Buckleys 248-Seiten-Werk zu dem Thema zusammenzufassen, in dem sie selbst die Ergebnisse von 1141 Forschungsarbeiten referiert (Buckley 2015).

Corinne sagt mir immer, dass Kinder in einer Art von Starre geboren werden. Sie wachen erst auf, wenn die Nabelschnur durchtrennt ist und ihre Lungen sich mit Sauerstoff füllen. »Bevor das passiert, sind sie anders. Ihre Farbe ist anders. Sie schauen nicht nach außen.« Wenn möglich lassen Hebammen die Nabelschnur drei Minuten pulsieren, damit alles Blut aus der Plazenta herausgezogen wird und in das Baby gelangt. Der erste Atemzug verschließt Löcher im Herzen und verändert den Kreislauf so, dass das Blut nicht mehr durch die Plazenta, sondern durch die Lungen strömt.

Corinne zerstört einen Mythos, bei dem ich mir nie ganz sicher war. Ärzte heben neugeborene Babys nicht an den Füßen hoch, damit ihren Lungen frei werden. Und sie klopfen ihnen auch nicht aufs Gesäß, damit sie zu atmen beginnen.

Nein! Das wäre grausam. Der Vorgang, aus einer Frau herausgepresst zu werden, reicht üblicherweise aus. Wenn nicht, reiben sie das Baby mit einem Krankenhaushandtuch ab oder kitzeln es an den Füßen, um die Atmung in Gang zu bringen. So wie bei anderen Säugetieren die Mutter ihr Neugeborenes ableckt, um es zu stimulieren, dass es die ersten Atemzüge tut.

Von Menschenmüttern wird nicht erwartet, dass sie ihre Babys ab lecken, aber seit 2014 befürworten die meisten Geburtshilfeorganisationen, so auch die American Academy of Pediatrics (AAP) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), explizit frühen Hautkontakt. Früher wurden Babys gleich nach der Geburt weggebracht, um sie zu messen und zu wiegen. Neugeborene blieben auf der Säuglingsstation, und die Mütter bekamen sie nur zum Stillen. Angeblich wollte man damit den Müttern die Erholung von der Geburt erleichtern. Aber inzwischen hat man wiederentdeckt, wie wichtig die Übergangszeit ist. Laut WHO ist »der Prozess der Geburt erst abgeschlossen, wenn das Baby sicher von der Ernährung durch die Plazenta auf die Ernährung durch die Brust umgeschaltet hat«.

Corinne beschreibt das anschaulich: »Nun, wann immer es möglich ist, werden die Babys aus der Mutter heraus auf die Mutter geboren.« Die mütterliche Körpertemperatur steigt um ein bis zwei Grad an, damit das Baby es warm hat, und die Babys bewegen sich instinktiv zur Brust hin und suchen nach der Brustwarze. Sie orientieren sich durch Berührung und Geruch, und manchmal dauert es ein bisschen, bis sie sich auf die Suche machen – sie müssen erst aufwachen. Das ist auch die Gelegenheit, wo das Baby durch die Bakterien der Mutter besiedelt wird, und es hilft der Mutter, sich an die Situation anzupassen. Nach Natalies Erfahrung ist niemand darauf vorbereitet, zum ersten Mal das eigene Baby zu sehen. Es dauert ein bisschen, bis der Eindruck einsinkt, das ist der Beginn der Bindung.

Geburtserfahrungen sind höchst unterschiedlich. Manche Frauen haben ein wunderbares Geburtserlebnis, für andere ist die Geburt ein Albtraum. Ich habe noch niemanden getroffen, der von »Vergnügen« sprach. »Die Freude kommt, wenn man das Baby im Arm hält, das taucht alles in Freude. Aber ich habe noch keine Frau erlebt, die den Vorgang selbst genossen hat«, erzählt Corinne. Wie beim Marathonlaufen kommt auch bei der Geburt die Freude erst, wenn es vorbei ist.

