Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?

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4

Elena

Wenn die Träume einem Flügel verliehen, dann fragte man nicht, weshalb. Elena akzeptierte das ungewöhnliche Geschenk und ließ sich glückselig von Bastians Zauber durch die Nacht tragen. Auch wenn sie keine Schwingen besaß, so fühlte sie sich wie ein Engel, der von weit oben auf die zerbrechlichen Seelen der Menschen hinabsah. Jedoch mehr im übertragenen Sinn, denn in Bastians Geschichte war es jäh dunkel geworden, sodass sie lediglich winzige Ansammlungen von Beleuchtungen am Boden wahrnahm. Dennoch ängstigte sie die Nacht nicht, im Gegensatz zu ihrem geistigen Gefängnis war diese hier nicht durchdringend und beklemmend, nein, sie war offen und frei – genauso wie Elena in diesem Augenblick.

»Gefällt es dir?«, fragte Bastian und lächelte sie dabei verschmitzt an.

»Und ob!« Als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, drehte und wendete sie sich mit weit ausgestreckten Armen jauchzend in der Luft. Sie hieß den kühlen Wind willkommen, der ihr Haar durcheinanderbrachte und sie nach all der Zeit spüren ließ, noch am Leben zu sein.

»Weißt du denn, wo wir sind?« Bastian verharrte schwebend weit über den unzähligen Lichtern einer ihr nicht bekannten Großstadt und wartete sichtlich gespannt auf ihre Antwort.

»Aber wie könnte ich das wissen ohne einen Anhalt?« Lachend vollführte Elena einen Salto, nur, um sich direkt im Anschluss kopfüber einige Meter tiefer fallen zu lassen.

»Du verrücktes Huhn!« Kichernd flog Bastian zu ihr. »Sagt der mit dem Zauberpulver.«

»Nur das Beste für dich!« Mit einer raschen Handbewegung deutete er eine Verbeugung an, woraufhin sie in sein Lachen einfiel. »Daher habe ich diese Stadt als Ausgangspunkt für unsere Reise ausgesucht.«

Nun blickte Elena noch einmal konzentriert unter sich, doch es war aussichtslos, aus der schieren Masse an grellem Flackern auch nur annähernd Dinge herauszufiltern, die ihr etwas über diesen Ort verraten könnten. »Ich fürchte, ich brauche einen kleinen Hinweis.«

Grinsend deutete er daraufhin in ihre entgegengesetzte Blickrichtung. Sie folgte seinem Arm und hielt die Luft an. Jetzt sah sie es, dort ragte etwas weit über den anderen Gebäuden in den nächtlichen Himmel hinauf. Vor Aufregung wurde sie von einem Kribbeln erfasst und ihr Herz schlug einen Takt schneller. »Ist es das, was ich denke?« Elena sprach leise, weil sie Angst hatte, dass sich dieser Traum ansonsten vor Schreck in Luft auflösen könnte.

»Herzlich willkommen in Paris«, flüsterte Bastian und nahm schüchtern ihre linke Hand in seine.

Seit Jahren träumte sie davon, ihn eines Tages mit eigenen Augen sehen zu können, und nun befand er sich nur einen Wimpernschlag unter ihr. »Der Eiffelturm«, murmelte sie, überwältigt von all den Gefühlen, die gerade gleichzeitig auf sie einströmten.

»Lass uns zu ihm fliegen und die Aussicht genießen.«

»Aber wenn uns jemand erwischt?«

»Deswegen habe ich diese nächtliche Stunde gewählt, so haben wir den Turm ganz für uns allein.«

»Ich habe mich schon gefragt, warum es plötzlich dunkel ist und wie das alles möglich ist.«

Freudig flog Bastian los und zog sie hinter sich her.

