Das lachende Baby

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Die Frucht des Leibes

In den nächsten beiden Wochen verdoppelt sich der Embryo bis zur Größe einer Heidelbeere, und dann verdoppelt er sich noch einmal bis zur Größe einer Himbeere (an Früchten und Gemüse orientierte Maßeinheiten scheinen der Standard in allen Babybüchern zu sein, die jemals geschrieben wurden). Um die 10. oder 11. Woche herum hat die kleine Erdbeere regelmäßige Schlaf- und Wachphasen. Die meiste Zeit ist der Mutterleib ein Schlafzimmer. Während der Schwangerschaft verbringt der Fötus über 90 Prozent seiner Zeit schlafend. Die Schlafphasen dauern rund 40 Minuten, es folgen wenige Minuten Aktivität, die im Lauf der Zeit mehr werden. Im Erdbeerstadium sind die Bewegungen minimal, aber eindeutig anstrengend, denn ab der 11. Woche kann man beobachten, dass der Embryo im Mutterleib gähnt (Joseph 2000).

Die 13. Woche ist das Pfirsichstadium, und eine gute Zeit beginnt. Das erste Trimester ist vorbei, ein Drittel der Schwangerschaft geschafft, der Embryo hat sich so weit entwickelt, dass wir ihn von nun an als Fötus bezeichnen. Die ersten willkürlichen Bewegungen kommen um die 16. Woche vor, wenn der Fötus ungefähr 11,5 Zentimeter groß ist, so groß wie eine Avocado. In den Wachphasen macht der Fötus Turnübungen. Jetzt ist er eindeutig als Mensch erkennbar mit einem großen runden Kopf und winzig kleinen Fingern und Zehen.

Die fötale Entwicklung ist nicht einfach nur der Prozess, der von einem heidelbeergroßen Klumpen zu einem munteren Baby führt. Die stetige Verwandlung in dieser Zeit ist nicht weniger dramatisch als die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling. Es teilen und vermehren sich nicht einfach Zellen, sondern ihre Funktionen verändern sich, sie wandern im Körper an unterschiedliche Stellen, wo sie unterschiedliche Rollen erfüllen. Die Heidelbeere hat noch kiemenartige Strukturen, aus denen der Kiefer wird, und einen Schwanz, aus dem das Steißbein wird. Die meisten inneren Organe sind erst in der 20. Woche voll ausgebildet, und Nervenzellen wandern und verbinden sich noch nach der Geburt.

Wie bereits gesagt, wird die werdende Mutter die ersten Regungen irgendwann zwischen der 16. und der 20. Woche spüren (Avocado bis kleine Banane). In der Zeit findet üblicherweise die zweite Basis-Ultraschalluntersuchung statt. Der Arzt oder die Ärztin schaut sich den Fötus genau an, ob sich alles so entwickelt wie erwartet. Auf modernen Ultraschallbildern kann man das Geschlecht des Kindes erkennen, wenn man weiß, wonach man suchen muss. Wahrscheinlich schläft der Fötus während der Untersuchung, aber wenn er sich bewegt, kann es eine hübsche Überraschung geben. Im März 2015 gingen Jen Hazel und ihr Ehemann zur Ultraschalluntersuchung in der 14. Woche zu ihrem Arzt in Olympia im Bundesstaat Washington. Während der Untersuchung klatschte der Fötus – ein Mädchen – in die Hände. Jen schildert die Szene:

Wir kamen zum Ultraschall, und das Baby auf dem Monitor klatschte dreimal in die Hände. Ohne Musik, einfach so. Und mein Arzt sagte: »Singen wir doch mal was.« Mein Mann hielt seine Videokamera bereit, und der Arzt zeigte die Ultraschall aufnahme noch mal mit dem dreimal Klatschen, und wir sangen dazu: »If you’re happy and you know it [clap your hands]

Sie singen nicht besonders gut – Jen muss zu sehr lachen, und ihr Mann ist offensichtlich nicht textsicher –, aber es ist ein herrliches Video. Nachdem sie es auf YouTube hochgeladen hatten, verbreitete es sich verständlicherweise viral. Bis zu dem Zeitpunkt, da ich das hier schreibe, hat es zwölf Millionen Klicks bekommen.

