Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?

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6

Elena

Wenn Elena eines in der Vergangenheit gelernt hatte, dann, dass Zeit nur eine Illusion war – ebenso wie Hoffnung. Denn eben jene war ihr kürzlich erst wieder geschenkt worden, nur, um sie ihr daraufhin direkt zu entreißen. Seit jenem Moment, als Bastian sie auf diese unglaubliche Reise mitgenommen hatte, zehrte ihr Verstand von diesen für sie wundervollen und kostbaren Augenblicken. Was für ein Geschenk war es gewesen, nicht mehr körperlos zu sein, mit ihm durch die Welt zu fliegen und all diese fantastischen Orte zu besuchen, die für ihn von solch großer Bedeutung waren. Das Gefühl von Schmetterlingen in ihrem Bauch, die sie behände durch den Himmel trugen, war ihr auch einige Zeit danach noch geblieben. Zu ihrem Gram war jedoch nichts von Dauer, auch nicht die Illusion von Glück.

Und so hatte sie gewartet, denn das war das Einzige, was sie konnte. Warten. Eine endlos quälende Zeit lang. Darauf, dass Bastian zu ihr zurückkehren würde, mit seinem Zauberpulver und den gelben Abenteuer-Gummistiefeln, um ihren Geist einzusammeln und sie aus ihrer Agonie zu erretten. Doch nichts dergleichen war geschehen, was sie nur trauriger stimmte, bis sie sich am Ende fragte, ob sie sich das alles womöglich nur eingebildet hatte? Aber wer wäre imstande, sich derart fantastische Geschichten auszudenken? Ein Verstand, der nicht mal mehr einen funktionierenden Körper besaß auf keinen Fall, da war sie sich sicher. Gut, beinahe.

Immerzu, seit die Schmetterlinge verschwunden waren, versuchte sie sich verbissen in das unglaubliche Gefühl hineinzuversetzen, als sie mit Bastian geflogen war. Geflogen! Was für ein verrücktes Unterfangen! Und doch flüsterte ihr die Bitterkeit seit geraumer Zeit erneut trübselige Gedanken ein und Elena war versucht, ihr zuzustimmen. Denn Fliegen war nur eine andere Bezeichnung für Fliehen und nichts anderes hatte sie getan. Sie war ihrem Gefängnis entflohen, hatte eine Kostprobe der süßen Versuchung Hoffnung gekostet und war süchtig geworden nach der Freiheit, die ihr doch niemals vergönnt sein würde.

Vielleicht wäre auch alles nicht so trostlos, wenn sie etwas anderes tun könnte, als immerzu nur nachzudenken. In ihrem Kokon gab es nichts außer ihren Grübeleien und die waren alles andere als hilfreich. Tatsächlich legte sich Elena dadurch nur noch mehr Steine in den Weg, die es zu beseitigen galt – irgendwann. Neulich hatte sie sich sogar vorgestellt, dass sie einen Fitnesskurs besuchte, nur um der Einbildung wegen, ihre Extremitäten bewegen zu können. Sie wünschte sich nun wirklich, seufzen zu können, allein um sich zu zeigen, wie dämlich das alles war. Möglicherweise war das aber auch nur der Anfang vom Ende? Begann so der Hirntod? War dies eine eher schleichende oder rasche Angelegenheit?

Elena hoffte in diesem Fall auf Letzteres, auch wenn es eine Wahl zwischen Pest und Cholera war, so siechte sie für ihr Empfinden ohnehin schon zu lange dahin. Zu ihrer Verteidigung musste sie jedoch zugeben, dass es sich manchmal tatsächlich so anfühlte, als könnte sie sich bewegen. Gut, es war eher so, als würde jemand wirklich nicht sehr Nettes tausende Nadeln in ihre Arme und Beine piksen. Aber wie hieß es doch so schön? Schmerz war ein Beweis, am Leben zu sein, was sich ziemlich schräg anhörte und doch in ihrer Situation so viel Sinn machte.

Jäh bäumten sich auf einmal die Schmetterlinge in ihrem Bauch auf und fingen an, umherzuflattern. Erst zaghaft, dann wurden sie mutiger, bis sie Elena völlig durcheinanderbrachten. Was war denn nun schon wieder los?

