Flügelschatten

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Z serii: Flügelschatten #1
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Die Statue! Erleichtert eile ich auf sie zu, weiche den Entgegenkommenden aus, schlage Haken und husche zwischen Ständen hindurch. Endlich habe ich sie erreicht. Sie ist aus hellem Sandstein gehauen und durch die Konturen des Mannes, den sie darstellen soll, gibt es genügend Vertiefungen, an denen ich mich emporziehen kann. Ich springe auf den Rand des Beckens und setze einen Fuß auf den viel größeren steinernen der Statue.

»Nicht! Bist du wahnsinnig? Jemand muss sie aufhalten!«, kreischt man hinter mir, ich halte nicht inne. Flink klettere ich hinauf, meine Füße finden rasch Halt, mit den Armen ziehe ich mich nach oben. Schon bald habe ich den großen Kopf erreicht und richte mich triumphierend auf. Auf diese Weise kann ich alles überblicken und für einen Moment das Menschenmeer unter mir lassen, der erdrückenden Enge entfliehen.

In Windeseile fahre ich mit meinen Blicken die Wege entlang, präge mir das Muster der Straßen ein und versuche, mir inmitten der gleich aussehenden Häuser Orientierung zu verschaffen.

Da, der rettende Waldrand. Er ist nicht so weit entfernt, wie ich dachte. Einige verwinkelte Gassen. Eine Querstraße. Um zwei Ecken. Mein rasender Gedankenstrom normalisiert sich ein wenig.

Ich kann das schaffen.

»Komm sofort zurück! Holt sie da runter!« Die Stimme der Händlerin erreicht mich und ich blicke unwillkürlich nach unten. Erstarre. Ein ganzes Knäuel aus Menschen hat sich um den Brunnen geschart und starrt zu mir empor. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie entgeistert oder wütend sein sollen.

»Mama! Guck das mal an!«

Ein kleines Mädchen mit langen kastanienbraunen Haaren zupft am Rock seiner Mutter und deutet aufgeregt zu mir herauf. Ich unterdrücke einen Schrei, hier oben kann ich mich jedoch nirgends verstecken. Die Mutter starrt mich verwundert an.

»Allmächtiger! Oh nein, geh da weg!« Sie zieht ihre Tochter zurück, die neugierig zum Springbrunnen gelaufen ist und mit großen Augen zu mir aufsieht. Kalte Angst kriecht mir den Rücken hinab – ich sitze in der Falle! Die Menschen bleiben verwundert stehen, tuscheln aufgeregt.

»Sieh mal, diese Augen!«

»Wo kommt sie her?«

»Wie ist sie da raufgekommen?!«

Panisch beginne ich wieder nach unten zu klettern – wenn diese verflixten Flügel nur funktionieren würden! Dann könnte ich sie ausbreiten, davonfliegen und all die Menschen unter mir zurücklassen. Doch sie sind nicht zu gebrauchen, ich muss mich auf meine Beine verlassen. Sobald ich den sicheren Waldrand erreicht habe, können sie mir nichts mehr tun.

Das ist mein Gebiet.

Kurz bevor ich das Wasser im Brunnen erreiche, springe ich von der Statue hinunter, presse mich auf die Erde, sehe mich um und versuche, einen Fluchtweg zu finden.

Weg! Lauf weg!

Ein großer Mann mit Hut nähert sich mir. Besorgt ziehen Mütter ihre Kinder zurück, die mich anfassen wollen.

»Wer bist du denn?! Weißt du nicht, dass man nicht auf einer Statue herumklettern darf?« Er macht noch einen Schritt auf mich zu. Will er mich angreifen?! Seine Stimme ist streng und barsch, seine Augen blitzen alles andere als freundlich. Panisch stolpere ich zurück. Ich muss flüchten, sofort!

Sie sehen alle her! Sie schauen dich an! Du bist anders.

»Verstehst du, was ich sage? Hallo?!«

Mein Blick huscht hin und her, plötzlich packt mich der Mann an der Schulter und ich springe auf, aus meiner Kehle dringt unerwartet ein wütendes Knurren. Überrascht sieht er mich an und ich reiße mich los, drehe mich unter ihm weg und stürze davon. Die Menschen machen mir Platz und ich erklimme einen Baum, springe auf ein nahe gelegenes Dach, was Kreischen und Schreien hervorruft.

»Halt! Komm sofort zurück!«, brüllt der Mann.

