Sind wir uns wirklich einig?

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Wahnsinn! Der Mauerfall
Von Ilka Wild und Carolin Wilms

Ilka Wild

Pflicht-Demonstrationen sind das Brot- und Buttergeschäft einer sozialistischen Diktatur. So auch in der DDR: Sie hießen „Mai-Demonstration“ oder „Kampf-Demonstration zum Pfingstreffen“ und ihnen war eines gemein: Sie waren super organisiert. Man wusste genau, was einen erwartete. Und: Man musste teilnehmen. Die große Mai-Demonstration war jedes Jahr eine besonders lästige Pflichtübung. Bei meist nasskaltem Frühlingswetter mussten Eltern mit ihren Betrieben ebenso wie Kinder mit ihren Schulklassen stundenlang an Treffpunkten warten oder marschieren, bekamen Trageschilder, Transparente oder Fähnchen in die Hand gedrückt, mit denen sie nicht gegen, sondern für etwas demonstrierten, nämlich für die DDR, ihre führende Partei, ihre Lebensweise. Ich hasste diese Demonstrationen und ließ das Ganze über mich ergehen, da es bei Nichterscheinen ungemütlich werden konnte, der Staat bestand darauf, dass man ihm seine Ergebenheit demonstrierte.

Eine Demonstration der ganz anderen Art erlebte ich erstmals im Herbst 1989. Meine Mutter nahm mich mit. Ich wusste zunächst nicht so genau, wohin es ging. Oder was wir da tun sollen. Aber auf dem Weg von unserer Wohnung in die Innenstadt kamen immer mehr Menschen zusammen, die das gleiche Ziel hatten. Es waren Nachbarn, Bekannte, Menschen, die man aus dem Stadtbild kannte. Keine ausgewiesenen „Dissidenten“, sondern normale Leute. Wie sich später herausstellte, waren an diesem 29. Oktober 1989 auf dem Marktplatz von Gotha 20.000 Menschen versammelt. Die Thüringer Kleinstadt zählte in dieser Zeit knapp 60.000 Einwohner.

Auf der Demo selbst begriff ich lange Zeit nichts. Die Demonstranten waren schlecht ausgestattet, es gab wohl ein paar Transparente, auf Bettlaken und Tapeten standen Sprüche wie „Stasi in die Produktion“ oder „Von Schnitzler in den Ruhestand“. Die Menschen hielten Kerzen in der Hand. Geleitet und moderiert vom evangelischen Theologen Eckardt Hoffmann aus der Gothaer Augustinerkirche fand ein „Dialog“ statt: Bürger der Stadt stellten den Parteifunktionären der Stadt kritische Fragen und drangen auf Veränderung. Die hilflosen Sprechblasen der Noch-Elite, allesamt im DDR-Duktus, wurden von den Demonstranten mit Pfiffen und Buh-Rufen quittiert. Mir blieb der Mund offen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Niemals hatte man vor einer so großen Menge von Leuten solch kritische Fragen gestellt, ohne dass sofort etwas passiert wäre. Man konnte die Angst der Menschen spüren, die Fragen stellten, aber auch die Angst derer, die antworten sollten. Es war eine aufgeladene Stimmung. Aber es blieb alles friedlich, was sicher der Moderation von Superintendent Hoffmann zu verdanken war.

Nach der Demo gingen wir nach Hause und fürchteten uns alle ein bisschen davor, dass uns im Nachgang etwas passierte. Aber es geschah: nichts. Bei 20.000 Menschen war wohl selbst die Stasi überfordert.