Kann ein 14 Wochen alter Fötus glücklich sein? Damit sind wir beim Kern dessen, um was es in diesem Kapitel geht. Gibt es eine Zeit vor dem Lächeln? Wann fangen Glücklichsein und Zufriedenheit an? Gibt es beides von Anfang an, oder beginnen die Emotionen erst irgendwann nach der Geburt? Jens Tochter Pip kam ohne Probleme und gesund zur Welt. Sie ist ein glückliches, verspieltes Baby und liebt Musik immer noch. Aber wie sah es aus, als Pip ein zitronengroßer Fötus von 14 Wochen war? War sie glücklich, und wusste sie es? Konnte sie es wissen? Eine einzelne befruchtete Eizelle, eine Zygote, weiß nichts von Glück und kann es nicht zeigen, genauso wenig der kleine Zellklumpen in der Blastozyste oder auch der gähnende erdbeergroße Embryo. Aufgrund vieler Erzählungen von Eltern in meiner Studie zu lachenden Babys glaube ich fest, dass ein erst wenige Wochen altes Baby echte Zufriedenheit zeigen kann. Aber wann geht es los? Wann ist ein Lächeln wirklich ein Lächeln?

Es gibt keine Untersuchungen über Freude bei Föten. Tatsächlich wüsste man nicht, wo man anfangen sollte. Aber Schmerz bei Föten ist ein guter Wegweiser zu Freude. Freude und Schmerz laufen über ähnliche Schaltkreise, und es gibt immer mehr Hinweise, dass ein Fötus am Ende des zweiten Schwangerschaftsdrittels, ungefähr in der 24. oder 25. Woche nach der Empfängnis, rudimentäre Schmerzempfindungen hat. Das Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) veröffentlichte 2010 eine detaillierte Studie, in der alle verfügbaren Hinweise diskutiert wurden. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass ein Fötus vor der 24. Woche keinen Schmerz empfinden kann (RCOB 2010).

Damit jemand Schmerz fühlen kann, müssen Nervensignale des unangenehmen Reizes zu einem Kortex gelangen, der sie verarbeiten kann. Wenn das Signal irgendwo aus dem Körper das Gehirn nicht erreicht, spüren wir nur eine dumpfe Empfindung. So funktioniert eine Lokalanästhesie: Sie blockiert die Nervensignale an der Quelle. Wenn die Signale den Hirnstamm und das Zwischenhirn erreichen, aber nicht an den Kortex weitergeleitet werden, spüren wir nichts. So wirkt eine Vollnarkose: Alle Signale vom Hirnstamm an den Kortex werden blockiert.

Vor der 24. Woche kann ein Fötus Schmerz nicht empfinden, weil noch nicht alle Verbindungen im Gehirn ausgebildet sind. Vor allem der Thalamus, eine Art Verbindungsstück zwischen Gehirn und Körper, ist noch nicht richtig mit dem Kortex (dem Teil mit den Falten und Rillen, der denkt) verschaltet. Das ist nicht allzu überraschend, wenn man bedenkt, wie kompliziert das Gehirn ist und wie aufwendig die Verschaltung. Jeder Teil muss mit jedem anderen Teil kommunizieren, und die Verbindungen sind lange, schlauchförmige Fortsätze von Gehirnzellen, die sogenannten Axone. Um eine Stelle mit einer anderen zu verbinden, müssen die Zellen in einem Bereich entstehen und zu dem anderen migrieren, dabei ziehen sie den Fortsatz hinter sich her.