Auf keinen Fall! Nichts und niemand kann mich aufhalten, um keinen Preis der Welt bleibe ich auch nur einen Wimpernschlag länger an diesem schrecklichen Ort!

Ich spüre, dass sie mir folgen, aber sie können mich nicht einholen, denn ich bin schnell. Viel schneller als sie. Ich tauche in das Gewirr der Straßen ein und verschwinde ungesehen im Wald, wo ich nicht eher anhalte, bis ich nichts mehr höre außer dem Wind. Dann lehne ich mich keuchend und vor Angst zitternd gegen einen Baum.

Ich spüre etwas Schweres in meiner Tasche und greife danach. Die Glasprismen! In der Aufregung habe ich ganz vergessen, sie zurückzulegen, und sie achtlos in meine Tasche gestopft. Verschreckt schleudere ich sie von mir.

Dann besinne ich mich jedoch und laufe zurück, um sie im Gras zu suchen. Wenngleich sie den Menschen gehören, sind sie wunderschön und ich will sie behalten, um mich daran zu erinnern, dass sie zwar aussehen wie ich, doch trotzdem anders sind. Sie sind gefährlich und das darf ich niemals vergessen. Ich wende dem Dorf den Rücken zu und laufe wieder tiefer in den Wald hinein, wo die Dunkelheit mich verschluckt und ich vor ihren entsetzten Blicken sicher bin.

4


Tief atme ich die frische Luft ein. Der Wind streicht mir in einer sanften Brise um die Nase, das Gras kitzelt an meinen Füßen und ich höre einige Vögel entfernt in den hohen Baumwipfeln zwitschern. Es ist einer dieser Tage, wie ich sie liebe. Ein wenig kühl, etwas frisch, trotzdem nicht kalt. Er sprüht nur so vor Leben. Das weiche Gras duftet leicht und ich seufze wohlig. Viel Zeit ist seit dem Tag vergangen, an dem ich orientierungslos hier aufgewacht bin, wie viel, das weiß ich gar nicht genau. Die Tage verschwimmen ineinander und ich kann sie nicht mehr voneinander unterscheiden, versinke in der Wildnis des Waldes.

Was ich weiß, ist, dass ich bisher meine Erinnerungen noch nicht wiedergefunden habe. Da ist diese gähnende Leere in meinem Kopf, tiefste Finsternis, die sich endlos weit erstreckt, und ich weiß nicht, ob ich in sie abgetaucht bin und alles, was vor ihr war, verloren habe, oder ob ich aus ihr entstanden bin und es vorher nichts gab.

Wie ich es auch drehe und wende, der Wald ist alles, was ich habe.

Ich krieche zu dem Abhang. Verdeckt von den hohen Gräsern kauere ich da und sehe hinunter auf die Häuser, die ich seither meide, auch wenn sie von hier ungefährlich wirken. Ich fühle mich sicherer, wenn ich sie beobachte, wenn ich sie im Auge behalte und nicht etwa überraschend von den Menschen angegriffen werden kann.

Von hier oben sind sie bloß kleine Punkte, die geschäftig hin und her eilen. Ich schüttle den Kopf und robbe wieder zurück. Menschen werde ich nie verstehen. Wenngleich ich mir geschworen habe, mich von ihnen fernzuhalten, habe ich dennoch einen entscheidenden Vorteil an ihnen entdeckt. Etwas, das ich mir durchaus zunutze machen kann. Wenn ich weiß wie.

Die Glocken beginnen zu läuten.

Neun Mal.

Es ist Zeit, sich um ein Frühstück zu kümmern.

Mit einem feinen Lächeln springe ich auf und folge meinem Weg durch den Wald. Gespannt spähe ich um den Baumstamm herum, hinter dem ich mich versteckt habe. Entschlossen umklammere ich meine provisorische Waffe, einen kurzen Ast, an den ich einen scharf geschliffenen Stein gebunden habe, fester. Ich trage sie bei diesen Ausflügen stets bei mir, trotz dass ich nicht gern mit ihr kämpfe. Meine Hände sind mir viel lieber als dieses seltsame Gewicht.

Doch für das, was ich vorhabe, ist ihre Nützlichkeit nicht zu leugnen.

Wieder blicke ich um den Stamm herum und beobachte den kleinen, schmalen Trampelpfad, der durch den Wald führt.