»Es war einmal ein Junge, der sich unter der Gewalt des Himmelszeltes klein und unbedeutend vorkam …«, hörte sie unverhofft die so herbeigesehnte Stimme von Bastian. Aus einem ersten Impuls heraus wollte sie ihm vor lauter Freude um den Hals fallen, immerhin bemerkte sie die Unmöglichkeit dieses Unterfangens im selben Augenblick. Allerdings änderte dies nichts an der Tatsache, dass sie plötzlich so aufgeregt war wie schon lange nicht mehr. Verflucht, könnte sie ihm doch nur irgendwie mitteilen, wie dankbar sie ihm war! Sie war so furchtbar nervös und auch gespannt, was sie heute wohl erwarten würde, dass sie erst allmählich realisierte, wie viel weniger Mühe es sie dieses Mal kostete, aus ihrem schwarzen Sumpf aufzutauchen und sich von Bastian auf den Wellen seiner Fantasie hinfort tragen zu lassen.

»… Doch vor allem interessierte ihn eines: Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?«, erklang erneut seine himmlische Stimme in den Tiefen ihres noch vorhandenen Verstandes, wo Elena als imaginäre Manifestation augenblicklich vor Freude auf und ab hüpfte. Ein wenig fühlte sie sich wie beim Start einer Achterbahnfahrt, sie fürchtete und freute sich zu gleichen Maßen auf das, was gleich folgte.

Bastian war heute aufgeregter als beim letzten Mal, als er seine Freundin Elena abholen ging, weil er ihr einen besonderen Freund vorstellen wollte, sodass er beinahe seine grünen Abenteuer-Gummistiefel vergaß und stattdessen seine ausgebeulten Panda-Hausschuhe trug, als er aus dem Haus ging. Postwendend machte er kehrt, zog sich in Windeseile um und dachte dieses Mal auch daran, sich die gelben Gummistiefel für Elena unter den Arm zu klemmen. Fröhlich pfeifend sprang er ihr regelrecht entgegen und freute sich über ihr bezauberndes Lächeln, mit dem sie ihn empfing.

»Endlich!«, sagte sie, ein klein wenig ungeduldig, nahm ihm ihre Stiefel ab und schlüpfte jauchzend hinein. »Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wohin es uns heute verschlägt!«

»Nichts anderes habe ich von einer erfahrenen Weltenbummlerin erwartet.«

Anstatt einer Erwiderung sah sie ihn lediglich an und runzelte schließlich die Stirn. »Ich frage mich allerdings, welchen fantastischen Ort es noch geben kann, nachdem du mir doch bereits alle gezeigt hast?«

Lächelnd zwinkerte er ihr zu und nahm sie an die Hand. »Das, meine wundervolle Elena, ist der Vorteil an einem bewanderten Geschichtenerzähler, wie ich es bin.« Sein Lächeln wurde breiter und Elenas Ungeduld größer. »Fantasie ist an keinen Ort gebunden. Vielmehr ist sie umso größer, je mehr Raum man ihr zugesteht. Und wenn man ein Träumer ist wie ich, dann gibt es keine Mauern mehr!«

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie irritiert.

»Die Welt hat keinen Zaun und die Realität keine Grenzen.« Dann blickte er nach oben. »Wieso sollten wir unsere Zeit hier vergeuden, wenn die Unendlichkeit in all ihrer Herrlichkeit vor uns liegt?«

»Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird«, flüsterte sie und sah nun auch ehrfürchtig zu den Gestirnen hinauf, die Bastian gerade in ein nächtliches Blau gebettet hatte.

»Richtig. Eines Tages werden sie mir ihr Geheimnis verraten, da bin ich mir ganz sicher!« Fröhlich pustete er ihr im selben Augenblick das Zauberpulver ins Gesicht und über den Kopf, anschließend tat er dasselbe bei sich.

»Und bis dahin versuchen wir unerschrocken, selbst eine Antwort darauf zu bekommen.«

Noch ehe Elena etwas erwidern konnte, flog sie auch schon, dieses Mal jedoch viel schneller als bei ihrem letzten Abenteuer. Erschrocken über die unerwartete Geschwindigkeit, schnappte sie hörbar nach Luft und klammerte sich an Bastian fest. Als sie bemerkte, dass sie sich etwas zu hysterisch verhielt, senkte sie betreten den Kopf, obwohl ihr dadurch ständig die Haare ins Gesicht wirbelten. »Tut mir leid«, murmelte sie und versuchte sich dabei zu beruhigen. »Vermutlich passiert das allen Fluganfängern?« Noch etwas unsicher löste sie ihren Griff und konzentrierte sich auf die Berührung seiner Finger in ihrer anderen Hand.