Wie man sich vorstellen kann, ist das kompliziert, und die Verschaltung kann erst stattfinden, wenn es etwas gibt, mit dem sich die Nervenzellen verbinden können. Der Thalamus und der Kortex, ursprünglich die kortikale Platte oder Rindenplatte, wachsen unabhängig voneinander. Eine weitere Gruppe von Zellen entwickelt sich in der sogenannten Subplate unterhalb des Kortex. Von der 12. bis zur 18. Woche gelangen Verbindungen vom Zwischenhirn in die Sub plate und warten dort ab, während die kortikale Platte reift. Um die 24. Schwangerschaftswoche beginnen sie ihre Wanderung, um sich mit allen Bereichen des Kortex zu verbinden, ein Prozess, der bis zur 32. Schwangerschaftswoche weitergeht. Ebenfalls um die 24. Woche migrieren die Nervenzellen der Subplate-Zone selbst in verschiedene Bereiche des Kortex und verbinden diese miteinander. Beide Prozesse sind wichtig für das Schmerzempfinden. Ein 18 Wochen alter Fötus zuckt vor einem Nadelstich zurück und setzt sogar Stresshormone frei, aber er spürt den Schmerz nicht. Die Signale erreichen das Zwischenhirn und möglicherweise die Subplate-Zone, aber weiter kommen sie nicht. Das reflexhafte Zurückzucken und die Hormonfreisetzung gehen vom Hirnstamm aus.

Ab der 24. Woche gelangen Nervensignale allmählich bis zum Kortex. Die Aufzeichnung von Gehirnströmen bei sehr unreifen Frühgeborenen zeigt ab diesem Zeitpunkt koordinierte neuronale Aktivität als Reaktion auf einen Pieks in die Ferse. Das ist die vom RCGO formulierte Untergrenze für das Schmerzempfinden. Aber wie die Ärzte in ihrem Bericht schreiben, ist das zwar das theoretische Mindestalter, in dem Schmerz empfunden werden kann, aber das Bewusstsein dafür kommt womöglich erst später. Die Aktivität im Elektroenzephalogramm (EEG) ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht kontinuierlich wie bei einem Erwachsenen oder einem Neugeborenen. Es ist nicht klar, wann Schmerz wahrgenommen wird und ob die Erfahrung ein Bewusstsein braucht, das erst noch kommen muss.

Ab der 24. Woche beginnt sich das Gehirn ernsthaft zu vernetzen. Der sensorische Input durch Hören, Sehen und Berührung dringt zu den entsprechenden Bereichen des Kortex durch. Wechselseitige Verknüpfungen von Kortex und Hirnstamm entstehen ab der 26. Woche. Feedbackschleifen bilden sich, und die Föten können beginnen, willentliche Kontrolle über ihre kleine Welt im Mutterleib auszuüben. Sie hören, fühlen und sehen sogar Dinge, und sie fangen an zu lernen.

Es ist unwahrscheinlich, dass ein Fötus vor diesem Zeitpunkt etwas wahrnimmt. Aber im dritten Trimester nimmt er erstaunlich viel auf. In Untersuchungen zu Veränderungen der fötalen Herzfrequenz hat man festgestellt, dass ein Fötus ab der 26. Woche auf wiederkehrende Vibrationen reagiert und lernen kann, sie zu ignorieren. Er re agiert auch auf Veränderungen der Beleuchtung außerhalb des Mutterleibs, hört die Stimme der Mutter und spürt ihre Berührung durch die Bauchwand (Marx und Nagy 2015).

Meine liebste Untersuchung dazu ist die von Peter Hepper von der Queen’s University in Belfast (Hepper 1991). Er testete Neugeborene im Alter von zwei bis vier Tagen, um zu sehen, wie sie auf Musik reagierten, die sie im Mutterleib gehört hatten. Dabei machte er sich die Tatsache zunutze, dass viele Mütter Seifenopern anschauten. Die Hälfte seiner Stichprobe waren Fans der Serie Neighbours, die andere Hälfte nicht. Das bedeutete, dass die Hälfte der Babys im Mutterleib viele Male die eingängige Titelmelodie gehört hatte. Als er sie den beiden Gruppen auf der Säuglingsstation vorspielte, nahmen die Bewegungen und der Herzschlag bei den Babys, deren Mütter Neighbours gesehen hatte, im Vergleich zur Kontrollgruppe ab, sie schienen aufmerksam zu lauschen. Um auszuschließen, dass sie nicht einfach auf beliebige Musik reagierten, spielte er ihnen die Titelmelodie von Coronation Street vor, und es gab keine Reaktion. Ein zweites Experiment erbrachte ähnliche Ergebnisse, aber diesmal bekamen die Babys die Melodien noch im Mutterleib zu hören, über Kopfhörer auf dem Bauch der Mütter. Hepper schreibt, den Babys sei nicht nur die Musik vertraut geworden, sondern sie hätten sie auch mit dem ruhigen, entspannten Zustand in Verbindung gebracht, in den die Mutter beim Anschauen der Serie geraten sei.