Ich habe ihn zuerst nicht bemerkt, erst als ich ein weiteres Mal nach meinem Ausflug in das Dorf menschliche Stimmen zwischen den Bäumen wahrnahm, bin ich sofort aufgesprungen, um nachzusehen, was vor sich ging. Dabei habe ich entdeckt, dass die Gestalten, denen ich damals gefolgt bin, in regelmäßigen Abständen diesen Weg benutzen.

Es sind Händler, die in das Dorf gehen und ihre Waren anpreisen. Dann kommen sie mit ihren Wagen voller Sachen und passieren in einer langen Reihe den Pfad. Zwischen den Händlern ist oft viel Abstand und da der Weg viele Kurven macht, ist es für mich ein Leichtes, unbemerkt ein paar Dinge zu stibitzen.

Ungeachtet dessen, dass ihr Geschmack sich natürlich nicht mit der Explosion vergleichen lässt, die frisches Tierblut in mir auslöst, schmecken die Lebensmittel, die die Menschen in das Dorf bringen, manchmal besser als die Beeren und Kräuter, die ich hier sammeln muss. Gerade wenn meine Vorräte zur Neige gehen und ich der Wurzeln überdrüssig werde, freue ich mich umso mehr auf einen Raubzug.

Sie sind Händler, sie verkaufen Sachen. Ich brauche Sachen. Darüber hinaus bereitet es mir in gewisser Hinsicht Freude, ihnen aufzulauern – es ist wenigstens eine spannende Abwechslung zu meinen recht öden Tagen.

Ich schnuppere und horche sorgfältig. Mein Gehör habe ich in der Zeit im Wald weiter geschult, sodass ich selbst das Rascheln einer Maus in großer Entfernung wahrnehme. Ich wende meine Aufmerksamkeit dem Weg zu, denn ich höre Hufgetrappel nahen. Und Hufgetrappel bedeutet Essen!

Ich schließe kurz die Augen und verbanne jeden Gedanken, der nicht mit meiner Mission zu tun hat, aus meinem Kopf. Jetzt ist es wichtig, bei der Sache zu sein und sich nicht ablenken zu lassen. Schon eine kleine falsche Bewegung könnte alles zunichtemachen. Gespannt horche ich und als der Händler genau hinter meinem Baum ist, springe ich auf den Weg. Wie eine Raubkatze hocke ich da und erfasse blitzschnell die Lage. All diese Bewegungen sind mir so vertraut. Ich laufe hinter dem Planwagen her. Auf dem Kutschbock sitzt ein Mann mit einem karierten Hut und singt vor sich hin. Für einen Augenblick bin ich ein wenig aus dem Konzept gebracht. Ich kann einfach nicht anders, ich muss zuhören. Ich wüsste nicht, wann ich jemals jemanden hätte singen hören – von Vögeln abgesehen. Es ist kein besonders schöner Gesang und kein besonders schwieriges Lied, aber gerade die Einfachheit der Melodie und die beschwingte Stimmung der Töne lösen ein warmes Gefühl in mir aus:

 

Königin mit eisigem Gesicht

Augen aus Glas, kennst du sie nicht?

Ihr Garten voll Blumen wunderschön,

werden doch das Licht nie seh’n.

Unwirsch straffe ich meine Schultern und schimpfe mit mir selbst. Ich muss mich ranhalten! Leichtfüßig springe ich auf den Planwagen und wage mich in sein Inneres. Die rauen Seile, die durch die Haken geschlungen und mit Knoten versehen wurden, sind schnell gelöst, vor allem, weil ich inzwischen recht geübt darin bin. In Windeseile durchsuche ich die Säcke und Kisten. Offensichtlich ein Gemüsehändler, ich finde Karotten, Krupferl und Salatköpfe. Sogar Jorze sind dabei! Rasch stopfe ich in meinen leeren Beutel, den ich zu Beutezügen mitnehme, seit ich ihn bei meinem ersten ergattern konnte, reichlich Sachen, bis er zum Rand gefüllt und sein Gewicht an meiner Hüfte schon fast hinderlich ist. Geschickt verschließe ich die Kisten wieder und springe vom Wagen.

»Hey! Was hast du hier zu suchen?«

Der Händler hat sich zu mir umgedreht, er hält an und steigt vom Kutschbock herunter. Sein Blick huscht zu dem Beutel an meiner Seite und seine Augen werden groß, als er begreift.