Carolin Wilms

Wie die Menschen in der DDR erfuhren wir durch das westdeutsche Fernsehen von diesen Demonstrationen: unscharfe Aufnahmen in der Dunkelheit, Transparente und Sprechchöre. Mit meinen 20 Jahren hat sich mir nicht annährend die Brisanz und die Außergewöhnlichkeit dieser Vorgänge erschlossen. Im Westen kannten wir Demos: gegen die Stationierung von Mittelstreckenwaffen, gegen „BAföG-Kahlschlag“, gegen die Atomkraft. Unsere Gesellschaft und unser politisches System waren gewohnt, dass wir unseren Unmut gegen die Politik auch auf der Straße ausdrückten. Dass es in der DDR besonderen Mut erforderte, sich diesen Demonstrationen anzuschließen, daran dachte ich überhaupt nicht, und wenn ich ganz ehrlich bin, es kümmerte mich auch nicht. Damals machte ich meine kaufmännische Ausbildung, musste frühmorgens aufstehen und da ich in der Zeit im Ersatzteillager eingeteilt war, musste ich viel stehen und laufen. Das war ich nicht gewohnt und so schaute ich mir todmüde die Fernsehbilder nur en passant an. Meinen Eltern ging es damit anders: Sie verfolgten die Geschehnisse gebannt und diskutierten, was das für Auswirkungen haben könnte.

Meist wurde aber nur über die Demos in den großen Städten wie Leipzig oder Berlin berichtet. Was das für die Menschen im Einzelnen bedeutete und dass sich auch in der Provinz Widerstand regte, war in der DDR und außerhalb zu diesem Zeitpunkt wenig bekannt.

Und es regte sich einiges, bereits ab Spätsommer 1989. Immer mehr Menschen verließen die DDR, besonders die jungen. Die Kirchen organisierten Friedensgebete und man sah nun viel öffentlicher, wie aktiv sie in der Veränderungsbewegung waren. Viele Menschen, auch normale Leute, wagten sich raus, wollten etwas verändern. Um den Sturz des Staatsapparates ging es damals noch nicht. Der saß vermeintlich noch viel zu sicher im Sattel. Verbreitung von Angst war ein Geschäft, das dieser Staat perfekt beherrschte. So begann das Aufbegehren der Ostdeutschen still und vorsichtig, die Kirchen waren ein guter Hort, da sie dort zumindest etwas Schutz genossen. Aus dieser Position und mit immer mehr Menschen, die sich beteiligten, wuchs der Widerstand, wurde lauter, deutlicher.

Die SED-Funktionäre versuchten noch immer, die Machtposition zu behalten. Besonders die militärischen Staatsorgane, die NVA und die Staatssicherheit, bauten weiterhin Drohkulissen auf. Ich hatte einen Freund, der in den letzten Wochen vor dem Mauerfall seinen Wehrdienst in der Nähe von Berlin leisten musste. Er hatte täglich Angst, zu den Berliner Demos ausrücken zu müssen. Im schlimmsten Fall hätte er auf die eigenen Leute schießen müssen. Er hatte noch monatelang Albträume.

Im Westen kamen immer mehr DDR-Flüchtlinge an und damit auch die Geschichten des Ostens. In den Notaufnahmelagern in Westdeutschland gab es viel Hilfe seitens der Bevölkerung. Viele Ostdeutsche fanden schnell einen Job und waren willkommene Fachkräfte. Wie lange die Zeit der Teilung noch dauern würde, wusste niemand. Wie viele Leute noch kommen würden, auch nicht.

Doch dann endlich und doch völlig unvermutet: der Mauerfall! Wir saßen am 9. November abends tatsächlich vorm Fernseher, als Günter Schabowski vom Blatt ablas, dass die Grenzen geöffnet werden sollten. Und zwar, so Schabowski: „… nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

Dass das Ganze durch Zufall passiert war, dass ihm jemand diesen Zettel untergeschoben hatte, kam erst viel später heraus.

In Reportgen aus dieser Zeit, in der Ostdeutsche gleich nach der Maueröffnung etwas in die Kameras sagten, fällt fast immer das Wort „Wahnsinn“.

„Wahnsinn!“ – für mich das Wort des Jahres 1989. Das Wort kommt aus dem Mittelhochdeutschen, die Urform „wan“ bedeutet „leer, fehlend“. 1989 fehlten die Worte für das, was passiert war. Das Wort „Wahnsinn“ drückte für viele aus, was kaum auszudrücken war. Überraschung. Erleichterung. Freude. Erwartung. Man hörte es immer wieder. Wahnsinn.

