Flügelschatten

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Z serii: Flügelschatten #1
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2


Der nächste Tag ist anstrengend. Nach einem spärlichen Frühstück mache ich mich daran, meine Umgebung zu erkunden, denn mein Instinkt sagt mir, dass es wichtig ist, alle Winkel genau zu kennen, jeden Pfad und jeden Weg, um sich bei Gefahr augenblicklich in Sicherheit bringen zu können. Also streife ich umher, husche leise und flink durchs Unterholz, springe über Wurzeln und Gräben. Anfangs macht es mir Spaß, überall hinzulaufen, beinahe schwerelos durch den Wald zu rennen, verträumt auf einer Lichtung zu liegen … mit der Zeit macht es mich nur noch traurig. Alles ist irgendwie ohne rechten Sinn, ich streune lustlos durch die Gegend, esse etwas, wenn ich Hunger habe, trinke, wenn ich Durst habe, schlafe, wenn ich müde bin. Sie langweilen mich rasch, diese gleichen Tage. Wie lange wird das wohl noch so weitergehen?

Im Wald habe ich viele Tiere gesehen – keines ist wie ich. Ich habe versucht, wie sie zu laufen, trotzdem passe ich nicht in den Bau eines Fuchses, die Hasen verliere ich irgendwann im Unterholz und größer als einer dieser Vögel bin ich ohnehin. Es stimmt mich wehmütig, wie sie ihre Flügel ausbreiten und einfach davonfliegen, wenn ich sie von ihren Zweigen aufschrecke. Eine ganze Schar von ihnen steigt dann in den Himmel auf und verschwindet.

Wie gern würde ich ihnen folgen, von dort oben auf den Wald mit seinen hohen Baumwipfeln hinabblicken, um mich nicht darum sorgen zu müssen, was unten auf der Erde geschieht.

Traurig blicke ich auf meine Flügel zurück, die ich nun nicht mehr zu bewegen wage. Ich werde all das hier wohl zu Fuß erkunden müssen.

Schon bald finde ich mich viel besser im Wald zurecht, weiß, wo ich die schmackhaftesten Beeren finden kann und wie der Fluss das Gebiet durchzieht. Obwohl ich diese Stellen häufig aufsuche, lässt mich ein dumpfes Ziehen in meiner Magengegend nicht in Frieden. Ruhelos streife ich zwischen den dicht stehenden Bäumen umher, meine Schritte sind auf dem weichen Waldboden nicht zu vernehmen, der Wind streicht mir um die Nase und ich lasse mich von meinem Geruchssinn leiten.

Jeder noch so kleine Luftzug trägt die verschiedensten Gerüche zu mir und ich kenne sie alle.

Mit einem Mal versteift sich mein Körper. Die Muskeln verkrampfen sich und ich nehme einen neuen Duft wahr, so verführerisch, dass es mich vollkommen überrascht. Ich atme tief ein. Er ist neu und doch uralt. Er kommt mir bekannt vor. Mein Körper übernimmt die Kontrolle, noch ehe ich weiß, dass ich sie ihm überlassen habe.

Ich will zu diesem Geruch. Ich muss.

Was kann es nur sein, das so unglaublich gut riecht? Ich beginne zu zittern, überwältigt von diesem Eindruck. Ungewollt blecke ich die Zähne und verenge meine Augen. Das Kratzen in meiner Kehle ist plötzlich und überdeutlich wieder da, wenngleich es an den letzten Tagen nur ein störendes raues Gefühl im Hals war. Meinen Beinen muss ich nicht befehlen, was zu tun ist. Ich renne bereits durch den Wald, pfeilschnell rase ich zwischen den Bäumen hindurch, springe geschickt über Wurzeln, dem Duft nach, der meine Sinne gleichzeitig vernebelt und auf das Äußerste schärft. Es fühlt sich an, als würde ich mich in ein neues Wesen verwandeln, schneller, konzentrierter, zielstrebiger.

Der Geruch wird stärker und ich bemerke, wie Speichel in meinem Mund zusammenläuft, ignoriere die Zweige, die mir scharf ins Gesicht peitschen. Alles rückt in den Hintergrund, alles wird nebensächlich und verliert an Bedeutung.

Schließlich spüre ich, dass ich fast da bin. Geduckt und leise nähere ich mich, dann bleibe ich abrupt an einem hochgewachsenen Baum stehen, die Nasenflügel gebläht, die Hände zwischen den gebeugten Knien. Unter meinen Fingern spüre ich das weiche Moos.