 

Eine verblüffende Erkenntnis aus all diesen Studien ist, dass es anscheinend keine Rolle spielt, ob der Fötus aktiv ist oder »schläft«. Wie gesagt, ein Fötus ist nur 10 Prozent der Zeit aktiv, und die Phasen der Aktivität sind ein traumähnlicher Zustand, der kaum mit dem wachen Interesse eines neugeborenen Babys vergleichbar ist. Einige Forscher gehen sogar so weit zu sagen, der Fötus verbringe die gesamte Schwangerschaft in einem tiefen Schlaf. Der Bewusstseinsexperte Christof Koch schrieb in Scientific American:

Ich wette, dass der Fötus in utero nichts wahrnimmt; dass es sich für ihn so anfühlt wie für uns ein tiefer, traumloser Schlaf. Durch die dramatischen Ereignisse bei einer natürlichen (vaginalen) Geburt wacht das Gehirn jedoch abrupt auf. Der Fötus muss seine paradiesische Existenz in der geschützten, wassergefüllten und warmen Umgebung des Mutterleibs verlassen und gelangt in eine feindliche, luftgefüllte und kalte Welt, die seine Sinne mit absolut fremden Tönen, Gerüchen und Anblicken attackiert – ein höchst stressreicher Vorgang (Koch 2009).

Das ist ein sehr lebendiges Bild, aber ich bin nicht der Meinung, dass das Leben im Mutterleib in einem so sedierten Zustand stattfindet. Die Veränderungen der kindlichen Herzfrequenz in unterschied lichen Studien sprechen dafür, dass sie auf Ereignisse um sie herum reagieren, und ich denke, manche Eindrücke können dem Fötus sogar Vergnügen bereiten. Anekdotische Berichte von Babys, die auf Ultraschallbildern lächelten, gibt es seit 2000, seit die Auflösung der Bilder so gut ist, dass man Gesichtsausdrücke erkennen kann. Die Psychologin Nadja Reissland und ihre Kollegen von der University of Durham haben solche Bilder systematisch untersucht und dabei sieben fötale Gesichtsausdrücke unterschieden. Sie bestätigen, dass sowohl Weinen wie Lachen im Mutterleib »geübt« werden (Reissland, Francis, Mason und Lincoln 2011).

Reisslands Team nutzte moderne »4D«-Ultraschallaufnahmen mit hoher räumlicher und Tiefenauflösung in Echtzeit und untersuchte zwei Föten mehrfach zwischen der 24. und der 35. Woche. Jedes Mal zeichneten sie zehn Minuten lang den Gesichtsausdruck auf, und was sie sahen, klassifizierten sie mit einem Standardcodierungssystem, um objektive Aussagen zu erhalten. Gesichtsausdrücke können in ihre Mikro-Bestandteile zerlegt werden (gekräuselte Lippen oder angehobene Backen). Das Codierungsschema für sehr kleine Babys wurde angepasst, sodass man Ausdrücke definieren konnte, die ein »weinendes Gesicht« oder ein »lachendes Gesicht« ergaben. Manche wie eine gekrauste Nase gehörten zu beiden Gesichtern. Andere definierten nur Lachen (herausgestreckte Zunge und zurückgezogene Lippen) oder Weinen (heruntergezogene Oberlippe und gerunzelte Augenbrauen). Bei der Kombination der Daten von beiden Föten (zwei Mädchen) stellten die Wissenschaftler fest, dass der weinende Gesichtsausdruck in der Zeit zwischen der 24. und der 35. Schwangerschaftswoche von 0 Prozent auf 42 Prozent zunahm und der lachende von 0 Prozent auf 35 Prozent. Ein fröhlicher Gesichtsausdruck war genauso häufig wie ein kummervoller, und beide tauchen nach und nach auf, wenn der Fötus immer mehr Bewusstsein erlangt. Aus der Sicht des Babys gibt es keine Zeit vor dem Lächeln.