»Natürlich, sei dir sicher, dass du die tapferste aller Flugneulinge bist, mit der ich je meine Gummistiefel geteilt habe!« Sein fröhliches Lachen ging ihr durch und durch und es hatte sogleich eine beruhigende Wirkung auf sie. Sie mochte seine kleinen Scherze und seine ungezwungene Fröhlichkeit so sehr, dass sie ihm den ganzen Tag zuhören könnte, selbst wenn er nur aus dem Telefonbuch vorlesen würde.

»Selbstverständlich ist es nicht nötig, das Tempo anzuziehen, doch meine Ungeduld spielt mir Streiche. Ich kann es kaum erwarten, dir meinen langjährigen Freund vorzustellen!«

Elena grübelte angestrengt darüber nach, welcher Freund sich um Himmels willen in der Luft befinden könnte. Noch während sie weiter darüber nachdachte, bemerkte sie eine kaum spürbare Veränderung ihrer Umgebung. Sowie sie aufsah, stellte sie überrascht fest, dass sie sich nicht mehr wirklich in der Luft befanden, auch nicht mehr in der Erdatmosphäre, vielmehr schwebten sie gerade in der atemberaubenden und sehr einschüchternden Weite des Weltalls. Das All! So richtig und wahrhaftig! Und sie beide verharrten bewegungslos und winzig klein in einem Meer voller Wunder.

»Du kannst den Mund wieder schließen.« Kichernd stupste Bastian sie an.

Richtig. Sie war derart mit Staunen beschäftigt, dass sie wohl recht undamenhaft dabei aussah. Jäh fiel ihr etwas anderes ein. »Apropos Mund schließen, wieso kann ich hier atmen?«

»Na ja, ich schätze aus demselben Grund, warum du fliegen kannst«, erwiderte er grinsend.

»Das macht Sinn.« Im Grunde tat es das nicht wirklich, nichts von alldem machte irgendeinen Sinn, aber wer war sie schon, dass sie sich um ein weiteres sicherlich grandioses Abenteuer bringen wollte? »Ich schätze, wir werden also auch nicht erfrieren oder irgendeinen anderen schmerzhaften Tod sterben?«

Gespielt empört schüttelte er den Kopf. »Was wären das für schlechte Fantasien, wenn sie uns derart übel mitspielen würden?«

Richtig. Es war ihr Spiel, sie machten die Regeln. »Und wo ist dein Freund nun?« Der Anblick der schimmernden und hier und da aufleuchtenden Unendlichkeit war so unbeschreiblich, dass Elena kaum die richtigen Worte dafür fand.

 

»Er lebt etwas weiter weg, doch keine Sorge, es ist ein Katzensprung für uns.«

»Wohl eher ein Fingerschnippen?«

»Richtig.« Erneut lachte er und Elena bemerkte, dass ihr plötzlich wohlig warm wurde. »Der Name meines Freundes ist Thuban. Du kannst ihn von hier aus sehen.«

Gespannt folgte sie Bastians ausgestrecktem Arm, doch in der angezeigten Richtung befanden sich nichts weiter als unzählige Sterne. »Ich kann nichts erkennen?«

»Ich helfe dir ein wenig.«

Auf einmal leuchteten einige der Sterne greller auf als die restlichen. Bastian fuhr sie mit dem Finger nach und zauberte so eine Linie hervor, die vierzehn Gestirne miteinander verband. Und dann sah sie es. »Thuban ist ein Sternbild?«

»Er ist ein Teil davon, ja. Genauer gesagt, der Hauptstern.«

»Und von welchem?« Sie drehte sich in alle Richtungen, machte Purzelbäume in der Schwerelosigkeit, doch ihre Vorstellungskraft reichte nicht wirklich aus, um das herauszufinden.

»Draco, Draconi, oder wie wir sagen – Drache.«

»Wow. Und du warst schon einmal dort?«

»O ja, schon viele Male! Seit ich ein kleiner Junge bin und Thubans Welt entdeckt habe, besuche ich ihn und sein Volk so oft es geht.«

»Ihn? Sein Volk?« Nun war Elena völlig durcheinander. Hatten Sterne Völker? Und wie sollte das funktionieren? Bekamen Sterne etwa Babysterne? Gab es Sternenkitas und wie bekam sie all diese schrägen Gedanken wieder aus ihrem Kopf?