Als die Mauer fiel, lag ich schon im Bett. Meine Mutter kam in mein Zimmer und berichtete mit tränenerstickter Stimme, was sie soeben im Fernsehen erfahren hatte. Ich glaube, dass ich nicht einmal aufgestanden bin, um mir die Bilder dieses historischen Moments im Fernsehen selbst anzuschauen. Scheinbar ging ich davon aus, dass dieses Ereignis nichts in meinem Leben ändern würde. Während in Berlin der Bär los war, schlief ich ein.

Bereits am 9. November machten sich DDR-Bürger auf den Weg in den Westen, einfach um mal zu sehen, wie es dort ist. Ungefähr 10 Prozent blieben gleich da, die meisten kamen jedoch erstmal wieder. Was auf die Rückkehrer zukam, lang völlig im Ungewissen.

Zunächst gab es einen wochenlangen Ausnahmezustand. Einen Ausnahmezustand der Freude. Der Überraschung, des Ungewissen. Wahnsinn eben.

Den Ausnahmezustand der Freude konnte man auch im Westen spüren. Zumindest in West-Berlin und in den grenznahen Regionen in Westdeutschland. Man begrüßte unzählige Menschen in ihren Trabbis, in hessischen Grenzdörfern wurden an der Bundesstraße Kaffee und Plätzchen verteilt. Wenige Jahre später standen an denselben Stellen Schilder, die auf den Verkehrsinfarkt aufmerksam machten. Der Autobahnbau der A4 dauerte bis in die späten 1990er hinein. Zumindest für diese westdeutschen Kommunen änderte sich durch die Grenzöffnung vieles und in diesem Fall nicht zum Guten. Die vielen Autos und Lkws, die sich durch die hessischen Grenzdörfer quälten, waren laut, machten die Straßen kaputt und vergifteten die Luft in einer Gegend, die bisher im Dornröschenschlaf des Zonenrandgebietes lag.

Meine Mutter war eine der Ersten, die sich bei der Stadtverwaltung Koblenz meldete, um Ostdeutsche aufzunehmen. Wenig später hatten wir auch einen jungen Mann sonntags zum Essen, der als Überkopfschweißer in der DDR gearbeitet hatte, mit der Stasi in Konflikt geraten und gerade aus der Haftanstalt in Bautzen entlassen worden war. Meine Eltern hielten irgendwie die Unterhaltung beim Essen in Gang, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Was sagt man zu jemand, der wochenlang an eine Heizung gefesselt worden war?

In der Noch-DDR hingegen änderte sich das Leben radikal, besonders für meine Generation. Wir spürten: Das ist unsere Zeit, wir können es schaffen! Viele brachen Studium oder Ausbildung ab und gingen einfach in den Westen, fingen etwas Neues an.

Für mich selbst war das kein Thema, ich wollte meine Schneiderlehre abschließen. Von meiner Lehrlingsklasse jedoch blieb nur gut die Hälfte übrig.

Kurze Zeit später hatte meine Mutter ein Ehepaar aus der Koblenzer Partnerstadt Sondershausen über unsere Stadtverwaltung zugeteilt bekommen, mit denen sich ein reger Briefverkehr entspann. Sie luden uns spontan ein, Silvester bei ihnen in Thüringen zu verbringen, wir waren aber schon verplant. Wenig später kam das Ehepaar nach Koblenz zu Besuch. Um sich am Bahnhof zu erkennen, hatten der Mann und mein Vater sich eine rote Nelke in den Reverskragen gesteckt.

 

Unsere Familie war glücklich, da wir wieder Kontakt zu meiner Schwester hatten, dass wir uns wohl doch wiedersehen können. Sie war mit Mitte 20 im September 1989 über die ungarische Grenze in den Westen gelangt. Mittlerweile hatte sie in Baden-Württemberg Fuß gefasst, hatte sofort eine gute Arbeitsstelle als Kartografin bekommen. Im Osten wäre sie vermutlich recht schnell arbeitslos geworden und hätte keine neue Anstellung in ihrem Beruf gefunden.