Deshalb sage ich auf entsprechende Fragen, dass Grimassen und Lächeln von Kindern in utero ab der 25. Woche etwas bedeuten. Ich glaube, da beginnt das fötale Bewusstsein für Freude und Schmerz. Das unterscheidet sich kaum von der Grenze von 24 Wochen im Bericht der britischen Geburtshelfer. Aber ich persönlich ziehe die 25. Woche vor, wenn der Fötus nach der universellen Obst- und Ge müse skala so groß wie eine Aubergine ist.

Eine frühere Freundin von mir, Belinda, sagte immer, die weiche und elastische Haut von Auberginen erinnere sie an die pummeligen Ärmchen, Beinchen und Bäuche von Babys. Im Supermarkt konnte sie nicht widerstehen und musste immer die Auberginen drücken. Als ich meine Arbeit mit Babys begann, fragte sie mich häufig: »Wie geht es den Auberginen?« Es wurde unser geheimes Codewort. Vor ein paar Jahren, als Belinda mit ihrer Tochter Rosie schwanger war, bekam ich eine glückselige SMS von ihr, in der sie mir mitteilte, die Schwangerschafts-App auf ihrem Smartphone habe sie informiert, dass nach 25 Wochen ihre Blaubeere die nächste Stufe erklommen habe und sie nun ihre eigene kleine Aubergine im Bauch trage.


Kapitel zwei
Alles Gute zum Geburtstag

Neugeborene Babys schreien, weil ihre Eltern sich nicht die Mühe gemacht haben, »Happy Birthday« für sie zu singen.

Anonymes Posting im Internet

Sie erinnern sich nicht an Ihren nullten Geburtstag, aber Ihre Mutter erinnert sich ganz sicher daran. In den letzten Monaten der Schwangerschaft brauchte sie keine Smartphone-App, um zu wissen, dass ihr Baby von einer hübschen kleinen Aubergine erst zu einer Honigmelone, dann zu einer Netzmelone und schließlich zu einer verdammten Wassermelone herangewachsen war. Neun Monate lang hatte sie sich diesen Tag ausgemalt. Die Tasche für die Party war schon seit Wochen gepackt. Vielleicht hatte es ein paar Fehlalarme gegeben. Aber dann war es endlich so weit.

Nun, fast so weit: Babys beeilen sich nicht gern bei ihrem großen Auftritt, auch der Körper der Mutter mag das nicht. Bei einer Erstgebärenden dauert eine normale Geburt etwa acht Stunden, und die Vorgänge laufen weitgehend automatisch ab. Das wichtigste Merkmal der Wehen sind regelmäßige, koordinierte Kontraktionen der Uterusmuskulatur, die wie beim Herz von Schrittmacherzellen kontrolliert werden. Häufigkeit und Intensität der Kontraktionen nehmen nach und nach zu, und der Abstand zwischen ihnen verringert sich von zehn Minuten am Anfang auf zwei Minuten am Schluss.

Wenn es keine medizinischen Komplikationen gibt, nimmt die Natur ihren Lauf. Aber die Natur kann Angst einflößend und tödlich sein. Von Philippa Gregory, Autorin historischer Romane, stammt der denkwürdige Satz: »Männer sterben im Krieg, Frauen bei der Geburt.« In der Vergangenheit hatten Mütter ein Risiko von eins zu hundert, bei oder nach der Geburt zu sterben. Und in manchen Teilen der Welt ist es immer noch so schlimm oder sogar schlimmer. Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2015 betrug das Risiko für ein 15-jähriges Mädchen in Afrika, im Lauf ihres Lebens an einem Problem im Zusammenhang mit der Mutterschaft zu sterben, 1 zu 37. In Europa liegt dieses Verhältnis bei 1 zu 3400.