Es ist ein verletztes Tier. Ein Fuchs. Ich sehe ihn am Boden, er windet sich, aus einer Wunde unterhalb der Schulterlinie fließt Blut und verfärbt das Gras unter ihm.

Der metallisch süßliche Geruch steigt mir in die Nase und bringt mich um den Verstand. Ein Rudel wilder Feuerraben hat sich um den Fuchs geschart. Ihr flammendes Gefieder sieht aus, als würden sie in Brand stehen und von lodernden Flammen umgeben werden, was mich den Bruchteil eines Augenblicks lang glauben lässt, ein Feuer breite sich im Wald aus. Mit ihren langen und gebogenen Schnäbeln hacken sie erbarmungslos auf den Fuchs ein, und obwohl das Tier verzweifelt versucht, sich zu wehren, droht es von der Schar übermannt zu werden. Verzweifelt und verwundet schleppt es sich vorwärts, doch die spitzen Schnäbel der Raben sind unerbittlich und zwingen ihn zu Boden.

Tiefe Wunden picken sie in das Fell des Fuchses, das inzwischen blutgetränkt ist, und ich verliere die Beherrschung. Dunkelrote Flecken überall und ihr Geruch … dieser Geruch!

Langsam gehe ich auf die Szene zu. Das Kreischen der Feuerraben ist laut und aufgebracht, der Fuchs jault gequält. Im Todeskampf wälzt er sich hin und her. Blut, überall Blut, es … riecht … so … gut. Es ist, als würde ich von einer anderen Macht gesteuert werden, einer, die die Muskeln bewegt, die mich dazu veranlasst, bestimmte Handgriffe blitzschnell auszuführen.

Ich spreize meine Finger und spüre das unbändige Bedürfnis, sie um die Kehle des Fuchses zu schließen und zuzudrücken. Ich will sehen, wie seine Augen nach oben rollen, bis nur noch das Weiße zu sehen ist. Ich will, dass er zuckt, ein letztes Mal, der ganze Körper verkrampft, bis die Bewegungen erschlaffen. Bis er sich nicht mehr regt. Ich spüre bereits, wie meine Zähne sich in das Fell graben, und bilde mir den metallischen Geschmack auf meiner Zunge ein, eine unglaubliche Explosion, endlich, endlich das, was mich satt macht. Warmes Blut, pulsierend, sprudelnd.

Allein der Gedanke daran lässt mich alles um mich herum vergessen. Ich muss nur … muss es nur tun.

In mir drin fühle ich nichts. Rein überhaupt gar nichts. Keine Reue, Abscheu, Ekel. Da ist nur der Geruch von dem Blut und der schrecklich schöne Wunsch, es endlich kosten zu können. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich vorspringen, mit einem lauten Brüllen und Zähnefletschen die Feuerraben verscheuchen. Das ist meine Beute. Ich will diesen Fuchs! In meinen Ohren rauscht es, Schauer überkommen mich. Meine Gedanken werden lauter und lauter, bis sie mich anschreien und ich kaum zwischen den Stimmen unterscheiden kann.

Ich keuche auf. Blinzele. Einmal, zweimal, immer wieder.

Es ist so still geworden. Totenstill. Eben noch hat die ganze Welt sich in einem dunkelroten Licht gedreht und alles war schrill und verzerrt, und jetzt fühlt es sich an, als wäre sie angehalten worden. Verlangsamt. Ich spüre, wie ich meine Finger um etwas klammere. Verkrampft und fest. Was ist passiert? Ich starre nach unten und sehe den toten Fuchs in meinen Händen. Von den Feuerraben ist keine Spur zu sehen. Habe ich sie verjagt? Wann? Ich weiß nicht mehr genau, was tatsächlich geschehen ist und was ich mir nur eingebildet habe. Die Vorstellung, das verwundete Tier zu erwürgen … war sie Realität? Ich schüttele den Kopf, will aufstehen, aber kein Muskel gehorcht mir. Wie gebannt starre ich den toten Fuchs an, seine verdrehten Augen und die aus seinem Maul hängende Zunge. Die rote Flüssigkeit, die sich weiterhin auf seinem Fell ausbreitet. Ich berühre sie mit einem Finger, meine Bewegungen sind langsam, wie in Trance führe ich ihn zur Nase, atme ein.