»Es ist unsere Geschichte, wir können sie nach unseren Wünschen beugen und tun, was immer wir auch wollen!«

»Das heißt, dass alles wahr wird, was immer wir uns vorstellen?«

»Na sicher. Beeilen wir uns, wir haben noch so viel vor und die Nacht währt nicht ewig!«

Lachend flog Bastian auf den Eiffelturm zu, der rasant größer wurde, je näher sie ihm kamen. Dennoch verspürte Elena einen kleinen Stich in ihrer Brust, denn in einer Sache irrte sich Bastian. Die Nacht währte doch ewig, zumindest für sie. Aber dann besann sie sich darauf, wo sie sich augenblicklich befanden, atmete mehrmals tief durch und schüttelte die traurigen Gedanken von sich ab. Sie würde einen Teufel tun und ihnen noch mehr Raum geben, nicht heute! Heute hatte sie Abenteuer-Gummistiefel an und flog über Paris, dem Trübsinn konnte sie sich auch dann noch hingeben, wenn sie wieder in der Realität angekommen war!

»Was sagst du?« Bastians Augen glänzten nahezu vor Freude und Ungeduld, während er sie an beiden Händen nahm, um sie sanft auf die oberste Plattform des Turms zu geleiten.

Rau wehte der Wind in knapp dreihundert Metern Höhe durch Elenas Haar und trieb ihr mit Sicherheit eine angenehme Röte auf die Wangen. Doch sobald sie den Boden unter den Füßen spürte, nahm sie nichts anderes mehr wahr, außer der spektakulären Aussicht, die sich vor ihnen erstreckte. »Es ist unbeschreiblich«, sagte sie leise, während sie sich schrittweise an die Brüstung hervorwagte.

»Es ist natürlich nur halb so cool, wie fliegen zu können, aber es ist ganz nett!« Bastian stellte sich dicht neben sie und legte zaghaft einen Arm auf ihren Rücken. »Willkommen auf deiner etwas anderen Weltreise«, murmelte er und lächelte sie zufrieden an.

»Meine Weltreise?« Plötzlich prasselten die verschiedensten Erinnerungen auf sie ein, Dinge, die sie in ihrem körperlosen Gefängnis längst vergessen hatte. Keuchend schnappte sie nach Luft, als sich ein Gedankenfetzen manifestierte. »Ich … ich wollte eine Weltreise machen, nicht wahr?«

Bastian seufzte und sein Lächeln wirkte nicht mehr so sorglos wie eben noch. »Und genau das tust du in diesem Moment. Sieh her.« Anschließend schnippte er mit den Fingern.

Irritiert blickte Elena in den nächtlichen Himmel über Paris, der sich binnen eines Wimpernschlages in ein freundliches helles Blau verwandelte. Bevor sie realisierte, was gerade passiert war, veränderten sich der

Untergrund und die Umgebung vor ihren Augen, als steckte sie in irgendeiner Matrix fest. »Was war das?«, fragte sie ein wenig ängstlich.

»Lady Liberty heißt dich herzlich willkommen!« Grinsend verbeugte sich Bastian erneut vor Elena.

»Das ist nicht wahr! Ernsthaft?« Es war ihr unmöglich, ihre Aufregung zu verbergen, so sehr freute sie sich. »Die Freiheitsstatue?« Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief sie in dem kleinen Raum umher und strich bedächtig über jeden Zentimeter, den sie erhaschen konnte. Es fühlte sich an, als würde sich ein lang gehegter Traum erfüllen, doch sie konnte nicht sagen, ob dies lediglich ein Gespinst ihrer Einbildung oder die Wahrheit war.

»Wünsche werden Wirklichkeit, zumindest in dieser Welt.« Wieder lächelte er sie zufrieden an. »Hast du deinen Bikini eingepackt?«, fragte er grinsend.

»Aber wieso sollte ich?« Ratlos versuchte sie, aus seinem Gesagten schlau zu werden.

»Na deshalb.«

Noch während sie nach einer Antwort suchte, steckten ihre jetzt nackten Füße plötzlich in etwas Warmem fest. Erschrocken schnappte sie nach Luft, doch als sie sich an dem Geländer der Freiheitsstatue festhalten wollte, war diese längst verschwunden. Stattdessen griff sie ins Leere und dann sah sie, wo Bastian sie hingebracht hatte. Weißer Sandstrand erstreckte sich, soweit sie blicken konnte und glasklares Wasser umspielte sanft ihre Knöchel, während die seit langem vermissten Sonnenstrahlen sie von allen Seiten wärmten. »Gute Güte, das ist das Paradies!« Langsam ging sie in die Hocke, vergrub ihre Hand im nassen Sand und ließ ihn glückselig durch die Finger gleiten.