»Thuban gehört zum Sternbild des Drachen, doch er ist viel mehr als nur ein greller, selbstleuchtender Himmelskörper. Er ist der Wächter zum Eingang in die Drachendimension, die man lediglich durch das Sternbild hindurch betreten kann. Und das auch nur, wenn Thuban es gestattet und einen für würdig genug hält. Außerdem war er vor etwa fünftausend Jahren auch der Polarstern.«

»Er ist ein … Lebewesen?«

»Ja sicher. Ein Drache. Das sagte ich doch.« Grinsend schnippte Bastian mit den Fingern und binnen eines Wimpernschlages befanden sie sich wahrhaftig inmitten eines gleißenden Strudels aus Licht, Gas und Plasma.

Der irrwitzigerweise zu ihnen sprach.

7

Elena

»Sei gegrüßt, mein alter Freund«, ertönte eine tiefe, wohlklingende Stimme aus dem Nichts und Elenas Herz begann erneut vor Aufregung wild zu hüpfen.

»Thuban, wie schön, dich wiederzusehen!« Auf Bastians Gesicht legte sich ein Ausdruck glückseliger Zufriedenheit, während Elena noch immer herauszufinden versuchte, woher die Stimme kam. Zumindest hatte sie wieder so etwas wie einen gummiartigen Grund unter den Füßen.

»Wie ich sehe, hast du Besuch mitgebracht?«

Bastian nickte und sah lächelnd zu ihr. »Darf ich dir meine Freundin Elena vorstellen?«

»Willkommen in der Welt der Drachen, Elena. Ein Freund Bastians ist auch unser Freund!«

Noch immer wusste sie nicht, wer da sprach, daher sah sie sich hektisch um, doch das Wabern der puren Energie um sie herum blendete sie zu sehr, als dass sie tatsächlich etwas erkennen konnte. Ihr Gehirn musste momentan so viele Dinge gleichzeitig akzeptieren, allen voran die Tatsache, dass sie noch lebte, obwohl sie sich im Inneren eines Sterns befand. Eines sprechenden Sterns wohlgemerkt. Da grenzte es geradezu an ein Wunder, dass ihr Verstand überhaupt noch funktionierte.

Doch dann zeigte sich Thuban. Direkt vor ihnen manifestierten sich zuerst nur die Konturen – riesige, gewaltige Konturen, die jedoch sogleich eine feste Form annahmen. Vor ihr stand wahrhaft ein ausgewachsener Drache, dessen Körper von orangefarbenen Schuppen in allen möglichen hellen und dunklen Nuancen bedeckt war. Die Flügel verharrten in halb ausgestrecktem Zustand und ihre Beschaffenheit erinnerte Elena an die von Fledermäusen. Nur etwas größer – sehr viel größer! Die vertikalen, spitz zulaufenden, grellgelben Pupillen, die seitlich in dem kantigen, eher schlangenartigen und mit zwei Hörnern ausgestatteten Kopf saßen, musterten sie eingehend, während er seltsame Geräusche von sich gab. Schnupperte er etwa? Das runde Maul glich wiederum mehr dem von Echsen, insofern sie sich korrekt an deren Anatomie erinnerte, jedenfalls. Was auch immer da vor ihr stand, es war keine Einbildung, sie sah es mit eigenen Augen und konnte es dennoch nicht fassen.

Eingeschüchtert taumelte sie einige Schritte rückwärts, wobei sie den Kopf in den Nacken legte, um Thuban in all seiner Pracht sehen zu können. Dabei stolperte sie und fiel der Länge nach auf ihren Hintern. Schmerzerfüllt verzog sie das Gesicht und war dennoch nicht in der Lage, ihren Blick von dem Drachen zu lösen. »Wow«, murmelte sie in Ermangelung passender Worte. Solch eine Begegnung kam schließlich nicht alle Tage vor.

»Ich glaube, du hast sie erschreckt«, sagte Bastian und gab glucksende Geräusche von sich. Lachte er sie etwa aus?