Dieser Geruch ist wie eine andere Welt. Ich will nur probieren, nur einmal kosten. Ein einziger Tropfen, ein winzig … kleiner …

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich auf meinem Baum sitze, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und einen Finger an meinen Mund lege. Verwirrt sehe ich ihn an. Er ist blutverkrustet. Angewidert und erschrocken halte ich ihn von mir weg. Ein Blick zum Fuße des Baumes und mein Magen dreht sich. Die völlig zerfetzten und grotesk entstellten Überreste des Fuchses liegen dort.

Scharf ziehe ich die Luft ein, während mir heiß und kalt zugleich wird. Ich muss die Augen schließen und mich an dem Baum festklammern, will ich nicht rückwärts hinunterfallen. Mein ganzer Körper kribbelt und in meinen Ohren ist ein schrilles Fiepen. Habe ich das getan?! Wieso kann ich mich dann kaum daran erinnern?! Ich denke daran, wie ich von diesem betörenden Duft angezogen durch den Wald gehetzt bin. Blut. Es war das Blut, das mich angelockt hat. Das mich zu dem Schauplatz des Kampfes laufen ließ. Dann verschwimmt alles. Ich weiß noch, wie ich das Tier töten wollte, wie ich sein Blut trinken wollte. Ist das falsch? Ich weiß es nicht … Es kommt mir vor, als müsste ich mich schlecht fühlen. Als sollte ich angewidert sein.

Blut trinken. Ein Tier derart zu zerfetzen, das kann nicht normal sein! Selbst die gierigen Feuerraben hätten es nicht auf diese Weise zugerichtet.

Wieder muss ich schlucken, und als ich aufstoße und der Geschmack von Blut sich erneut in meinem Mund ausbreitet, drohe ich tatsächlich das Bewusstsein zu verlieren. Ich muss mich mies fühlen. Mir ist klar, dass ich das muss. Trotzdem will sich das schlechte Gewissen nicht einstellen.

Denk daran, wie gut es geschmeckt hat …

Nein! Nein, das darf ich nicht, das kann nicht richtig sein! Ich muss es bereuen, ich muss angeekelt sein.

Oder solltest überlegen, ob ein Feuerrabe vielleicht besser geschmeckt hätte.

Ich presse mir die Hände auf die Ohren, als würde das etwas an der Stimme in meinem Kopf ändern. Als könnte ich sie auf diese Weise zum Schweigen bringen. Sie verhöhnt mich. Wann immer ich versuche, mich daran zu erinnern, wie sich Reue anfühlt, ruft sie mir diesen metallischen Geschmack ins Gedächtnis und das unglaubliche Gefühl der Befriedigung, als ich meine Zähne in das Fell grub. Die endlose Erleichterung, als ich endlich das Blut an meinen Lippen spürte und wusste, dass mein Hunger gestillt werden konnte.

 

Nein, Feuerraben haben zu viele Federn. Blöd.

Sei still! Sei still, sei still, sei still!

Ich brauche einige Momente mehr, um mich so weit zu beruhigen, um nach unten zu klettern und mit spitzen Fingern die Fell­büschel hochzuheben. Ich muss etwas tun. Nur wohin damit? Wieder muss ich die Luft anhalten und all meine Willenskraft aufbieten, um nicht den Verstand zu verlieren. Aber dieses Mal hat der Geruch des Blutes keine solche Wirkung wie vorhin. Ich habe nicht länger Durst, kann mich abwenden.

Ich spüre etwas an meinem Kinn, fahre mit dem Ärmel der meines Oberteils darüber und schließe sofort die Augen. Noch mehr Blut.

Mit meinen bloßen Händen wühle ich schließlich die Erde auf und der dunkle Sand frisst sich unter meine Nägel, sodass sie splittern. Ich grabe ein tiefes Loch und stoße die Überreste des Fuchses hinein, um anschließend die Erde wieder darüberzuschieben, bis nichts mehr von seinem zerfetzten Fell zu sehen ist. Dann mache ich mich sofort auf den Weg zu dem kleinen Fluss. Zuerst muss dieses ganze Blut runter! Es klebt überall, in meinem Gesicht, an meinen Händen, auf meiner Kleidung. Unheilvolle dunkelrote Flecken, die leuchten und mir ständig aufs Neue vor Augen führen, was ich getan habe. Sie schreien mich an: Mörder!

Unwirsch presse ich die Lippen zusammen.

Ich sehe das glitzernde Wasser zwischen den Zweigen auftauchen und habe kurz darauf den schmalen Fluss erreicht. An dieser Stelle ist das Wasser flacher und seichter, Seerosen schwimmen auf ihm, es reflektiert das Sonnenlicht und Blätter bilden kleine Kreise auf der Oberfläche. Ich knie mich an das Ufer und versuche es krampfhaft zu vermeiden, auf mein Spiegelbild im klaren Wasser zu achten.