Eine euphorische, teils anarchische Stimmung herrschte im Osten. Die DDR-Volkspolizei hatte zwar offiziell noch für Ordnung zu sorgen, aber die Beamten, vor denen man früher eine höllische Angst hatte, kamen uns plötzlich machtlos, fast hilflos vor.

Es gab Straßenszenen, bei denen Polizisten vor Jugendbanden Reißaus nahmen, da sie nicht wussten, wie sie sich am besten verhalten sollten. Die Staatsgewalt war erodiert.

Das Straßenbild bei uns in Rheinland-Pfalz änderte sich nach dem Mauerfall wenig. Ab und zu sahen wir Trabis auf der Autobahn. Anfangs hupten wir und winkten den Leuten freudig zu. Das legte sich mit der Zeit. Mein Leben ging in den gewohnten Bahnen weiter: Nichts änderte sich!

Das Wie und Was war noch nicht klar: Werden wir jetzt Gesamtdeutschland? Es war das bestimmende Thema in Ost- und Westdeutschland und auch international. Und trotzdem, in erster Linie genossen die meisten den Mauerfall. Wie viele Ostdeutsche erlebte ich diese Zeit in einer Art Rauschzustand, in den uns die Überdosis Möglichkeiten versetzte. Die Möglichkeiten, uns frei zu bewegen, uns die Nasen an westdeutschen Schaufenstern platt zu drücken und uns etwas zu kaufen. Wenn man heute bedenkt, welch geringe Mengen Devisen wir hatten: Bis zur Währungsunion im Frühsommer 1990 hatten wir nur die paar D-Mark, die wir von westdeutschen Verwandten zugesteckt bekamen oder das Begrüßungsgeld, dass alle Ostdeutschen bei Reisen in den Westteil bekamen: Pro Person und Jahr bekam jeder DDR-Bürger bis Ende 1989 100 D-Mark, 1990 bis zur Währungsunion durfte man 100 DDR-Mark gegen 100 D-Mark umtauschen. Für uns war das zu der Zeit unglaublich viel. Die Ossis kauften hauptsächlich Schokolade, Kaffee und Südfrüchte. Dieser chaotisch-euphorische Zustand hielt an bis zur Währungsunion im Juli 1990.

Es waren acht Monate seit dem Mauerfall, in denen die Ostdeutschen ihr glückliches Schicksal genossen, aber auch verdauen mussten. Die eigentliche Wiedervereinigung, der Staatsakt Anfang Oktober stand noch bevor.

Blühende Landschaften?
Von Ilka Wild und Carolin Wilms

Ilka Wild

Der Staatsakt zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 sollte das Symbol der Wiedervereinigung werden. Mit einem Konzert in der Philharmonie Berlin, der bundesdeutschen Flagge über dem Reichstag und ökumenischem Gottesdienst: Nun ist der 3. Oktober der Nationalfeiertag der Deutschen.

Doch für viele Menschen, hüben wie drüben, hatte dieser Tag nur eine mäßige Bedeutung, dieses mehr oder weniger zufällig gewählte Datum konnte es nicht mit der Wucht des 9. November, dem Tag des Mauerfalls, und mit der Erwartung auf den 1. Juli, den Tag der Währungsunion aufnehmen.

Carolin Wilms

Ich habe die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 auf dem Mahnmal der Deutschen Einheit – dem Deutschen Eck – in Koblenz erlebt, wo die zweitgrößte Feierlichkeit im Land – nach Berlin – stattfand. Durch einen Kontakt hatten eine Freundin und ich VIP-Karten bekommen und standen mäßig bewegt in einer dicht gedrängten Menge und schauten uns das Feuerwerk über der Festung Ehrenbreitstein an, die sich am gegenüberliegenden Rheinufer erhebt. Nationale oder patriotische Gefühle waren und sind mir fremd. Irgendwie kam mir der Gedanke, dass etwas Großes passierte, das ich in seinen Ausmaßen aber nicht begriff, mich aber gleichzeitig nicht sonderlich berührte. Während die Spider Murphy Gang am Fuß des Deutschen Ecks das Lied vom „Skandal im Sperrbezirk“ spielte, beschlich mich das Gefühl, dass ich eigentlich nicht im Ansatz eine Vorstellung davon hatte, was das für unsere schöne alte BRD bedeuten würde.