»Hast du … na warte! Dir werde ich Beine machen!«, schnaubt er und festgefroren, wie ich vor lauter Schreck bin, reagiere ich zu langsam, als er einen groben Knüppel nach mir wirft, der mich beinahe am Kopf erwischt. Erschrocken wirbele ich nun endlich herum und hetze davon. Die stampfenden Schritte verraten mir, dass er mir folgt, und ich stürme auf die Bäume zu, ehe ich ein Surren in der Luft höre und sich etwas um mein Bein schlingt. Ich gerate sofort ins Straucheln, stürze zu Boden, wo ich mich winde und davonkrabbeln will. Der Mann kommt auf mich zu, das andere Ende des rauen Seils in der Hand, in das er offensichtlich eine Schlinge geknüpft und nach mir geworfen hat. Der Blick aus seinen grauen Augen ist wütend, die große Nase in seinem Gesicht zuckt angespannt.

Dennoch erkenne ich etwas anderes in seinem Ausdruck. Verwunderung. Als er näher kommt und mich genauer in Augenschein nehmen kann, verwirren ihn die großen Flügel und meine glühenden Iriden offenbar. Ich weiche weiter vor ihm zurück, mein Herz droht mir die Brust zu sprengen.

»Was um alles in der Welt …«, stößt der Händler hervor und blinzelt heftig. Ich nutze den Moment und reiße mein Bein zurück, sodass er vorwärts stolpert. Ruckartig schnelle ich hoch, meine Faust trifft ihn in die Magengrube und ich befreie mein Bein aus der Schlinge, als er stöhnend in die Knie geht und das Seil nicht mehr fest umfassen kann. Ein Tritt gegen seine Schulter, er taumelt und fällt zu Boden, da drehe ich mich bereits um, schnappe mir meine Beute und presse sie an mich, sprinte davon, ohne einen weiteren Blick nach hinten zu wagen. Schneller und schneller tragen mich meine Beine über Wurzeln und Senken hinweg, und wenngleich der Händler mir nicht folgt, spüre ich dennoch unaufhörlich seinen starren Blick. Einen Blick, der mir eine eisige Gänsehaut über den Rücken kriechen lässt.

Als er mich sah, war er zunächst wütend, dann veränderte sich sein Blick von Skepsis zu einem Ausdruck von Gier. Einer Gier, die mir wahrhaftig Angst eingejagt hat, als wäre ich nur ein bloßes Werkzeug, eine außergewöhnliche Pflanze, die er unbedingt näher betrachten wollte. Ich schüttele mich, um die Erinnerung zu vertreiben, wenngleich sie sich tief in mein Gedächtnis gebrannt hat. Meine nervös flatternden Augenlider lassen sich kaum beruhigen und ich bebe am ganzen Körper. Mit meiner Beute unter dem Arm laufe ich zurück zum Abhang, um dort zu verschnaufen. Hierher kommen die Menschen nicht. Für gewöhnlich.

Unsicher luge ich zwischen den Zweigen der Bäume hindurch, um zu sehen, ob er mir gefolgt ist, aber keine Spur von ihm. Hören müsste ich die Menschen schon von Weitem – sie bewegen sich ungeschickt und schwerfällig, krachen mit ihren Schritten durch das Unterholz und sind unvorsichtig. Zumal ich mich besser in diesem Wald auskenne und mich auch viel leiser bewegen kann. Er muss meine Spur rasch verloren haben.

Hoffe ich. Was, wenn er nach mir sucht? Wenn sie neue Wege zwischen den Bäumen anlegen, um sie mit ihren Karren entlangzufahren und sie diejenigen sind, die mich vertreiben? Ich will diesen Wald nicht verlassen, ich kann ihn nicht verlassen!

Mit einem tiefen Seufzer lege ich den Kopf auf meine Knie, und ohne es richtig zu merken, beginne ich leise zu wimmern. Ich weiß selbst nicht genau weshalb, vielleicht, weil der Schock tief in meinen Gliedern sitzt, vielleicht, weil ich mich weiterhin an nichts erinnern kann, vielleicht, weil ich ein einsames, sinnloses Leben führe. Vielleicht auch, weil mir der Blick des Mannes, dieser wissenshungrige und auch entsetzte, geschockte Blick seltsam bekannt vorkam. Ich habe das Gefühl, ihn schon oft auf mir gespürt zu haben.