Trotzdem sehe ich, wie die dunklen violetten Augen unheilvoll leuchten. Zu den weißen, kinnlangen Haaren, die mein Gesicht einrahmen, sieht es grotesk aus. Ich starre hinab auf meine zierlichen Hände, die so Schreckliches getan haben, tauche sie komplett ins Wasser und reibe das getrocknete Blut ab, schrubbe heftiger darüber, als könnte ich dadurch die Tat von mir abwaschen. Als könnte ich die grässliche Stimme wegspülen, die das alles genießt. Ungeachtet dessen habe ich das Gefühl, als habe sich das unheilvolle Zeug in meine Haut gebrannt, es will kaum verschwinden, und als es schließlich das Wasser des Flusses verfärbt und er es davonträgt, wird mir schlecht.

Zögernd spähe ich über das Ufer. Irgendwie habe ich Angst, gänzlich in den Fluss zu steigen. Was, wenn ich auch davongeschwemmt werde? Dabei ist die Strömung nicht stark.

Nervös sehe ich mich um, selbst wenn nichts zu hören ist außer dem Singen der Vögel und dem Rauschen des Wassers, wenn es sich an Felsen bricht. Langsam wate ich ins Wasser hinein, die Strömung umfließt meine blassen Knöchel bis zu den Fesseln und meine Zehen graben sich in den schlammigen Grund, die Fische kitzeln mich. Zögernd kneife ich die Augen zusammen und lasse mich mit einem spitzen Schrei hineinfallen. Das Wasser schlägt über meinem Kopf zusammen und ich sinke wie ein Stein. Panisch reiße ich die Augen auf, meine blonden Haare umtanzen mich. Prustend und keuche strampele ich mich an die Oberfläche.

Schwimmen!

Ich rudere unbeholfen mit den Armen und paddle dazu mit den Beinen, um mich irgendwie über Wasser zu halten und zurück an das Ufer zu kommen. Panisch strecke ich eine Hand nach einer Schilfpflanze aus und klammere mich erstickt daran.

Japsend und keuchend ziehe ich mich am Ufer entlang, bis der Fluss an einer Stelle niedrig genug ist, dass ich sitzen kann, ohne zu ertrinken. Vorsichtig streife ich zuerst mein Oberteil und dann meine Hose ab. Mit den Händen reibe ich den Stoff aneinander, um so die schrecklichen Flecken herauszuwaschen, und werfe sie dann auf das Gras. Behutsam rutsche ich weiter in das Wasser. Es ist eiskalt und genau das brauche ich. Mein Kopf wird klarer und ich fühle mich langsam sauberer, je länger es über mich fließt. Ich tauche unter, wasche die Erinnerungen an das tote Tier weg. Wasche den Mord von meiner Haut, den Geruch des Todes, der sich in meinen Poren eingenistet hatte. Ich wasche und reibe und trotzdem fühle ich mich in meinem Inneren nicht besser.

Die Spuren sind von Haut und Kleidung verschwunden, aber in meinem Gedächtnis sind sie weiterhin wie schwarze Brandflecke, die ich nicht ausblenden kann. Da ist das Monster, das mich wie eine zweite Haut bedeckt. Ich keuche auf und stoße wieder an die Oberfläche, reibe mir das Wasser aus den Augen und seufze auf.

Was ist denn nur los mit mir? Warum bin ich nicht wie die anderen Lebewesen hier im Wald? Gibt es noch mehr von denen, die wie ich aussehen? Gibt es da draußen mehr von dem, was ich bin? Noch mehr mit diesen Augen? Vielleicht können die mir ja Antworten darauf geben, warum ich mich an nichts erinnern kann.

Ich muss sie nur finden.

Doch mein neu gewonnener Mut erstickt augenblicklich noch im Keim. Wo soll ich denn nur suchen? Der Wald ist schier endlos.

Missmutig klettere ich nach draußen und streife meine Kleidung wieder über. Sie ist zwar nass und klebt an meinem Körper, bei der wärmenden Sonne trocknet sie jedoch sicher schnell. Ein Vogel stößt einen merkwürdigen Laut aus, der Wind fährt durch die Äste und den Rest des Tages verstecke ich mich auf meinem Baum aus Angst, wenn ich herumstreune, könnte ich irgendeinem anderen Tier begegnen und es möglicherweise angreifen.