Auch für mich plätscherte dieser neblige Oktobertag vor sich hin, die Bewegtheit hielt sich in Grenzen. Die Monate zuvor hatten wir in einem Taumel der Gefühle erlebt, fast jeden Tag geschah etwas Neues – irgendwie war ich erschöpft von all dem, was in den letzten Wochen passiert war.

Vielen Ostdeutschen dämmerte es schon, dass die Veränderungen der letzten Wochen und Monate nicht nur Gutes bringen würden. Mit der Einführung der D-Mark konnten viele volkseigene Betriebe mit einem Schlag ihre Produkte nicht mehr bei ihren osteuropäischen Partnern absetzen, es war in erster Linie ein Devisenproblem.

Außerdem war die Treuhand bereits am Werk und begann, einen Betrieb nach dem anderen abzuwickeln. Also hatten bereits viele Ostdeutsche am 3. Oktober zwar die Deutsche Einheit, aber keinen Job mehr.

Doch wie viele andere hielt auch ich die Werksschließungen für ein kurzes, reinigendes Gewitter, danach würde es aufwärtsgehen für den Osten. Was dann kam, die schleichende Erkenntnis, dass die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe nicht von einem Tag auf den anderen zu beheben war, wurde bald für viele eine bittere Gewissheit. Langsam, aber stetig machte sich immer mehr Hoffnungslosigkeit breit. Im dritten Quartal 1991 hatte die Zahl der Erwerbstätigen um 2,23 Millionen, also um 25 Prozent abgenommen.

Trotzdem: Ende 1991 dachten noch viele in der DDR, dass alles besser werden würde. Es konnte ja auch nicht alles innerhalb von zwei Jahren perfekt werden. Man würde durchhalten. Man vertraute dem Westen, den Politikern und wünschte sich „blühende Landschaften“.

Ich glaube, eines der heutigen Grundprobleme zwischen Ost- und Westdeutschland stammt aus dieser Zeit: Dass diese Hoffnung, die Politiker wie Helmut Kohl bewusst aufgebaut hatten, und an die man auch selbst zu gern glauben wollte, zerstört wurde. Um Wählerstimmen im Osten zu gewinnen, wurden Dinge versprochen, die, bei Licht betrachtet, nie gehalten werden konnten. Die Ostdeutschen sind heute vielleicht skeptischer denn je, was Politiker, was die Demokratie insgesamt betrifft. Laut einer Allensbach-Studie aus dem Jahr 2019 sprechen sich fast 80 Prozent der Westdeutschen dafür aus, dass Demokratie die beste und erstrebenswerteste Staatsform ist; im Osten sind es nur 42 Prozent. Denn das neue System der echten Demokratie versprach insgesamt ein besseres Leben – nicht nur freiheitliche Grundrechte, sondern auch, materiell gesehen, ein gutes Leben. Das gehörte für die Ostdeutschen zusammen, hatte doch die Führung der DDR immer davon gesprochen, dass man nicht nur ideologisch das überlegene System hat, sondern auch die bessere Lebensqualität bringt. Dies konnte aber bis in die späten 1980er Jahre nicht eingelöst werden. Und so glaubten die Ostdeutschen gern den westdeutschen Politikern, die Freiheit UND Wohlstand versprachen.

Damals WOLLTEN auch viele Ostdeutsche die positiven Aussichten glauben, denn diese gab ihnen die Hoffnung, bald wirklich eins zu sein und gleiche Lebensverhältnisse wie im Westen zu haben. Stimmen, die sagten, dass es ca. 20, vielleicht 25 Jahre bis zur Angleichung dauern würde, empfand ich, sowie viele andere, als völlig unrealistisch. Kohls „blühende Landschaften“ waren uns da viel lieber.