»Oder auch Whitehaven Beach«, erwiderte Bastian und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen.

»Australien?« Ihr war auf einmal, als kannte sie all die Orte, zu denen Bastian sie brachte. Nicht, weil sie bereits dort gewesen war, sondern weil sie vorgehabt hatte, diese zu besuchen. In einem anderen Leben, das ihr heute so fern und unerreichbar erschien. Allerdings hatte sie nicht die geringste Ahnung, ob sie sich all das nur einbildete oder ob es sich tatsächlich so verhielt.

»Es sind nicht nur die schönsten Plätze der Welt, ein jeder Ort soll dir auch etwas mitgeben, das dir nicht mehr genommen werden kann, egal wo immer du dich in der Wirklichkeit befinden magst.«

Elena, die es sich inzwischen im weichen und hellen Sand außerhalb des Wassers gemütlich gemacht hatte, blickte neugierig geworden zu Bastian, der es sich nun neben ihr bequem machte. »Meine Erinnerungen?«, fragte sie zaghaft.

»Die auch.« Sein Blick glitt über den Strand, hinaus zu den sich leicht kräuselnden Wellen und schließlich in die Ferne, wo der Ozean unendlich zu sein schien. Er wirkte jetzt ein wenig schwermütig auf sie und sie wünschte sich, dass er seine Gedanken mit ihr teilen würde. Schließlich räusperte er sich und schenkte ihr wieder seine gesamte Aufmerksamkeit. »Paris steht für die Liebe wie keine andere Stadt der Welt«, fuhr er lächelnd fort. »Und was kann ein Mädchen mit gelben Abenteuer-Gummistiefeln wohl mehr benötigen, als alle Liebe der Welt?«

Was er sagte, rührte Elena auf tiefster Ebene, und weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, sah sie schüchtern in den Sand, anstelle in Bastians Augen. Wie recht er doch hatte. Ohne die Liebe ihrer Eltern hätte sie wohl kaum das Abenteuer Leben überstanden, da war sie sich sehr sicher!

»Die Lady Liberty steht selbstredend für Freiheit.«

»Und Freiheit ist das oberste Gut in einem Leben, in dem man im eigenen Körper gefangen ist«, flüsterte sie.

Nickend versuchte er, weiterhin tapfer zu lächeln, doch sie sah ihm die Niedergeschlagenheit an. »Und dieses kleine Paradies hier steht für Wärme.«

»Ohne Wärme ist kein Leben möglich.«

Für einige wenige Sekunden sah er sie wortlos an, als legte er sich seine nächsten Worte sachte zurecht, doch dann schüttelte er den Kopf, sprang auf, reichte ihr eine Hand und zog sie zu sich hoch. »Vergiss deine Gummistiefel nicht!« Augenzwinkernd schnippte er erneut mit den Fingern, und sowie Elena blinzelte, war der wunderschöne Strand verschwunden.

 

Obwohl er das nicht zum ersten Mal tat, keuchte sie dennoch kurz erschrocken auf, dieser abrupte Umgebungswechsel war nichts, an das sie sich schnell gewöhnen konnte. Doch davon abgesehen erfasste sie dieselbe Aufregung wie auch schon zuvor. Wo hatte er sie dieses Mal hingebracht, was erwartete sie? Als sie an sich hinabblickte, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass ihre baren Füße wieder in den Gummistiefeln steckten, obwohl sie selbige nicht an sich genommen hatte. Oh, wie sehr sie sich wünschte, niemals mehr aus dieser wundervollen bunten, lauten und grellen Welt aufwachen zu müssen, in der alles möglich war.

»Na, kannst du es erraten?« Ungeduldig hüpfte Bastian von einem Bein auf das andere, während er die Arme weit ausgestreckt in die Luft hielt.