In der Nacht träume ich schrecklich.

Ich sehe Füchse mit blutrotem Fell, die eine kleine Gestalt auf einem Felsvorsprung umkreisen. Ihre Bewegungen sind forschend und überlegt, langsam ziehen sie den Kreis enger und enger. Die Gestalt in ihrer Mitte ist leichenblass, ihre Haut leuchtet wie milchiges Mondlicht und als sie den Kopf hebt, erkenne ich mich selbst. Meine großen dunklen Augen verschlucken mich, sehen mich kalt und erbarmungslos an. Mit einem Mal ändert sich ihre Farbe, sie werden rot. Rot wie Blut. Es leuchtet auf meiner Kleidung, in meinen Haaren, an meinen Händen.

Die Gestalt bemerkt es kaum. Ihr Blick ist starr und fest auf mich gerichtet und ich fühle mich, als würde ich der körperlosen Stimme in meinem Kopf gegenüberstehen. Als wäre das die Frau, die sie aus mir machen möchte. Ich will zurückweichen, doch meine Beine sind wie festgewachsen, ich kann mich nicht rühren, kann mich nicht aus ihrem bannenden Blick befreien.

Die Frau bleckt angriffslustig die Zähne und die Füchse wenden sich ebenfalls mir zu. Ihre glänzenden Augen blicken mich vorwurfsvoll und rachsüchtig an.

3


Der Weg führt mich wie jeden Morgen zum Fluss, der sich in einem langen, glitzernden Band durch den gesamten Wald zieht. Ich finde ihn früher oder später und es belustigt mich, sein steiniges Ufer stets an einer anderen Stelle zu erreichen. Grüne Wasserpflanzen ragen aus den Einbuchtungen hervor und die Kiesel an seinem Grund blitzen im Sonnenlicht. Ich klettere flink von einem großen flachen Stein zum anderen, gebückt, wie ich es mir bei einigen Tieren abgeschaut habe. Meine nackten Zehen finden Halt in den Ritzen und ich bewege mich bis zur Mitte vor. Lächelnd beobachte ich die Fische, die durch das Wasser schießen. Ihre silbrigen Schuppen schimmern wie ein Kettenhemd.

Kurz stutze ich über meine eigenen Gedanken – Kettenhemd? Wo kommt dieser Begriff her? Ich kenne ihn und dennoch kann ich mir das Bild dazu kaum ins Gedächtnis rufen. Eine Weile betrachte ich sie, meine Blicke flackern unruhig hin und her, dann schnelle ich mit meinem Arm vor und erlege einen zarten Goldschwimmer. Nach wenigen Versuchen habe ich genug gefangen, dass es für einige Mahlzeiten reichen wird.

Ich habe versucht, mich dagegen zu wehren, doch seitdem ich erstmals vom Blut des Fuchses getrunken habe, reichen mir die Wurzeln im Uferschlick oder die Kräuter und Strauchbeeren nicht mehr. Sie schaffen es zwar für eine gewisse Zeit, die Leere in meinem Magen zu füllen, aber es vergehen nur wenige Tage, bis ich wieder spüre, dass mein Verlangen damit nicht gestillt ist. Als ich es das erste Mal nach dem Vorfall mit dem Fuchs zu ignorieren versuchte, konnte ich regelrecht fühlen, wie ich schwächer wurde, und aus Angst, wieder die Kontrolle über mich zu verlieren, begann ich, in regelmäßigen Abständen Tiere zu erlegen.

Das zweite Mal Blut zu trinken war nicht minder unglaublich, indes konnte ich mich besser beherrschen. Ich zerfleischte mein Opfer nicht völlig und ich konnte mich gänzlich an die Tat erinnern. Keine gute Tat, das spüre ich. Habe ich eine Wahl? Vielleicht sind alle Wesen wie ich so. Und schließlich wollten auch die Feuerraben den Fuchs fressen. Es fühlte sich besser an und nachdem ich von dem Blut gekostet hatte, spürte ich förmlich, wie Energie durch mich hindurchjagte, und meine Laune besserte sich augenblicklich, deshalb bleibe ich nun dabei.

Gerade als ich die Fische bis auf ihre Gräten abgenagt habe und mir mit dem Handrücken über den Mund wische, dringen mit einem Mal seltsame Geräusche an mein Ohr. Ich stutze.