Wir hatten keine Ahnung, welche Fehleinschätzung das war, sonst hätte man sich vielleicht viel mehr mit den Vorgängen beschäftigt, die an den Runden Tischen passierten – ganz ehrlich: Die meisten, so auch ich, probierten die neuen Möglichkeiten und Freiheiten aus. Man konnte reisen und einkaufen, was für ein (schnelles) Glück! Dafür wollte man sich auch gern beruflich umorientieren.

Dass über Alternativen zur ‚Angliederung‘ an die Bundesrepublik diskutiert wurde, bekamen wir am Rande mit, hielten das aber für unrealistisch.

Irgendwann würden sie kommen, die westdeutschen Unternehmen, würden Arbeitsplätze schaffen, so wie es die westdeutschen Politiker versprochen hatten. Und für mich traf auch genau das ein: Die ostdeutsche Staatsbank wurde in weiten Teilen Ostdeutschlands von der Deutschen Bank übernommen, ich bekam dort einen Ausbildungsplatz. Meine Azubi-Vergütung war um einiges höher als das Gehalt, das ich in so manchem Ost-Betrieb 1989 verdient hätte. Lebenswege wie meiner hätten die Regel sein sollen, leider waren sie eher die Ausnahme.

Viele andere in meinem Alter hatten keine andere Möglichkeit, als sich in den „alten Bundesländern“ nach Beschäftigung umzusehen. Dies führte zu einem regelrechten Exodus aus Ostdeutschland. Viele Städte verloren innerhalb weniger Jahre große Teile ihrer Bevölkerung. So lebten beispielsweise in Thüringen 1988 2,7 Millionen Menschen, zwei Jahre später waren es schon 100.000 weniger. 2017 hatte Thüringen nur noch 2,1 Millionen Einwohner und heute ist es noch eine halbe Million weniger. Die Tatsache, dass gerade wir jungen Leute abwanderten, verstärkte diesen Trend noch: Meine Heimatstadt Gotha musste zwischen 1989 und 2016 einen Bevölkerungsrückgang von fast einem Viertel verzeichnen. Die jungen Leute, die blieben, bekamen wegen der Unsicherheit der Lebensverhältnisse kaum Kinder, die Geburtenrate von 1985 bis 1995 sank auf die Hälfte. Heute ist die Überalterung hoch, in manchen Landkreisen, wie etwa in Altenburg, liegt die Seniorenquote bei einem Drittel.

Die Jahre kurz nach der Wende waren eine Zeit des „Wilden Ostens“: Kleinkriminalität bis zur organisierten Kriminalität, Radikalismus, eine wilde Party-Szene mit Drogen – damit waren die neu aufzubauenden Staatsorgane erstmal überfordert. In der DDR war wohl kaum ein Polizist jemals mit Mafia-Kriminellen oder harten Drogen und offen ausgetragenem Rechtsradikalismus konfrontiert worden, das war für die Exekutive plötzlich Neuland.

Neu war auch der Umgang mit der Marktwirtschaft im Kleinen. Durch den Mangel an Privat-Pkws in der Ex-DDR war die Nachfrage nach einem Familienauto groß. Doch viele Ostdeutsche konnten oder wollten sich keinen Neuwagen kaufen, also schossen Gebrauchtwagen-Märkte oder Läden von Gebrauchtwarenhändlern wie Pilze aus dem ostdeutschen Boden.

Ich arbeitete damals in der Automobilindustrie und die Absatzzahlen im Osten zeigten in unseren Verkaufsstatistiken ungeahnte und unbekannte Ausschläge nach oben. In den Folgejahren wurden die zunehmend schlechteren monatlichen Zahlen im Vergleich zu diesen Höchstständen immer mit dem „Ost-Effekt“ erklärt: Einmal und nie wieder!