Entnervt greife ich nach den saftigen dunkelroten Früchten, den Jorze. Hungrig bin ich schließlich immer noch und bisher ist mir niemand hinterhergekommen, deshalb sollte ich mich wohl beruhigen. Also beiße ich hinein und genieße den Geschmack auf der Zunge. Lediglich kurz, denn irgendwie … ich weiß auch nicht. Irgendwie hatte ich ihn besser in Erinnerung. Irgendwie habe ich den Geschmack von allem besser in Erinnerung, wenn ich gerade Blut gekostet habe. Damit lässt sich einfach nichts vergleichen …

Ich rappele mich auf und mache mich auf den Weg, um meine restliche Beute in Sicherheit zu bringen. Zielstrebig husche ich durch das Unterholz, überquere den Fluss und schleiche tiefer in den Wald hinein. Hier, wo die Bäume dichter zusammenstehen und nur vereinzelt Sonnenstrahlen durch das Dach dringen, habe ich mir mein Quartier errichtet. Es ist ein uralter Baum, knorrig, mit einem breiten Stamm und mächtiger Krone. Hoch oben habe ich vereinzelte Bretter quer über Äste gelegt und auf diese Weise eine Plattform errichtet. Blitzschnell klettere ich den Stamm empor, mit meinen Füßen finde ich genau die richtigen Vertiefungen in der Rinde, meine Hände halten sich schon fast von selbst an den Ästen fest und ich ziehe mich daran hoch.

In meinem Versteck, gut getarnt durch das undurchdringliche Geäst und die schützenden Blätter, angekommen, verstaue ich meine Beute sorgfältig. Hier oben habe ich einige Körbe aufgehängt, die mir als Vorratsbehälter dienen, Kräuter hängen zum Trocknen an Zweigen, ein leicht zerfetzter Umhang dient mir als Decke und ein luftiges Tuch verdeckt die kleine Holzkiste mit meinen größten Kostbar­keiten. Zufrieden lasse ich mich auf einem dicken Ast nieder und hole sie hervor, klappe vorsichtig den Deckel auf und betrachte meine wundersamen Funde. Einst war auch ein Spiegel darunter, den ich jedoch weggeworfen habe. Ich sehe mich nicht gern an. Dann denke ich nur wieder an den Albtraum, den ich vor langer Zeit hatte, der, in dem meine Augen sich dunkelrot verfärbten.

Als ich den Spiegel im Fluss versenkte, habe ich die flachen, abgerundeten Steine mit dem seltsamen Muster gefunden, die im Licht ein wenig schimmern. Sie liegen ganz unten in der Kiste, gleich neben den Glasprismen aus dem Dorf. Ich streiche über die Feder, die einem Vogel mal aus dem Nest gefallen ist, fahre über raue Tannenzapfen und nehme zum Schluss die hübsche Brosche in die Hand, die ich vor einiger Zeit habe mitgehen lassen. Sie war einfach zu schön, um sie einem dieser Menschen in die Hände fallen zu lassen. Ich glaube, sie soll eine Rose darstellen, deren Blätter vergoldet sind. Behutsam lege ich sie zurück und wickle die Kiste wieder in das Tuch ein. Sie hat ein verrostetes Schloss, leider besitze ich keinen passenden Schlüssel dazu. Dennoch macht allein das Wissen darum sie noch besonderer. Es gefällt mir, die Dinge zu verstecken und von Zeit zu Zeit verträumt zu betrachten und mir Geschichten zu ihnen auszudenken. Wie der Vogel gerade fliegen lernte, als er seine Feder verlor, oder dass die Steine Wünsche erfüllen können und eigentlich einmal Sterne waren, die vom Himmel gefallen sind.

Ich springe von meinem hohen Sitz und lande leichtfüßig im Gras, das meinen Aufprall dämpft. Dann laufe ich zum Wasser, um die Netze zu kontrollieren, die ich ausgeworfen habe, um damit Fische zu fangen.

Die Sonne geht schon als ein glühender Ball am Horizont unter, als ich mit einem reichen Fang zurückkehre. Diesmal ist nur ein Netz von der Strömung mitgerissen worden, das zweite ist zwischen den Steinen hängen geblieben, so wie ich es wollte, und hat mir tatsächlich drei Goldschwimmer beschert. Besser gelaunt mache ich mich auf den Rückweg, nage die Fische ab und vergrabe die Gräten. Satt und zufrieden mache ich es mir zum Schlafen gemütlich. Unruhig wälze ich mich jedoch hin und her. Ich kann es nicht genau erklären, dieses dumpfe Gefühl in meiner Magengegend, eine ungute Vorahnung. Etwas macht mir Angst.

Große Angst.