Babys sind noch schlechter dran. Weltweit kommt eines von 45 Kindern tot zur Welt. Und von den übrigen erleben 49 von 1000 ihren ersten Geburtstag nicht. Der Gesundheitsstatistiker Hans Rosling hat darauf hingewiesen, dass Mütter und Kleinkinder die verletzlichsten und am wenigsten sichtbaren Opfer von Kriegen, Hungersnöten und anderen humanitären Krisen sind. Der größte Gewinn für die Gesundheit der Menschheit wäre eine bessere Versorgung junger Mütter und ihrer Babys.

Im Allgemeinen Krankenhaus in Wien gab es in den 1840er-Jahren zwei Abteilungen für Geburtshilfe, die 1. Geburtshilfliche Klinik und die 2. Geburtshilfliche Klinik. Die Frauen wurden tageweise wechselnd in die eine oder andere Klinik aufgenommen. In der 1. Klinik kümmerten sich Medizinstudenten um die Gebärenden, in der 2. Klinik Hebammen. Frauen, die in die 1. Klinik aufgenommen wurden, baten inständig darum, in die 2. Klinik zu kommen, denn nach allgemeiner Auffassung lag auf der 1. Klinik ein Fluch. Die Daten aus den Jahren 1842 bis 1846 zeigten es eindeutig: In der Hebammenklinik war die Zahl der Todesfälle um 60 Prozent geringer. Ein junger Arzt namens Ignaz Semmelweis wurde damit beauftragt, das zu untersuchen. Er stellte keine Unterschiede bei den Kliniken an sich und bei den Entbindungsverfahren fest. Aber er machte den für die damalige Zeit ungewöhnlichen Vorschlag, die Medizinstudenten sollten ihre Hände mit stark gechlortem Wasser waschen. Als sie das taten, ging die Sterblichkeit in der 1. Klinik auf das Niveau der 2. Klinik zurück. Die Medizinstudenten waren oft direkt von Sektionen in ihren Anatomiekursen in die Entbindungsabteilung gekommen. Manchmal wuschen sie sich die Hände, aber nicht immer, und auf jeden Fall desinfizierten sie sie nicht, warum sollten sie? Es gab keinen Grund. Erst Jahrzehnte später bewiesen Louis Pasteur und Joseph Lister die Theorie, dass Krankheiten durch Keime verursacht werden.

Semmelweis informierte seine Vorgesetzten über das, was er her ausgefunden hatte. Er konnte nicht erklären, warum das Händewaschen half, deshalb folgten sie seinen Empfehlungen nicht. Kurz dar auf wurde er entlassen und kehrte in sein Heimatland Ungarn zurück. In den Krankenhäusern, in denen er arbeitete, gab es ähn liche Verbesserungen, doch seine neuen Kollegen wollten seine Methoden ebenfalls nicht übernehmen. Zwanzig Jahre lang führte er eine immer gereiztere Korrespondenz mit dem medizinischen Establishment in Europa, das ihn weitgehend ignorierte. 1865 starb er besiegt und gebrochen in einer Nervenheilanstalt. Im englischen Sprachraum bezeichnet der Begriff »Semmelweis-Reflex« die Ablehnung einer neuen Erkenntnis, wenn sie bestehenden Überzeugungen oder etablierten Paradigmen widerspricht.