Ein Getrappel wie von Hufen und das Rascheln von Kleidern, ein Klappern, ein Klopfen … Ich springe sofort auf und laufe darauf zu. Zu meiner Verwirrung muss ich ein ganzes Stück durch den Wald rennen, ehe ich Bewegungen zwischen den Bäumen erahnen kann, dabei waren die Laute klar und deutlich, als kämen sie aus nächster Nähe.

Blitzschnell erklimme ich einen Baum und erreiche seine höchsten Äste. Aufmerksam spähe ich über die hohen Kronen. Da, Gestalten, die zwischen den mächtigen Stämmen umherwandern. Sie haben Karren bei sich. Karren und Wagen, gezogen von Pferden.

Lauernd folge ich den Wandernden und sehe nach Westen. Dort erkenne ich in einiger Entfernung rote, riesige Mützen. Von ihnen dringt ein merkwürdiger Lärm zu mir herüber, den ich nicht so recht einordnen kann. Was mag dort wohl sein? Könnte es vielleicht sein … Ich verschwinde wieder im Geäst und springe von einem der niedrigeren Äste, lande leichtfüßig auf dem weichen Waldboden.

Neugierig folge ich den Geräuschen.

In ausreichendem Abstand schleiche ich hinter den Gestalten her, verberge mich im Unterholz und halte nach ihnen Ausschau, ehe ich ihnen weiter lautlos nachlaufe. Plötzlich stehen die schützenden Bäume weiter auseinander, das Gestrüpp lichtet sich und ich merke, wie es heller wird. Ich nähere mich einer Lichtung. Einer riesigen Lichtung.

Abrupt halte ich inne. Die Gestalten laufen unbeirrt weiter und verlassen das Dickicht des Waldes, treten hinaus in das Licht. Ich blicke mich nervös um, spähe zurück in die grüne Dunkelheit, die mir vertraut ist. Noch nie habe ich mich weit genug vorgewagt, dass ich diesen Ort entdecken konnte. Schüchtern trete ich an den leichten Abhang heran und kann von ihm aus auf die kleinen Gebäude weiter unten blicken.

Sie sind aus Stein und Holz gefertigt, mit strohgedeckten Dächern und Fenstern, durch die man hineinblicken kann, und sie sehen groß und massiv aus. Bunte Punkte bewegen sich zwischen ihnen hin und her, ein kreisrunder Platz in ihrer Mitte muss wohl etwas wie das Zentrum zu sein, nach dem sich alles richtet. Er fällt mir sofort auf, ein freier Fleck inmitten des Häusermeeres, und dorthin strömen alle Gestalten. Auch die, denen ich bis hierher gefolgt bin.

Vorsichtig schleiche ich näher und beginne, den Abhang hinunter­zuklettern. Was mag das wohl sein?

Der seltsame Ort ist auf allen Seiten vom Wald umgeben, der im Norden und Osten längst nicht mehr so dicht und wild ist, wie ich es gewohnt bin. Er scheint in unmittelbarer Entfernung ein Ende zu nehmen. Das verunsichert mich. Ich habe den Wald noch nie verlassen …

Deshalb fühle ich mich auch seltsam nackt, als ich mich den Gebäuden nähere. Wo kann ich mich verstecken?

Im Schutze eines Hauses wage ich mich weiter heran, drücke mich eng an die Wand hinter mir. Meine Blicke huschen wachsam hin und her, so viele Geräusche umgeben mich, so viele neue Sinnesein­drücke, dass ich scharf Luft holen muss. Gedanken rasen mit einer fast schon schmerzhaften Geschwindigkeit durch meinen Kopf, alles ist mir ein wenig zu laut, ein wenig zu grell. Farben brennen in meinen Augen, merkwürdige Stimmen und Laute, die ich nie zuvor gehört habe, erfüllen die Luft.

 

Mein Herz setzt für einen Moment aus, als ich die Wesen, die über die gepflasterten Straßen wandeln und sich dabei fröhlich unterhalten, entgeistert anstarre. Sie sehen ja aus wie … ich!

Sie haben Beine und zwei Arme und einen Kopf mit langen Haaren. Und diese seidige, schrecklich dünne Haut, die auch mich umgibt. Mir klappt der Mund auf. Andererseits bewegen sie sich ganz anders! Ihr Rücken ist durchgedrückt, sie gehen kerzengerade und aufrecht. Vor allem scheint sich keiner von ihnen durch irgendetwas bedroht zu fühlen, dabei sind es so viele. So viele auf einem Haufen. Wie können sie sich nicht einmal umsehen, wie können sie derartig sorglos dahinschreiten?