5


Laute Geräusche lassen mich aus dem Schlaf schrecken. Sofort bin ich hellwach und lausche angestrengt. Ein Rascheln, Zweige, die unter schweren Stiefeln krachend zerbrechen. Ich springe auf und zücke eines meiner geschärften Messer. Hastig klettere ich höher in den Baum, dorthin, wo die Äste dünner und fragiler sind, denn ich will so weit wie möglich von den Geräuschen entfernt sein. Was, wenn es der Händler ist? Wenn er mich wieder mit dem Seil fesseln will? Sorgenvoll klettere ich auf dem Ast weiter vor, damit ich besser in die Tiefe spähen und sehen kann, was dort unten vor sich geht. Gedanken rasen in meinem Kopf durcheinander und ich weiß nicht, was ich tun soll. Davonlaufen? Ihm entgegentreten? Mein Versteck verteidigen? Noch während ich die Möglichkeiten abwäge, durchbrechen schon Gestalten das Unterholz. Vor Schreck bewege ich mich zu hastig, zu schnell. Ich will zurückweichen, mich tiefer im Blattwerk verstecken, als der Ast unter mir bedrohlich knackt und im Bruchteil eines Augenblicks weiß ich, dass es zu spät ist. Er zerbricht unter meinem Gewicht und ich falle. Panisch rudere ich mit den Armen, hoffe, etwas zu packen zu bekommen, stürze jedoch zu Boden.

Meine Flügel!

Es ist keine Zeit, zu versuchen, sie zu benutzen, denn die Gestalten haben mich bereits bemerkt. Nicht bloß eine. Es sind ganze fünf hochgewachsene Männer, die sich auf mich zubewegen. An ihrer Spitze läuft der Händler von heute Morgen, der eine Lampe schwenkt. Ihr Schein erreicht mein Gesicht und blendet meine Augen. Entsetztes Keuchen und sogar ein Schrei zerreißen die Nacht. Ich weiß nicht, welches Geräusch von mir und welches von ihnen kommt.

Der Moment, in dem ich nachdenken könnte, verstreicht. Mein Körper handelt intuitiv. Ich klaube das Messer vom Boden auf und wirble herum, mein provisorischer Dolch findet sein Ziel: das Herz eines Angreifers. Erschrocken keuchen die anderen auf.

Einen Wimpernschlag lang hängt tödliche Stille über dem Wald. Ein Feuerrabe krächzt laut.

Dann schreit der vordere Mann entsetzt auf und deutet auf mich: »Das ist sie! Was habe ich gesagt?!«

Oh nein! Bitte nicht! Augenblicklich schärfen sich meine Sinne aufs Äußerste, mein Verstand läuft auf Hochtouren, jeder einzelne Muskel in mir spannt sich an. Angriffsbereit. Dann gleitet mein Blick zu den scharfen Waffen, die sie über ihren Schultern tragen. Es sind grobe Äxte und schwere Knüppel, die sie nun drohend schwenken.

Na und?! Ich kann mich wehren!

Mit bloßen Händen?

Mein Blick huscht über die Angreifer, ich analysiere sie blitzschnell. Ich glaube ihren pochenden Puls zu sehen, höre ihren Herzschlag und spüre das Blut in ihren Adern strömen. Ich bin mir ihrer Lebendigkeit so überdeutlich bewusst, dass alles andere verblasst, als würde der Wald die Luft anhalten, als würde alles innehalten und nur die klopfenden Herzen der Menschen dröhnen in meinen Ohren. Ich bekomme eine Gänsehaut. Jemand atmet langsam, hörbar aus.

Du kannst sie töten.

Wir starren einander an, entschlossen, fest. Wimpernschläge werden zu Ewigkeiten. Der Mann, den ich schon kenne, hat die Arme warnend ausgebreitet, um seine Leute zurückzuhalten.

 

Lebendig, so lebendig.

Ich versuche, nicht zu dem toten Mann zu sehen, dem ich meine Waffe ins Fleisch gerammt habe. Ich habe jemanden umgebracht! Es war ein Reflex, aber noch nie zuvor habe ich einen Menschen getötet. Glaube ich zumindest. Auf einmal bin ich mir da nicht mehr so sicher …

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie einer der Männer sein Gewicht verlagert, und sofort weiche ich zurück. Wieder blicke ich zu ihren Waffen, eine Axt, Knüppel, Messer. Was soll das alles? Mein Blick huscht hin und her, ich versuche die Lage zu verstehen. Ich weiche vor ihnen zurück, während der Händler mich direkt anspricht:

»Ganz ruhig, Kleine. Wir machen dir keinen Ärger, wenn du mit uns kommst.«

Seine Worte erreichen mich nicht richtig, werden zu einem sinnlosen Rauschen in meinen Ohren, bedeutungslos. Ich sehe nur ihre Furcht einflößenden Gesichter, höre den Klang seiner dröhnenden Stimme und wie sie näher kommen. Mir ist es gleich, was er sagt, ihre Augen brüllen die Wahrheit in mein Gesicht, mein Verstand schreit dazu: Feind, Feind, Feind!