Elena wurde derart von ihren Gedanken gesteuert, dass sie bisher nur Zeit darauf verschwendet hatte zu grübeln, anstatt sich umzusehen, was sie nun rasch nachholte. Der Anblick des aus unzähligen Steinen erbauten Wunderwerkes, auf dem sie standen, raubte ihr den Atem. »Sind wir etwa auf der Chinesischen Mauer?«

»So hübsch und noch dazu so schlau!« Nickend verschränkte er die Arme vor der Brust und holte Luft. »Die Mauer steht für Schutz.« Bedächtig ging er einige Schritte auf sie zu. »Du sollst dich niemals wieder hilflos fühlen!«

Elena schluckte schwer gegen den aufkeimenden Kloß in ihrer Kehle an, so sehr rührten seine Worte sie. Was würde sie darum geben, wenn ihr geistiges Gefängnis ebenso stabile Mauern besäße, welche die Finsternis für immer von ihr fernhalten würden.

Seufzend sah sich Bastian um. »Sosehr ich diese einzigartigen Orte genieße, so leid tut es mir, dass wir all dies im Schnelldurchlauf anschauen müssen, doch die Zeit ist ein unbarmherziger Gegner!«

Elena presste die Lippen aufeinander, weil sie nicht wusste, wie sie dieses niederdrückende Gefühl von Bedauern loswerden konnte, das wieder anfing, sich in ihr zu regen. Bastian tat all das hier für sie, und doch musste er sich eilen, wohl, weil er Angst hatte, sie könnte wieder in die Schatten ihres Verstandes zurückkehren, bevor er ihr alles gezeigt hatte. Er war ihr im Grunde völlig fremd und dennoch hatte noch nie jemand etwas derart Wundervolles für sie getan.

»Sei nicht traurig«, sagte er leise. »Eines Tages wirst du all dies nochmal erleben! Du hast alle Zeit der Welt!« Beinahe hätte sie vor Frustration geschnaubt. Zeit war in der Tat das Einzige, das ihr körperloses Ich zur Genüge besaß.

»Für Trübsal gibt es in unserem Abenteuer keinen Raum«, unterbrach er ihre Gedanken und nahm ihre

Hand in seine. »Komm!«

Einen Fingerschnipp später saß sie plötzlich auf einem großen Felsen und blickte weit unter sich auf die Kultstätte hinab, zu der Bastian sie gebracht hatte. »Großer Gott, Machu Picchu?« Nun fühlten sich ihre Augen doch verdächtig feucht an und Elena schniefte gegen die verwirrenden Gefühle an, die sich in ihrem Inneren abwechselten. »Ich glaube, hier hatte ich vor, herzukommen, kann das sein?«

»Ganz bestimmt. Eine Weltreise ohne die berühmte Hinterlassenschaft der Inkas wäre schließlich nur halb so interessant.« Andächtig sah Bastian ebenfalls auf die Überreste der einst geschichtsträchtigen Siedlung hinab. »Ich habe diesen Ort gewählt, weil er einzigartig ist. Alles, was von einer ganzen Zivilisation übrig geblieben ist, sind ihre Ruinen, etwas, das eigentlich zerstört und unbrauchbar ist. Und doch haben eben diese für unsere Gesellschaft eine große Bedeutung.« Nun blickte er auf und sah sie direkt an. »Manchmal stehen wir vor den Trümmern unseres Lebens, doch nur, weil etwas kaputt ist, heißt es noch lange nicht, dass es nichts mehr wert ist.«

Eine nie zuvor gekannte Wärme breitete sich in Elena aus, plötzlich fühlte sie sich geborgen und behütet. Irgendwie wusste sie, dass ihr nichts geschehen konnte, solange Bastian an ihrer Seite war. Aber sie spürte auch etwas anderes und davor fürchtete sie sich. Eine bleierne Müdigkeit machte sich bemerkbar und Elena wusste, dass ihr nun nicht mehr sehr viel Zeit bleiben würde, bis ihre Kräfte sie verlassen und in ihren so verhassten Kerker zurückschleudern würden.