»Das lag selbstverständlich nicht in meiner Absicht«, antwortete Thuban entschuldigend und breitete im selben Augenblick seine monströsen luziden Schwingen aus. Der Windstoß, der Elena daraufhin die Haare aus dem Gesicht fegte, hätte sie garantiert umgeworfen, wenn sie nicht ohnehin bereits auf ihrem Allerwertesten gesessen hätte. Aus einem Reflex heraus hielt sie den Atem an, da seine Klauen direkt auf sie zu schnellten. Oder sagte man Vorderpfoten? Übergroße Adlerklauen-Füße? Weiter kam sie mit ihren Überlegungen nicht, da sich selbige unvermittelt um ihren Körper schlossen. Erschrocken schrie sie auf, als die raue, ledrig anmutende Haut ihr Gesicht streifte und es plötzlich finster wurde, weil seine massiven Krallen sie gänzlich umschlossen.

»Keine Angst, es geht nur so«, hörte sie den Drachen dumpf in ihr momentanes Gefängnis durchdringen, dann wurde sie jäh von einem starken Schwindel übermannt, der jedoch binnen Sekunden sogleich wieder verschwunden war. Als sich die Klauen öffneten, benötigte Elena einen verwirrten Moment lang, um zu realisieren, wo sie sich befand. Fassungslos blinzelte sie mehrmals, doch das Bild, das sich ihr bot, wollte sich nicht ändern, egal wie oft sie es versuchte.

»Bitte verzeih den holprigen Ritt, jedoch ist es mir als Wächter meiner Welt nur so möglich, Besucher hierher zu geleiten.« Thuban verzog seine Lefzen zu einem bizarren Grinsen, das eher gruselig als tröstend auf sie wirkte. Aber das war es nicht, was sie vor Ehrfurcht hatte innehalten lassen.

»Drachen«, murmelte sie. »So viele von ihnen!« Sie musste es laut aussprechen, weil sie glaubte, sonst verrückt zu werden. In einigen Metern Abstand standen wahrhaftig viele von ihnen in unterschiedlichen Größen und Farben. Und alle starrten sie unverhohlen an. Mit einem beklemmenden Gefühl schluckte sie gegen das Kratzen in ihrer Kehle an.

»Klar, du hast doch in der Drachendimension sicherlich keine Vögel erwartet?«, sagte Bastian fröhlich.

»Natürlich nicht.« Wahrscheinlich hätte sie mehr fremde Dimensionen besuchen sollen, um darin Erfahrungen zu sammeln. Als sich zwei weitere dieser Wesen zu Thuban gesellten, wich Elena automatisch erneut einige Schritte zurück. Das war doch etwas anderes, als wenn ein kuscheliger, verspielter Hund auf sie zugerannt käme.

»Das sind Alwaid und Etamin«, stellte Bastian den gelbgrünen und den rotfarbenen Drachen vor, die in etwa dieselbe Größe besaßen wie Thuban. Etamins rotes Schuppenkleid leuchtete jedoch um einiges stärker als das aller anderen Drachen, als würde er von innen heraus regelrecht strahlen.

»Ich glaube, sie mag uns nicht«, sagte er an die anderen gerichtet.

»Gib ihrem Verstand Zeit, alles zu verarbeiten«, ermahnte Thuban ihn.

»So klein, wie dieser bei Menschen ist, könnte sich das noch Jahrhunderte hinziehen. Dafür haben wir keine Zeit!« Etamin wandte sich schnaubend ab und stapfte zu den restlichen Drachen davon.

»Habe ich ihn wütend gemacht?«, fragte Elena leise und schämte sich dafür, sich vor solch wunderschönen Kreaturen geängstigt und sie dadurch eventuell gegen sich aufgebracht zu haben.

»Nein. Etamin ist wegen eines anderen Problems ungehalten.« Seufzend deutete Thuban auf eine Seite der riesigen Felshöhle, in der sie sich befanden. Plötzlich leuchtete diese Wand auf und winzige Lichtpunkte flogen darauf wild umher, bis sie ein Bild formten. Interessiert versuchte Elena herauszufinden, was es damit auf sich hatte.

»Ist das Herkules?« Bastian rieb sich das Kinn, während er die Augen zusammenkniff. Wie um alles in der Welt konnte er aus einem Haufen Punkte auf einen muskelbepackten Kevin Sorbo schließen?

»Das ist er.« Thuban stieß heiße Luft aus seinen Nüstern, die Elena streifte und zu ihrer Verblüffung roch wie heimeliges Kaminfeuer. »Er macht mal wieder Probleme.«

»Herkules ist auch ein Sternbild«, klärte Bastian sie auf.

»Natürlich.« Räuspernd blickte sie rasch zur Seite, damit keiner von ihnen ihre sicherlich hochroten Wangen sehen konnte. Kevin Sorbo. Zum Glück hatte sie das nicht laut ausgesprochen. Manchmal wäre es recht praktisch, einen Führerschein zum Denken machen zu müssen.