Ein kurzer Blick, ein Gedanke, dann drehe ich mich um und stürze davon, höre nicht auf ihre Rufe, achte nicht auf die Schritte, wie sie hinter mir hereilen. Ich rase wie von einer Flutwelle verfolgt weiter, fliege förmlich zwischen den Bäumen hindurch, springe über Wurzeln und Äste, schlage Haken, damit sie mich verlieren. Ich überlasse meinen Beinen die völlige Kontrolle, höre auf nachzudenken und stürme blindlings davon.

Ich schlage absichtlich andere Wege ein und versuche ihnen so zu entkommen. Doch sie geben nicht auf. Von allen Seiten kommen sie und ich lege noch ein wenig an Tempo zu. Das Laufen liegt mir und ich schnaufe nicht, im Gegensatz zu meinen Verfolgern. Ich spüre, wie sie zurückfallen, wie sie zu keuchen beginnen, der beißende Geruch ihres Schweißes steigt mir in die Nase und das Dröhnen ihrer Herzen wird zu einem wilden Stakkato.

In Windeseile klettere ich auf einen Baum und springe flink von Ast zu Ast, eine Fähigkeit, für die ich sehr dankbar bin.

Mit einem Mal wird mir schwindelig, ganz plötzlich kommt es und vernebelt mir die Sinne. Im Hals spüre ich das Kratzen, das nichts Gutes ankündigt. Ich werde nervös, meine Bewegungen abgehackter.

Was ist das?

Nein, nicht nachdenken, laufen! Ich zwinge mich zur Ruhe, versuche nicht an all das Blut zu denken, das in ihren Adern rauscht und sie am Leben hält, versuche den Geruch zu vertreiben, der mir in die Nase steigt. Hat sich jemand verletzt? Ist es ernst?! Es ist, als würde ich nicht mehr nur vor ihnen weglaufen, sondern davor, mich umzudrehen und einen nach dem anderen umzubringen.

Durst!

Ich schlucke mehrfach. Das darf nicht wahr sein, wieso schaffe ich es nicht, meinen eigenen Körper unter Kontrolle zu bringen?! Meine Sinne schärfen sich – mir wäre es lieber, sie würden es nicht tun, weil ich weiß, dass ich nicht mehr lange dem Drang stand­halten kann. Ich will nicht! Trotzdem kann ich nichts dagegen tun. Ich werde langsamer, viel zu langsam.

Oh …

Nein, nein, nein! Ich muss weiter, lauf weiter, los!,

versuche ich mich selbst zur Vernunft zu rufen – es hat keinen Zweck. Es ist, als würde ich verblassen, verschwinden und als würde eine andere Macht die Kontrolle erlangen. Ich stoppe ab, schwinge mich an einem Ast nach unten und sehe mich gierig nach meinen Verfolgern um. Es ist der reinste Wahnsinn, ein Albtraum! Ich kann meinen eigenen Muskeln nicht mehr befehlen, höre und rieche zwar ausgezeichnet, bestimme allerdings nicht mehr darüber. Ich schaffe es einfach nicht.

Wütend brülle ich auf, als ich bemerke, dass sie schon vor längerer Zeit erschöpft waren und die Verfolgung aufgegeben haben. Ich war zu schnell und ihre Ausdauer nicht allzu groß. Trotz der Entfernung konnte ich sie riechen; als ich jetzt die Nase schnuppernd in den Wind halte, nehme ich nichts mehr wahr.

Sie haben sich zurückgezogen.