Ich drücke meinen Rücken durch und nehme die Schultern zurück, versuche mich ihrer steifen Art anzupassen, falle jedoch schnell wieder in die alte Haltung. Irgendwie fühle ich mich auf diese Weise sicherer.

Der Wald ist groß, unendlich. Es kam mir vor, als wäre er alles, was es auf dieser Welt gibt. Nichts anderes außer grüne Wiesen, Bäume und moosbedeckte Lichtungen. Offensichtlich habe ich mich gewaltig getäuscht.

Geh lieber wieder weg! Das ist nichts für dich! Das sind Menschen!

Menschen. Ich probiere das Wort in meinen Gedanken aus und es kommt mir flüchtig bekannt vor. Bin ich auch ein Mensch? Denn auch wenn sie mir auf den ersten Blick ähneln, entdecke ich beim näheren Hinsehen zahlreiche Unterschiede. Ihre Augen sind anders. Sie leuchten nicht kräftig und dunkel wie meine und auf keinen Fall sind sie violett. Die Menschen reden die ganze Zeit, ihr Gewirr aus Stimmen ist fast schon zu laut für meine sensiblen Ohren und ich nehme Gesprächs­fetzen auf, denen ich keinen rechten Sinn entlocken kann.

»… müssen sicherlich ein Vermögen wert sein!«

»Um Himmels willen, bist du sicher? Ich wusste nicht …«

»Hast du schon gehört, dass die Tochter von …«

»Oh, guten Tag, ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet! Wollen Sie …«

Ich schaffe es kaum, mich auf eine Sache zu konzentrieren, schon ist da etwas Neues, das mich ablenkt. Das Leben der Menschen ist bunt und hektisch, sie eilen gehetzt über das Pflaster, haben kaum Zeit. Alle sind in Aufruhr, alle sind in Bewegung.

Gleichzeitig faszinieren sie mich. Sie sind so … anders.

Ich schleiche um das Haus herum und finde mich auf einer belebten Straße wieder. Lachend laufen Kinder an mir vorbei, aus den Fenstern blicken Gesichter, an Leinen, die von Dachfirst zu Dachfirst gespannt sind, hängen bunte Kleidungsstücke. Karren werden an mir vorbeigerollt, laute Stimmen rufen einander etwas zu, die Menschen winken. Ich drehe mich im Kreis, versuche alles in mir aufzunehmen, all die neuen Dinge.

Ein Netz aus staubigen Straßen windet sich durch das Dorf, die kleinen Häuser aus Sandstein mit den hohen Schornsteinen und grünen Fensterläden stehen dicht gedrängt aneinander, Blumen blühen vor den Fenstern, ein verführerischer Duft dringt aus dem Inneren.

Für den Großteil der Dinge habe ich nicht einmal einen Namen! Das Dorf ist chaotisch und unruhig und das löst einerseits eine unglaubliche Furcht in mir aus, weil alle durcheinander rufen, gleichzeitig macht dies es mir leichter, mich am Rande im Schatten der Häuser unbemerkt weiter vorzuwagen.

Es fühlt sich an, als könnte ich für den Rest des Tages nichts anderes tun, als die merkwürdigen Wesen zu beobachten. Die Menschen sind alle verschieden, ihre Haare gibt es in den unterschiedlichsten Farben und Längen, ebenso ihre Haut und Augen. Aber sie entmutigen mich auch. Denn trotzdem entdecke ich niemanden, der so aussieht wie ich oder der sich auch nur annähernd so leise, flink und angriffsbereit bewegt.

Weil du nicht wie sie bist.

Warum nicht? Was bin ich dann?

Kaum gedacht, verwerfe ich den Gedanken gleich wieder, denn die Gebäude um mich herum verändern sich. Verschnörkelte Buchstaben in bunter Schrift, abblätternde Farbe auf Schildern, kunstvoll verzierte Zeichen über den Türen. Ich wundere mich selbst, warum ich es lesen kann, denn es fällt mir nicht allzu schwer, die seltsamen Symbole zu entschlüsseln und zu Worten zu formen. Ich gelange auf einen großen Platz mit einer mächtigen, imposanten Statue in der Mitte. Sie zeigt einen grimmig blickenden Mann mit gekreuzten Schwertern, zu dessen Füßen Wasser in einem Becken plätschert. Ein Junge spritzt ein Mädchen nass, das kreischend und kichernd vor ihm davonläuft. Überall sind Stände mit bunten Markisen aufgebaut, Händler rufen mit lauten Stimmen und preisen die Waren an. Neugierig nähere ich mich ihnen. Bunte Glasprismen an einer Schnur aufgereiht, wozu soll das gut sein? Interessiert nehme ich einen dieser Gegenstände in die Hand, betrachte ihn und lege ihn dann auf meinen Kopf. Dazu vielleicht? Unmöglich. Das Licht spiegelt sich auf wundersame Weise in den Steinen, es malt einen zarten Regenbogen auf meine Hand und ich drehe sie begeistert hin und her.