Für Väter oder Partner passieren die größten Veränderungen in der Zeit unmittelbar nach der Geburt. Während der Schwangerschaft war das Baby irgendwie abstrakt, aber jetzt können sie es halten und mit ihm in Kontakt treten. Die Oxytocin- und Prolaktinspiegel der Partner steigen sprunghaft an. Am Ende der ersten Woche kann der Oxytocinspiegel des Vaters genauso hoch sein wie der der Mutter.

Dem emotionalen und hormonellen Hoch, das der Partner erlebt, steht oft ein entsprechender Absturz bei der Mutter gegenüber. Die erste Woche kann sehr schwierig sein. Nach der Geburt gibt es einen hormonellen Einbruch. Die Plazenta signalisiert nicht mehr, dass Schwangerschaftshormone produziert werden sollen, und der Körper versucht, die neunmonatige Schwangerschaft hinter sich zu lassen. In der ersten Woche zu Hause möchte sich der Körper erholen, aber die Mutter bekommt nicht viel Ruhe und Entspannung mit einem Neugeborenen, das sie versorgen und um das sie sich kümmern muss.

Erschöpft und nach einer neunmonatigen Odyssee kann die Rückkehr nach Hause für die Mutter auch enttäuschend sein. Vor allem nach einer schweren Entbindung fühlen sich die Mütter oftmals isoliert. Alles konzentriert sich auf das Baby, und von der Mutter erwartet man, dass sie für alles dankbar ist, während ihre eigene Identität dahinschwindet und sie nicht viel Zeit hat, sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Es ist vollkommen normal, sich direkt nach der Geburt überwältigt und sogar deprimiert zu fühlen. Einer aktuellen Studie zufolge haben 81 Prozent der Frauen während oder nach der Schwangerschaft ein seelisches Problem (Royal College of Obstetricians and Gynaecologists 2017). Die tiefe Liebe zu dem Baby stellt sich nicht schlagartig ein, aber darüber können die Mütter nicht so einfach sprechen.

Hinzu kommt, dass eine frischgebackene Mutter oft alleine 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche für das Baby verantwortlich ist. Wenn etwas passiert, wird sie sich immer Vorwürfe machen. Auf meine entsprechende Frage hat Corinne über diese Zeit erzählt: »In meiner zehnjährigen Berufstätigkeit als Hebamme habe ich bei Hausgeburten in der ersten Woche nie Eltern erlebt, die nicht zutiefst erschüttert wirkten.« Alle Eltern werden beim ersten Kind durch irgendeinen Aspekt überwältigt werden, aber es wird leichter, und es ist völlig in Ordnung, um Hilfe zu bitten.

Allein die Tatsache, dass es das neugeborene Baby gibt, ist äußerst seltsam. Auf einmal ist eine neue Person der Mittelpunkt im Leben der Eltern. Als mein Neffe Tycho geboren wurde, hatte meine Schwester Schwierigkeiten, das Zimmer zu verlassen, in dem er lag. Es war schwer für sie, zu begreifen, dass er eine unabhängige Existenz führte, und sie musste immer wieder nach ihm schauen. Die Geburt ist das Gegenteil des Todes, aber manche Gefühle, die sie auslöst, sind gar nicht so anders als Trauer. Sich auf die Anwesenheit oder Abwesenheit einer wichtigen anderen Person einzustellen ist ein Prozess. Bei Müttern kann ein zweites Kind sogar noch zwiespältigere Gefühle auslösen. Es verändert die Beziehung zum ersten Kind, Mutter und Baby Nummer eins sind nicht länger das unzertrennliche Paar. Mütter können Ärger verspüren über das Verlorene. Wieder gilt: Das ist vollkommen normal, aber es kann schwer sein, darüber zu sprechen.