Ich ziehe die Möglichkeit in Erwägung, zurückzulaufen, um sie mir zu holen, aber das hat wohl keinen rechten Sinn … Außerdem weiß ich nicht, wie viele von ihnen vielleicht noch irgendwo im Wald lauern, und ich sollte froh sein, dass ich ihnen entkommen bin …

Matt lasse ich mich zu Boden sinken. Es ist nicht der Lauf, der mich aus der Puste gebracht hat …

Ganz toll. Ich hätte gerade schon fast wieder die Kontrolle verloren, werde von Menschen verfolgt und befinde mich ohne irgendetwas hier im Wald, schließlich sind alle meine Sachen noch hoch oben im Baum. Zurückgehen und sie holen? Ausgeschlossen – auf eine zweite Begegnung mit den Kaufleuten bin ich nicht sonderlich erpicht. Bleibt also nur eine Lösung: weitergehen. Weiter den Wald durchstreifen und hoffen, einen Ausweg zu finden.

Mit wackligen Beinen stehe ich auf, lehne mich an einen Baumstamm und sehe in die Ferne, in der sich in der Dunkelheit die Umrisse rauer Rinde, Büsche und Sträucher aneinanderreihen, ein ewiges Geflecht, das sich weiter und weiter zieht, kein Ende nimmt. Der Wald ist gewaltig, er verspricht Schutz und Sicherheit – zumindest hat er das mal getan. Jetzt nehmen die Menschen mir auch ihn weg und ich habe nichts, wo ich bleiben kann. Ist es an der Zeit, etwas Neues anzufangen, neu zu beginnen und herauszufinden, wer ich bin?

Denn daran, dass die Erinnerungen einfach irgendwann schon wiederkommen werden, glaube ich selbst nicht mehr. Wenn ich wissen will, was damals passiert ist, dann muss ich das wohl selbst in die Hand nehmen.

Ich stoße mich ab und beginne zu gehen. Gehe und gehe, ohne Unterlass, weil ich Angst habe, dass ich, sobald ich anhalte, meine Meinung ändern könnte. Besser ist es, überhaupt nicht darüber nachzudenken.

Irgendwann habe ich den Waldrand erreicht. Vor mir breitet sich eine lang gezogene Ebene aus, nichts als Gras, so weit das Auge reicht. Die Landschaft ist ein wenig hügelig und verschlungene Pfade winden sich als ein braunes Band durch das saftige Grün. Zögernd blicke ich zurück. Die Bäume scheinen mich mit ihren Zweigen packen und wegziehen zu wollen, weg von dieser neuen Welt. Irgendwie habe ich das beklemmende Gefühl, dass ich den Wald nie wiedersehen werde. Davor fürchte ich mich, genauso wie ich mich vor dem Tal zu meinen Füßen fürchte. Ich lege mich hin und rolle mich zu einer kleinen Kugel zusammen für ein letztes Quäntchen Schlaf im Schatten der Baumkronen, bevor die Sonne aufgeht. Fast ein wenig wehmütig schließe ich die Augen.

Händler

»Schneller, verdammt, ihr alten Waschweiber!«, knurre ich und gerate ins Straucheln, als ich den Abhang hinunterhaste. Meine Gedanken überschlagen sich, als sie zu dem seltsamen Mädchen finden.

Es kann keines der Kinder aus dem Dorf sein! Die würden sich niemals so tief in den Wilden Wald wagen. Zu Recht, er ist viel zu gefährlich. Wie sie erst aussah. Vollkommen verwildert! Ihre Haare standen wie eine verfilzte Matte vom Kopf ab, als hätten sie noch nie einen Kamm gesehen. Auf ihrer Stirn prangte ein dunkler Streifen Erde, ihre Hände und Knie waren verdreckt und unter ihren Fingernägeln klebte Schmutz. Grüne Grasflecke bedeckten ihre kurze, zerrissene Hose ebenso wie das grobe Oberteil, das sicherlich auch schon sauberere Tage erlebt hat.

Weder Socken noch Schuhe trug sie an ihren Füßen und über das dünne Oberteil hatte sie nur einen fliederfarbenen Stofffetzen gezogen, der wohl an eine Jacke erinnern soll, jedoch vollkommen eingerissen, schmutzig und löchrig war.

Wenn sie schon länger hier zwischen den Bäumen verwahrloste, würde das ihr animalisches Verhalten erklären. Bloß die Augen – ihre Augen! Allein der Gedanke an sie lässt mich nun erneut frösteln. Sie waren so anders, so … abnormal. Dazu die gezackten Flügel, die aus ihrem Rücken ragten. Habe ich überhaupt einen Menschen vor mir gehabt?

Wie sie mir am Vortag ihre Faust in den Bauch gerammt hat – wie kann eine solche Kraft in diesen dürren Armen und dem ausgemergelten Körper liegen?!