Erstaunlicherweise könnte heute im Westen, wo es überall Zugang zu fortschrittlichen medizinischen Dienstleistungen gibt, die Lösung, wie Geburten sicherer werden könnten, ebenfalls in mehr Hebammen und weniger Ärzten bestehen. Diese Empfehlung sprachen zumindest Mary Newburn, Leiterin der politischen Abteilung des National Childbirth Trust, und ihre Kollegen in einem einflussreichen Bericht aus, der im British Medical Journal veröffentlicht wurde (Johanson, Newburn und Macfarlane 2002). Sie argumentierten, die ganze Kultur rund um die Geburt müsse sich so verändern, dass »die Geburt als ein normaler physiologischer Vorgang« wahrgenommen werde, und man müsse ein »Eins-zu-eins-Verhältnis in der Betreuung während der Wehen anstreben«. Dass medizinisches Personal während der Geburt bereitsteht, ist wichtig, aber medizinisches Personal tendiert dazu, alles zu medikalisieren. In Finnland, wo die Geburt als normaler physiologischer Vorgang behandelt wird, erfolgen 11 Prozent der Entbindungen per Kaiserschnitt. In Großbritannien sind es 25 Prozent, in den Vereinigten Staaten 35 Prozent, in Deutschland fast jedes dritte Kind. Die geschätzte medizinische Notwendigkeit liegt bei 5 bis 10 Prozent. Weil die Ärzte Angst vor Prozessen haben und auf Nummer sicher gehen wollen, werden sie immer neue Tests und sogar überflüssige Operationen durchführen. Und das ist noch nicht alles.

Wenn den Müttern die Geburt als ein medizinisches Problem dargestellt wird, das behandelt werden muss, dann verlangen sie logischerweise mehr Behandlung. Sie haben mehr Angst vor der Geburt. Sie wollen mehr Rückenmarksanästhesien und Schmerzmittel. In einem medizinischen Umfeld ordnen sich die Hebammen den Medizinern unter. Selbst die Geburtshelfer sind der Meinung, dass sie viel zu sehr auf medizinische Verfahren setzen. Wenn die Geburt als ein natürlicher physiologischer Vorgang betrachtet wird, sind die Ergebnisse für Mutter und Baby besser und die Mütter haben ein angenehmeres Geburtserlebnis. Der Bericht empfahl, so oft wie möglich sollten Hebammen die Geburt leiten und nicht Ärzte. Sie sollte in einem nicht-medizinischen Rahmen stattfinden, und die Mütter sollten ihre Hebammen vorher kennenlernen und ein Vertrauensverhältnis aufbauen können.

Ich habe mit zwei befreundeten Hebammen über ihre Rolle gesprochen, um einen besseren Eindruck von der Geburt zu bekommen. Corinne ist energiegeladen und resolut, nicht medizinisch orientiert und matronenhaft. Man würde eher erwarten, sie bei einer Demonstration gegen Ungerechtigkeit zu treffen als in einem Krankenhausflur. Womöglich haben wir uns tatsächlich da zum ersten Mal gesehen. Seit zehn Jahren »holt« Corinne Babys. Natalie ist klein, strahlend und wirkt immer noch ein bisschen holländisch, obwohl sie seit fast zwei Jahrzehnten in London lebt. Wir lernten uns vor 16 Jahren am ersten Tag unseres Psychologiestudiums kennen. Ich erinnere mich, dass sie immer als Erste ihre Studienarbeiten ablieferte und all die Praktikumsberichte schrieb, für die ich nie Zeit fand. Natalie lief zum Spaß Marathon, ein Hobby, das ich damals nicht verstand. Aber wahrscheinlich bereitet einen das gut auf die Aufgaben einer Hebamme vor.

 

Das Wort »Hebamme« kommt vom althochdeutschen »Hevianna« und bezeichnet »die Ahnin, die das Neugeborene hält«. Wie Corinne sagt, ist die Rolle der Hebamme so alt wie die Menschheit. Denn zumindest seit wir aufrecht gehen, brauchen wir Hebammen. Durch den Übergang von vier Beinen auf zwei Beine hat sich unser Becken verändert, der Geburtskanal ist enger geworden. Außerdem wurde das Gehirn immer größer, und so benötigen unsere Babys mit den großen Köpfen Hilfe, wenn sie auf die Welt kommen. Zum Glück war der Grund, warum unsere Gehirne so groß wurden, dass wir eine soziale Spezies sind. So war auch Hilfe für Mütter in den Wehen zur Stelle.