Viele westdeutsche Glücksritter boten ihre Schrottkisten zu Höchstpreisen an, die Ostdeutschen kauften fast alles. Sie taten das zum Teil aus Leichtgläubigkeit, zum Teil daher, da man es ja gewohnt war, mit schadhaften Autos umzugehen, man reparierte es einfach. Dass dies bei modernen Autos westdeutscher Fabrikation weniger einfach war als bei einem simplen Auto wie einem Trabi, und dass die Autos oft überteuert waren im Vergleich zum Westen, dass bekamen viele Ossi erst später mit. Ähnlich war der Umgang mit Versicherungspolicen oder anderen Produkten, die an der Haustür verkauft wurden. Es war so einfach in dieser Zeit, den Ostdeutschen einfach alles zu verkaufen.

Die Erkenntnis kam vielen schnell, dass manche Westdeutsche nicht nur Gutes mit den Ostdeutschen im Sinn hatten. So wurde oft verallgemeinert: Die Wessis ziehen uns über den Tisch! Ein Freund aus dem Westen erzählte, dass der Kontakt zu seiner Familie im Osten, der während der deutsch-deutschen Trennung hielt, nach der Wende von ostdeutscher Seite plötzlich abgebrochen wurde, nachdem er wohlwollende Hilfe beim Kauf des Gebrauchtwagens oder der richtigen Versicherungen angeboten hatte. Woran das genau lang, kann er heute nicht sagen, aber ein Misstrauen allen Wessis gegenüber, auch aus der eigenen Familie, gab es oft, wenn auch häufig unberechtigt.

Doch der Osten brauchte Hilfe aus dem Westen, und das nicht nur finanziell: Behörden und Betriebe mussten aufgebaut, neue Strukturen mussten geschaffen werden. Das war sinnvoll und notwendig, gerade in den Bereichen Justiz, Bildung und Verwaltung.

Man versüßte vielen westdeutschen Mitarbeitern, die in den Osten gingen, ihren Wechsel mit einer sogenannten „Busch-Zulage“. Das waren finanzielle Anreize, die das Gehalt der entsandten Wessis erhöhte. Sie waren wie Expats im eigenen Land. Oft waren diese Mitarbeiter sehr motiviert und hilfsbereit, aber es gab auch eine große Anzahl von Westdeutschen, die sich aufspielten, ohne wirklich Fachleute zu sein, Führungskräfte aus der zweiten und dritten Reihe mit ungenügenden Kompetenzen für die teilweise sehr komplexen Anforderungen im neuen Umfeld, die das West-Unternehmen auf diese Weise im Osten „entsorgte“. Diese taten ihre Arbeit meist mit großem Selbstbewusstsein.

 

Der Aufbau Ost war auch in der Automobilindustrie ein großes Thema. Es mussten Vertriebsstrukturen durch Händlernetze eingerichtet werden. Ich selbst war für einige internationale Märkte zuständig, erinnere mich aber noch an meinen Kollegen, der mit mir das Büro teilte und den ostdeutschen Markt bearbeitete: Bei den Telefonaten prallten häufig nicht nur der schwäbische und der sächsische Dialekt aufeinander, sondern gleich zwei Welten. Mitunter beendete er die Telefonate milde lächelnd, es schienen sich Abgründe im Hinblick auf marktwirtschaftliches Verständnis aufgetan zu haben, die telefonisch nicht „gschwind“ zu beheben waren.

Der Terminus „Besserwessi“ entstand und wurde umgehend das Wort des Jahres 1991. Es gibt unzählige Geschichten über Besserwessis. Oft geht es darum, dass der Mitarbeiter oder Chef aus dem Westen zwar das Sagen und die vermeintlich besseren Ideen hat, der Ossi das Problem jedoch gewitzt und praktikabel anders löst. Und da fällt mir ein beliebter Witz aus diesen Zeiten ein: Warum sagen Wessis zu Ostdeutschen immer Ossis? Weil sie das Wort ‚Spezialist‘ nicht aussprechen können.

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