 

Babys erholen sich schnell von der Geburt. »Babys sind robust«, sagt Corinne. »Ich habe Babys erlebt, die eine wirklich traumatische Geburt hinter sich hatten und sich ziemlich schnell erholten. Ein zusammengequetschter Kopf kann sehr schlimm aussehen. Als ich so etwas zum ersten Mal in meiner Hebammenausbildung gesehen habe, bin ich rausgerannt und habe zwanzig Minuten in der Toilette geweint.«

Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, dass das Trauma der Geburt einen Menschen durch das ganze Leben begleiten kann. Außer in den seltenen Fällen, dass eindeutige medizinische Komplikationen auftreten, ist eine traumatische Geburt nur ein kleiner Rückschlag. Die Wehen und die Geburt sind nur ein Ereignis in der Entwicklung des Babys. Und nicht ein einzelner Augenblick definiert diese Zeit, alle sind wichtig. Obwohl es sich wie eine Achterbahnfahrt anfühlt, geht die Reise insgesamt nach oben.

Hallo, kleines Äffchen

Manche Babys werden mit dünnen schwarzen Haaren am ganzen Körper geboren. Die Haare verschwinden schnell wieder. Ich war für meine Mutter das erste von drei Kindern, und sie war ziemlich zufrieden mit ihrer Leistung (wie ich im Übrigen auch). Aber ich war ein kleines Felltier. In ihrem Wochenbett machte es ihr großen Spaß, die Säuglingsschwestern damit zu schockieren, dass sie sie bat, ihr »das kleine Äffchen« zu bringen.

»Aber Mrs. Addyman, das können Sie doch nicht sagen! Er ist Ihr kleiner Junge!«

»Ja, aber er sieht aus wie ein Affe!«

»Er ist ein wunderschönes Baby.«

»Ein wunderschöner Affe! Geben Sie mir mein Äffchen!«

Und meine Ohren waren vollkommen eingerollt. Als die Säuglingsschwestern erklärten, sie würden sich entrollen, sobald sie mit Blut gefüllt wären, nickte meine Mutter ganz ruhig und sagte: »Ja genau, wie die Flügel eines Schmetterlings.« Ich denke, sie hatten ihr vielleicht zu viel Lachgas gegeben.

Eine Geburt ist schmerzhaft und gefährlich, und das Baby kann unerwartet schnell oder zermürbend spät kommen. Vielleicht gibt es falschen Alarm, und fast immer geht es langsam voran. Die gute Nachricht ist, dass es auch viel schlimmer sein könnte. Verglichen mit unseren Cousins, den Menschenaffen, werden Menschenbabys (mit einer Tragzeit von 280 Tagen) geboren, bevor sie reif sind. Wenn wir den Entwicklungsstand des Gehirns bei einem neugeborenen Schimpansen (253 Tage Tragzeit), einem Gorilla (270 Tage) und einem Orang-Utan (275 Tage) vergleichen, dann müsste ein Menschenbaby nach 625 Tagen im Mutterleib geboren werden, wie ein Forscher errechnet hat. Für jede Mutter, die schon nach neun Monaten das Gefühl hat, gleich zu platzen, ist das ein furchterregender Gedanke. Es wäre tödlich für die Mutter (und würde nebenbei unser an Früchten orientiertes Maßsystem sprengen).

Auch geboren zu werden ist eine große Sache. Aber genau betrachtet erfolgt der Übergang von drinnen zur Welt draußen so allmählich, wie es nur geht. Irgendwann müssen die Babys herauskommen, und Menschenbabys kommen so spät, wie es im Hinblick auf ihre Mütter möglich ist. Wir müssen die sichere Dauerumarmung des Mutterleibs mit ihrer Fünf-Sterne-Vollversorgung mit perfekt regulierter Temperatur und Schallisolierung verlassen und abrupt gegen die Welt draußen eintauschen. Der 24-Stunden-Zimmerservice, der so luxuriös ist, dass sogar das Atmen für das Baby erledigt wird, muss einmal enden.

Die neunmonatige Schwangerschaft bei Menschen ist ein Kompromiss. Ein Baby würde im Mutterleib bleiben, wenn es könnte, aber es muss fliehen, solange es noch geht: das sogenannte Geburtsdilemma. Der Preis dafür ist, dass die ersten drei Monate draußen sich nicht sehr vom Leben drinnen unterscheiden. Das Baby setzt seine intrauterine Routine aus Schlafen, Essen und Wachsen fort.