Wenn ich Corinne und Natalie frage, was die wichtigste Aufgabe einer Hebamme ist, fallen ihre Antworten ziemlich ähnlich aus: Hebammen unterstützen die Mütter, damit sie das Geburtserlebnis bekommen, das sie haben wollen. Die moderne Geburtshilfe durch Hebammen ruht auf drei Schlüsselprinzipien: informierte Entscheidung, freie Wahl des Geburtsorts und kontinuierliche Betreuung. Am wichtigsten ist die informierte Entscheidung, und das ist mehr als informierte Zustimmung, denn es bedeutet Stärkung der eigenen Stimme und nicht, dass man sich fügt. Hebammen wollen, dass die Mutter das Gefühl der Kontrolle hat. Natalie sagt, in dem Zusammenhang sei es sehr hilfreich, einen Geburtsplan zu erstellen; dann würden die wichtigen Entscheidungen im Voraus getroffen. Das Letzte, was eine Frau in den Wehen gebrauchen kann, ist ein Schwall von Fragen, die sie beantworten soll. Sie kann auf dem Weg begleitet werden, den sie vorab gewählt hat, und die Hebamme wird ihn ihr erleichtern. Wenn ihre eigene Hebamme im entscheidenden Augenblick nicht verfügbar ist, kann sich eine andere Hebamme nach dem Plan richten.

Corinne erklärt, die meiste Zeit während der Wehen »ist es unsere Aufgabe, zuzuschauen und abzuwarten. Zu beobachten. Da zu sein und nichts zu tun. Auf die Bedürfnisse der Frau zu reagieren.« Manche brauchen eine beruhigende Hand, andere wollen lieber allein gelassen werden. Manche brauchen Eiswürfel, die sie zerbeißen können, oder etwas Süßes, damit sie durchhalten. Wenn die Geburt voranschreitet, schlagen die Hebammen der Mutter Optionen vor, statt Entscheidungen zu verlangen. Bei Komplikationen erklärt die beruhigende Stimme der Hebamme der Frau, was passiert und war um.

Wenn etwas die Ruhe unterbricht, kann das die Wehentätigkeit bremsen. Ina May Gaskin, eine Hebammenpionierin in Amerika, der die Wiedereinführung der natürlichen Geburt in den Vereinigten Staaten zugeschrieben wird, hat festgestellt:

Durch Beobachtung und Erfahrung lernten wir, dass die Anwesenheit einer einzigen Person, die sich nicht gut in die Mutter einfühlen kann, die Wehentätigkeit zum Stillstand bringen kann. Alle Frauen sind sensibel. Manche sind sogar extrem feinfühlig. Anhand der Beobachtung, dass die Wehen schwächer wurden oder aufhörten, wenn jemand das Entbindungszimmer betrat, der nicht achtsam mit den Gefühlen der Mutter war, stellten wir fest, dass wir recht hatten. Wenn der Betreffende das Zimmer wieder verließ, ging die Geburt wieder normal weiter (Gaskin 2017, S. 130).

Dieses Prinzip steht auch hinter Hypnobirthing. Manche Frauen erlernen in den letzten Monaten der Schwangerschaft Entspannungs- und Atemtechniken, die sie während der Wehen anwenden können. Sie lernen, sich selbst zu hypnotisieren, aber nicht, um in eine betäubende Trance zu sinken. Bei meiner Schwester Ishbel hat es funktioniert; sie war bei ihrer ersten Geburt so ruhig, dass man sie erst gar nicht im Krankenhaus aufnehmen wollte. Das Personal glaubte nicht, dass die Geburt schon so weit fortgeschritten war, und wollte sie wieder wegschicken. Auf ihre Empfehlung hin hat es meine Auberginen-Freundin Belinda auch versucht, mit ähnlichem Erfolg. Die Idee dabei ist nicht, Ängste und Schmerz zu blockieren, sondern die Frau soll sich der Gegenwart stärker bewusst werden, damit sie sich in der aktuellen Situation entspannen kann, statt sich Sorgen zu machen, was wohl passieren wird. Ruhig und zuversichtlich in die Geburt zu gehen hilft, dass die natürlichen Vorgänge die Frau so weit tragen, wie es möglich ist. Medikamente können später immer noch dazukommen. Das wichtigste Medikament produziert der Körper selbst – Oxytocin.