»Was missfällt ihm denn dieses Mal?«, wollte Bastian von dem Drachen wissen.

»Nun, er echauffiert sich unsinnigerweise darüber, dass er seit Jahrtausenden von uns angestarrt wird, und fasst dies als reine Provokation auf.«

Fragend blickte Elena zwischen Bastian und den Drachen umher. Wovon zum Teufel redeten sie nur?

Thuban schien ihre Irritation zu bemerken, denn er deutete erneut auf die Felswand, auf der nun zwei Sternbilder erschienen. Das des Drachen kannte sie bereits, darunter formte sich jedoch noch ein anderes. Herkules, wie sie annahm, auch wenn es eher aussah wie die Figur des Zappelphilipps aus einem ihrer alten Kinderbücher. »Diese vier Sterne hier unten, genau gegenüber von Herkules, bilden den Kopf des Drachen, wobei Alwaid und Etamin die Augen darstellen«, erklärte Thuban und Elena verstand es endlich.

»Und weil sich Herkules direkt darunter befindet, fühlt er sich nun von euch gestalkt?«

»Ge-was?«

»Beobachtet«, murmelte sie verlegen.

»Richtig. Und nun verlangt er von uns, dass wir uns neu formieren, um ihm nicht länger zur Last zu fallen.« Thuban deutete auf die anderen Drachen in der Höhle.

»Das ist auch der Grund, weshalb sich der Rat zusammengefunden hat. Die Mehrheit hat das ewige Genörgel Herkules’ satt und möchte sein Antlitz vom Himmelszelt löschen.«

»Aber das könnt ihr doch nicht tun?« Fassungslos schüttelte Bastian den Kopf.

»Nun, dieser Meinung bin auch ich, nicht jedoch meine Brüder.« Thuban ließ sich zu Boden plumpsen und wirkte auf Elena auf einmal schrecklich müde und erschöpft. Fast schien es, als hätte sogar sein farbiges Schuppenkleid an Intensität verloren.

»Die Problematik liegt vielmehr darin, was Herkules imstande ist, zu tun. Ihm untersteht eine gewaltige Armee, die jeden von uns auslöschen könnte. Meine Brüder sind daher der Auffassung, dass wir zuerst zuschlagen sollten, bevor er seine Männer mobilisieren kann. Dennoch bedeutet das nichts anderes als den sicheren Tod vieler treuer Gefährten.« Thubans massiver Kopf sank nun ebenfalls zwischen seinen Pranken zu Boden. »Viele Sterne würden dann für immer erlöschen und wären unwiderruflich aus dem Geflecht des Universums ausradiert.«

»Das darf nicht passieren!« Nun ließ sich auch Bastian auf den steinigen Grund an Thubans Seite sinken.

»Wie können wir helfen?« Elena hatte nicht die geringste Ahnung von den Verbindungen der Sternbilder untereinander, doch sie wusste, dass diese Dimension mitsamt ihren Bewohnern etwas Besonderes war, das um jeden Preis geschützt werden musste. Sie weigerte sich vorzustellen, welche Leere sich in den Herzen der Menschen ausbreiten würde, wenn der Himmel aufhören würde zu leuchten, weil er allmählich starb.

»Nun, ich fürchte, überhaupt nicht.«

Das wollte sie auf keinen Fall gelten lassen. Fieberhaft grübelte sie nach, was es für Lösungen geben mochte, bis sich ihr die simpelste förmlich aufdrückte. »Was ist mit dem Offensichtlichen? Ist das, was Herkules verlangt, denn wirklich nicht realisierbar?«

Thubans wuchtiger Kopf fuhr hektisch auf, wobei er jede Menge trockene Erde aufwirbelte. »Wir sollen nach all den Jahrtausenden nicht mehr in unserer gewohnten Pracht erstrahlen, nur weil ein streitsüchtiger Möchtegern-Held sich belästigt fühlt?« Ungläubig sah er auf sie hinab.

»Ähm. Ja?«, antwortete sie zögerlich.

 

»Das kommt niemals infrage!« Thuban stemmte sich wieder auf alle viere hoch und der Boden unter ihnen vibrierte in Anbetracht seines Gewichtes.