Ein Grund, warum Babys so früh zur Welt kommen, ist eine Unzulänglichkeit der Natur. Der amerikanische Comedian Penn Jillette drückt es drastischer aus: »Niemand, der gesehen hat, wie ein Baby geboren wird, glaubt noch eine Sekunde an Gott … Die Natur will uns umbringen.« Die Evolution muss mit dem arbeiten, was da ist, und auf dem aufbauen, was früher war, und das führt zu allerhand Improvisation und Kompromissen. Kein intelligenter Designer würde die Geburt so gefährlich machen und versuchen, Babys mit großen Köpfen durch das starre Korsett des Beckens zu pressen. Die Evolution hat das vor vielen Millionen Jahren so entschieden, und wir müssen damit leben. Bei Vierbeinern mit kleinen Köpfen hat es funktioniert. Sogar unsere engsten Verwandten, die Schimpansen, kommen ziemlich gut damit zurecht.

Die Energie, die eine Mutter für die Schwangerschaft aufbringen muss, ist eine weitere Beschränkung. Immer größer zu werden und ein großes Gehirn zu versorgen sind Vorgänge, die viel Energie verbrauchen. In jüngster Zeit wurde die Theorie aufgestellt, wenn Föten noch größer würden und die Schwangerschaft noch länger dauerte, könnte die Mutter nicht genug Energie für sich selbst und ihr Baby zur Verfügung stellen (Dunsworth, Warrener, Deacon, Ellison und Pontzer 2012). Über das Stillen kann Energie viel effizienter zugeführt werden als über die Plazenta, weil die Kalorien direkt in das Kind gelangen. Es ist sinnvoll, die Kinder zu dem Zeitpunkt zur Welt zu bringen, an dem wir es tun.

Soziale Wesen von Anfang an?

Hilflos und zu früh geboren sind Menschenbabys wie keine andere Spezies von ihren Eltern abhängig. Aber sie haben ein paar Tricks in ihren winzig kleinen Ärmeln, damit es mit der Bindung klappt. In den ersten Stunden nach der Geburt sind Babys wach und können kommunizieren. Sie mögen es, wenn man sie hält und leise mit ihnen spricht. Es scheint sogar, als würden sie das Gesicht ihrer Mutter anschauen, die sie hält. Aus zwei Gründen ist das bemerkenswert. Erstens sehen sie nach der Geburt so unscharf, dass ein Gesicht für sie nicht viel mehr ist als ein Dreieck mit drei schwarzen Flecken für Augen und Nase. Zweitens haben sie nie zuvor ein Gesicht gesehen, trotzdem fasziniert es sie mehr als jeder andere Reiz.

Wissenschaftlich wurde das erstmals in den 1970er-Jahren nachgewiesen (Goren, Sarty und Wu 1975), aber bis 1991 blieb die Erkenntnis unbeachtet. Dann wiederholten zwei britische Forscher das Experiment. Mark Johnson und sein Mitarbeiter John Morton bestätigten das ursprüngliche Ergebnis und lieferten eine Erklärung für das, was da wohl passierte (Johnson, Dziurawiec, Ellis und Morton 1991; Johnson und Morton 1991). Sie glauben, dass es um die Interaktion von zwei Gehirnsystemen geht, einem für Erkennen und einem für Lernen.

Sie hatten die Studie in Angriff genommen, weil Mark Johnson wissen wollte, ob Menschenbabys sich von frisch geschlüpften Küken unterscheiden. Zu Beginn seiner Karriere als Biologe arbeitete Johnson bei Professor Gabriel Horn an der Cambridge University. Gemeinsam untersuchten sie die Gehirnmechanismen, die der Prägung zugrunde liegen, dem Prozess, bei dem kleine Vögel lernen, eine Bindung an ihre Mütter herzustellen. Küken folgen ihrer Mutter oder allem, was entfernt wie ihre Mutter aussieht. Das weiß jeder, der schon mal eine Schar Entenküken beobachtet hat, die der Entenmutter hinterhermarschieren. Erstmals untersucht hat die Prägung Konrad Lorenz in den 1930er-Jahren. Er brachte Gänseküken dazu, ihm hinterherzulaufen, wenn er mit seinen Gummistiefeln vorausging. Dafür bekam er den Nobelpreis. Ich glaube, die nobelpreisgekrönten Gummistiefel sind in dem Museum zu besichtigen, das in seinem ehemaligen Wohnhaus im österreichischen Altenberg eingerichtet wurde. Wie bei Iwan Pawlow und seinem Nobelpreis für das Füttern von Hunden steckte auch hinter Lorenz’ Forschungen mehr, als der erste Blick vermuten lässt.