Ein entsetzter Aufschrei lässt mich zusammenfahren. Die Frau mir gegenüber starrt mich mit schreckgeweiteten Augen an, presst sich eine Hand auf den Mund. Mein Herz verkrampft sich. Hat sie Angst vor mir?!

»Krupferl, frischer Krupferl!«

Ich fahre zusammen und wirbele herum. Ein Mann am Stand gegenüber wirbt mit lauter Stimme die Leute an und entblößt eine breite Reihe von Zähnen, als sich zwei junge Mädchen mit Körben voller Blumen am Arm nähern.

»Krupferl für die jungen Damen?«

Ich wende mich ab und stolpere zurück.

»Halt! Die Kette!«, ruft die Frau mir nach, ich kann nicht auf sie hören. Das Dorf wird mit der Zeit beängstigender! Die Häuser sind groß und es ist, als wollten sie mich unter sich begraben, als erdrückten sie mich. Die ganzen Menschen machen mir Angst, ihre Masse bedrängt mich und jetzt, wo ich mich zwischen sie gewagt habe, werden rasch mehr und mehr von ihnen auf mich aufmerksam.

»Bleib gefälligst stehen!«

Ich springe verschreckt zur Seite, als die Händlerin mir nachkommt, und rempele dabei eine füllige Frau mit zwei kleinen Kindern am Rocksaum an. Besorgt klappe ich die riesigen Schwingen eng an meinen Körper, damit sie nicht im Weg sind oder schlimmstenfalls weiter einreißen können. Die Geräusche schwellen mehr und mehr zu einem einzigen, undurchdringlichen Summen und Brummen an, die Stimmen sind schrilles Kreischen in meinen Ohren und meine Knie beginnen zu zittern. Panisch wirbele ich herum.

Du gehörst nicht hierher. Sie sehen, dass du anders bist.

Ja, sie müssen es sehen! Ich merke, dass die Frau mich noch immer im Blick hat, sie deutet auf mich und die Leute drehen sich nach mir um, reißen entsetzt die Augen auf.

Töte sie. Wie den Fuchs. Wie wäre es, wenn du ihre Kehle aufreißt? Dann würden sie nicht mehr so unerträglich laut sein. Was? Oh nein, ich muss … ich kann … wohin?! Ich drehe mich um die eigene Achse, schneller und schneller. Überall sind Menschen, drängen sich dichter an mich, die wogende Masse spült mich davon, weiter auf den Brunnen zu, ich kann mich aus dem Strom nicht befreien. In meinen Ohren fiepst es und meine Augen brennen.

Es ist leicht. Du bist schnell, sie sind unaufmerksam. Sie könnten sich nicht wehren.

Mir ist schlecht, das ist alles zu viel. Ihr Lachen, es ist so laut, so breit, so beängstigend. Ihre Bewegungen, ausladend, wirr. Ihre Schritte unbeholfen und schwer, ihre Kleidung raschelt, sie riechen, die Gerüche brennen in meiner Nase. Stechendes Parfüm, viel zu süß. Gebäck, schwer und fettig. Schweiß, durchdringend und ätzend.

Sie starren dich an.

Bitte nicht! Sie sollen mich nicht sehen, sollen mich in Ruhe lassen! Weg, weg von mir! Meine anfängliche Begeisterung schlägt in wilde Panik um. Die Eindrücke, die ich vorhin aus sicherer Entfernung aufnehmen und verarbeiten konnte, brechen nun wie ein Sturzbach auf mich ein und mehr und mehr Wesen scharen sich auf dem Platz um mich, mustern mich, schrecken zurück. Schreie werden laut. Ich fühle mich, als hätte ich eben noch am Ufer gestanden und das rauschende Wasser betrachtet, doch ein falscher Schritt, ein übermütiger Satz und ich stürze in die reißenden Fluten, in denen ich zu ertrinken drohe. Wie soll ich hier wieder herauskommen?! Verzweifelt sehe ich mich um.