Bastian stand ebenfalls auf und kam mit hängenden Schultern zu ihr. Sie sah ihm deutlich an, wie traurig er war. Es musste ihn sehr belasten, seinen guten Freund in solch einer Not zu wissen. »Also ist in dieser Angelegenheit nichts mehr zu machen?«, fragte er den Drachen vorsichtig.

»Ich fürchte nicht. In der Grube findet zwar gleich eine Anhörung statt, doch ich gehe nicht davon aus, dass wir zu einer Einigung gelangen.«

»Herkules kommt hierher?«

»Ja. Ich folge wohl besser meinen Brüdern. Ihr könnt gerne mitkommen, wenn euch die stundenlangen Phrasen eines vergessenen Helden nicht auf die Nerven gehen.«

»Was ist die Grube?«, fragte Elena ein wenig besorgt, während sie an Bastians Arm Thuban aus der Höhle hinaus folgte. Egal woran sie dachte, nichts davon wollte positiv klingen.

»Wir würden es vermutlich am ehesten mit einem Gerichtssaal vergleichen. Nun sind Drachen jedoch von Natur aus ein äußerst temperamentvolles Volk. Wände, Decken oder jegliche anderen Gegenstände sind daher in ihrer Gegenwart ziemlich ungeeignet, wenn sie in Rage sind. Sie speien dann ständig Feuer, weswegen alles sich in ihrer Nähe Befindliche in Flammen aufgeht. Im Laufe der Zeit hat sich die Grube schließlich als geeigneter Versammlungsort herausgestellt, da es dort außer Felsen und einigen Kristallen nichts weiter gibt, was sie kaputt speien können.«

»Das ist doch alles verrückt, ich –« Mitten im Satz erstarrte sie jäh. Sie war derart in ihre Unterhaltung mit Bastian vertieft gewesen, dass ihr nicht aufgefallen war, wie sie den Ausgang der Höhle erreicht hatten. Nun stand sie auf einer Art Plattform, die sich Hunderte Meter in der Luft befinden musste. Was ihr jedoch den Atem raubte, war der Ausblick, immerhin bekam man nicht oft im Leben die Chance, in den Weiten des Universums durch ein Sternbild zu gehen, um dann in das Herz einer Drachendimension zu blicken.

So wie die Wesen gewaltig waren, die hier existierten, war auch alles andere riesig. Bäume mit Stämmen aus tiefroter Rinde und seltsamen, dreieckig geformten Blättern, wuchsen aus dem Abgrund weit über die Plattform hoch hinaus. Als schaute Elena in die Tiefen eines undurchdringlichen Dschungels, war ein Großteil dieser Dimension, jedenfalls von dem, was sie erblicken konnte, mit Grün überwuchert. Zwischen dem farbenfrohen Blätterdach verschiedener Pflanzen stiegen immer wieder Rauchwolken empor, deren Ursprung sie nicht benennen konnte. Es war ihr nicht möglich, den Boden zu sehen oder was sich sonst noch alles unter den Wipfeln der Bäume und im Schutz deren Blätter befand.

In der Ferne konnte sie eine Felsformation ausmachen, deren purpurrote Farbe ihren Blick magisch anzog, was vermutlich an den Silhouetten einiger Drachen lag, die gemächlich ihre Kreise um die Spitze zogen. Obwohl sie nirgends eine Sonne sah, war es hell und auch angenehm warm. Sie hatte keine Ahnung warum, doch Elena hatte sich unter der Heimat von Drachen eher eine karge, finstere und kalte Welt vorgestellt, voller Felsen, Schluchten und Magma speienden Vulkanen, nicht jedoch diesen wundervollen Ort, der vor Leben und Energie nur so strahlte.

»Wenn ihr mit zur Grube kommen wollt, dann müsst ihr nun aufsteigen«, unterbrach Thubans tiefe Stimme ihre Schwärmerei.

»Aufsteigen?« Mit großen Augen sah sie Bastian an.

»Na sicher, es gibt nur eine Sache, die besser ist als Fliegen – auf einem Drachen zu reiten!« Seine Augen leuchteten aufgeregt, dann nahm er sie an die Hand und nickte Thuban zu. Im nächsten Moment schnippte er mit den Fingern und schon saßen sie sicher auf dem Rücken des Tieres, das sogleich seine Schwingen ausbreitete, um abzuheben. Wieder wirbelte er dabei jede Menge Staub und kleine Steinchen auf, doch Elena war viel zu abgelenkt von der Unglaublichkeit, die sich gerade abspielte. Sie flog auf einem Drachen, einem richtigen Drachen!