Lorenz teilte sich 1973 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin mit Niko Tinbergen und Karl von Frisch. Mit dem Preis wurde ihre Rolle als Begründer der Ethologie, der Verhaltensforschung bei Tieren, gewürdigt. Karl von Frisch ist bekannt durch seine Entdeckung des Schwänzeltanzes der Bienen. Niko Tinbergen untersuchte wie Lorenz instinktive Verhaltensweisen und kritische Phasen in der Entwicklung von Tieren. Die Küken, die ihrer Mutter folgten, zeigten, dass bestimmte Verhaltensweisen von Natur aus angelegt sind, aber dass sie auch einem Paar Gummistiefel nachliefen, beweist, dass der Mechanismus flexibel ist. Der entscheidende Punkt bei diesen Forschungen war, dass sie evolutionäre Erklärungen für tierisches Verhalten lieferten, die auf dessen Bedeutung für das Überleben basierten.

Immer wieder werden die Leser in diesem Buch auf die »Nature-Nurture-Debatte« stoßen, auf den Gedanken, dass manche Fähigkeiten angeboren (nature) und andere erlernt sind (nurture). Jeder, der sich mit Entwicklungspsychologie beschäftigt, erkennt an, dass beides eine Rolle spielt, aber dennoch gibt es eine Kluft zwischen denen, die meinen, die Gene seien für das meiste verantwortlich, und den anderen, die den größten Anteil beim Lernen sehen. Die Arbeit von Johnson und Morton war wichtig als Beleg dafür, dass wir immer von »Natur plus Lernen« sprechen sollten.

Was die Fähigkeit von Neugeborenen angeht, Gesichtern zu folgen, hat die Natur zwei Gehirnsysteme ausgewählt: einen Kreislauf tief im Innern des Gehirns, der sich rasch auf Muster ausrichtet, die Gesichtern ähneln, und den allgemeineren, höherrangigen Kortex, der aus allem lernt, was er zu sehen bekommt. Dieses Lernen ist nurture. Weil Babys viele Gesichter sehen, werden sie Experten für Gesichter. Sie lernen, Personen zu unterscheiden und männliche Gesichter von weiblichen. Weil sie ihre Eltern häufiger sehen als alle anderen, erkennen sie sie am schnellsten. Dabei spielen Gene, Umwelt und Verhalten zusammen. Johnson und Morton legten mit ihrer Theorie eine mechanistische Darstellung dieses Zusammenspiels vor. Johnson nennt den Prozess »interaktive Spezialisierung« und entwickelte die Theorie zusammen mit Kollegen in einem sehr einflussreichen Buch mit dem Titel Rethinking Innateness weiter (Elman u. a. 1996).

Dieses Experiment war auch direkt dafür verantwortlich, dass ich mich der Babywissenschaft verschrieb. Aufgrund dieser Forschungen stellte die Birkbeck University in London Mark Johnson 1998 als Professor an und schlug ihm vor, das Centre for Brain and Cognitive Development zu gründen, auch bekannt als Birkbeck Babylab. Als einen der ersten Mitarbeiter rekrutierte er meinen Doktorvater Denis Mareschal, dessen Anfängervorlesungen über die kindliche Entwicklung mich auf das Forschungsgebiet gelockt hatten. Auf Mareschals Empfehlung hin las ich Rethinking Innateness, und von da an wollte ich auch Babyforscher werden.