»Na, habe ich zu viel versprochen?«, rief Bastian ihr zu, der hinter ihr saß und sie sicher in seinen Armen hielt. »Allerdings solltest du vielleicht nicht nach unten sehen.« Lachend jauchzte er mit jedem Flügelschlag um die Wette.

Seine pure Freude war ansteckend und so ertappte sie sich dabei, wie sie sich ebenfalls von Bastians Welle aus Glück und Unbeschwertheit hinfort treiben ließ. Selbst als sie bemerkte, wie hoch Thuban sie bereits gebracht hatte, verspürte sie keine Angst, da sie viel zu fasziniert von der fremden Flora war. Außerdem war sie Bastian dankbar, dass er sie nicht mit einem weiteren Schnippen seiner Finger einfach zu der Grube transportiert hatte, sondern ihr dieses einmalige Erlebnis zugestand. Der Flugwind wirbelte ihr Haar durcheinander und kratze rau an ihren Wangen, doch das spielte für sie keine Rolle, denn noch nie hatte sie sich derart frei und unbeschwert gefühlt wie in diesem Augenblick.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit auf die purpurfarbenen Felsen zugeflogen waren, die sie vorhin in der Höhle gesehen hatte. Es beeindruckte sie, wie schnell Thuban diese Distanz zurückgelegt hatte, doch viel mehr war sie traurig, dass der Flug bereits wieder vorbei war. Sie hätte Stunden auf dem Rücken des Drachen verbringen können und lächelte selig bei der Vorstellung, denn das war das komplette Gegenteil ihres derzeitigen Schicksals, in dem sie in ihrem eigenen Körper gefangen war.

Thuban stellte seine Schwingen steiler und begann mit dem Landeanflug. Fasziniert von der zerbrechlich wirkenden Täuschung der tatsächlich sehr robusten, durchscheinenden Flügel, war sie versucht, sie anzufassen. Allerdings wusste sie nicht, ob er sich darüber ärgern würde, sie jedenfalls fände es nicht berauschend, von Fremden einfach so betatscht zu werden.

Also widerstand sie der Versuchung und wagte einen Blick nach unten. Die Grube war nicht wirklich nur ein Loch, vielmehr sah sie wie ein gewaltiger Krater aus.

Entweder war hier vor langer Zeit ein ziemlich dicker Brocken eingeschlagen oder es gab tatsächlich Vulkane in der Drachendimension, dieser hier wäre dann allerdings längst erloschen. Auch im Inneren des Versammlungsortes war das Gestein purpurrot, was jedoch im Moment Elenas sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zog, waren die Kristalle, die überall wuchsen. Wie massige Rubine sprossen sie aus der roten Erde, hafteten am Gestein oder lagen achtlos auf dem Boden herum. Das Licht spiegelte sich in ihnen wider und streute in alle Richtungen, sodass es aussah, als befände sich die Grube unter einer flammenden Kuppel.

»Ist das nicht ein wundervoller Anblick?« Bastian zog sie ein klein wenig enger an sich und legte sein Kinn auf ihre Schulter. »Ich war schon so oft hier, doch jedes Mal fühlt es sich an, als hätte ich noch nie solch eine Schönheit gesehen!«

Er hatte wieder mal die perfekten Worte für das gefunden, was auch sie empfand. »Es ist unglaublich«, sagte sie abgelenkt, weil sie nun die Drachen sah, die sich in der Mitte der Grube versammelt hatten. Die Natur in dieser Dimension mochte eher zu Rottönen tendieren, doch die Lebewesen gab es in allen nur erdenklichen Farben. Elena sah Drachen in gelb, blau, grün, sogar einen in weiß und schwarz, von den unzähligen Mischfarben ganz abgesehen. Und es schien in diesem Spektakel auch so etwas wie eine Rangordnung zu geben, denn sie bemerkte, dass die größten Drachen vorne standen, während die kleinsten außerhalb auf Felsblöcken bleiben mussten.

»Sie wachsen umso mehr, je wichtiger ihr Platz in der Gemeinschaft ist«, sagte Bastian hinter ihr, der wieder allein an ihrem Schweigen gemerkt haben musste, über was sie nachdachte. In diesem Augenblick fühlte sie sich derart glücklich und zufrieden, dass sie sich wünschte, nie mehr von hier fortgehen zu müssen.