»Einen Ort möchte ich dir noch zeigen«, sagte Bastian leise, während er sie ernst ansah und sachte mit seinem Handrücken über ihre Wange strich. »Hältst du so lange noch durch?«

Es war ihm also aufgefallen. Seufzend nickte sie und lächelte ihn tapfer an. Sie wünschte sich von Herzen, noch Hunderte wundervolle Flecken dieser Welt mit ihm erleben zu dürfen, doch gerade war es schon vermessen, auf lediglich einen weiteren zu hoffen. »Natürlich«, erwiderte sie entkräftet und war sich doch ihrer Antwort im Augenblick nicht sicher. Um nichts wollte sie jedoch verpassen, was sich Bastian noch hatte für sie einfallen lassen.

Seine Hand wanderte behände von ihrem Gesicht zu ihrem Schoß hinunter, in dem ihre klammen Hände verweilten, bis er schließlich beherzt seine Finger um die ihren schloss. »Komm«, flüsterte er und sah sie dabei aufmunternd an. Bevor sie auch nur blinzelte, befanden sich unter ihren Füßen nicht mehr die Ruinen längst vergangener Zeiten inmitten saftigen Grüns, sondern Hunderte Meter Nichts. Aus einem Reflex heraus riss sie ihre Hand zurück und klammerte sich erschrocken an Bastian, der daraufhin laut auflachte.

»Hab keine Angst tapfere Weltenbummlerin, hast du vergessen, dass uns dank des Zauberpulvers nichts geschehen kann?« Lächelnd zwinkerte er ihr zu, während er tröstend einen Arm um sie legte und zaghaft versuchte, ihre verkrampften Finger aus seinem Pullover zu lösen. »Außerdem haben wir doch unsere Gummistiefel an, mit denen kann uns nichts und niemand aufhalten!«

»In Ordnung.« Elena schenkte ihren eigenen Worten im Moment nicht viel Glauben, vermutlich benötigte ihr Verstand noch ein wenig länger, um zu fassen, wo sie sich gerade befanden.

»Darf ich vorstellen?« Freudig breitete er seinen freien Arm aus und deutete auf die wenigen Wolken vor ihnen, die so nah wirkten, als könnte Elena sie mit bloßen Händen greifen. »Wir befinden uns in etwa 828 m Höhe auf dem Burj Khalifa, dem momentan höchsten Gebäude der Welt.«

Da sie lediglich auf der – ihrer Meinung nach – äußerst winzigen Plattform saßen, auf der die Antenne befestigt worden war und wo eigentlich keine Besucher zulässig waren, wurde es Elena ganz flau im Magen. Ihr Herz pochte viel zu schnell und ihre Beine fühlten sich an wie kleine Zitteraale auf der Flucht. Angestrengt atmete sie gegen die aufsteigende Panik an, doch sie schaffte es dennoch nicht zu verhindern, dass sie von Schwindel übermannt wurde. Zu wissen, dass dies nicht wirklich real war, half ebenfalls nicht.

Bastian bemerkte das zunehmende Beben ihres Körpers und zog sie rasch an sich. »Vielleicht wirkt es weniger angsteinflößend, wenn wir die Tageszeit wechseln.« Binnen eines Augenblickes wurde es plötzlich dunkel und Elena starrte auf unzählige kleine Lichter, anstatt in die schiere Weite, die kaum zu fassen war. Tatsächlich beruhigte sich ihr Puls nun allmählich, vielleicht auch, weil ihr Verstand noch immer damit beschäftigt war, zu verstehen, wie Bastians Fantasie zu etwas werden konnte, das sie wahrhaftig erlebte.

»Von hier oben wirken die Sterne nicht mehr unermesslich weit weg«, sagte er leise. »Ich wünschte, ich könnte die Schönheit der Unendlichkeit über uns wirklich verstehen.«

Nun war Elena es, die sanft lächelte. »Sagtest du nicht, dass es deine Geschichten sind und du in ihnen tun und lassen kannst, was immer du auch möchtest?«

Nickend lächelte er, noch immer zu den Gestirnen blickend. »Aber nicht, dass du jetzt glaubst, viel zu schlau für mich zu sein!«

»Sehr witzig.« Elena bedauerte es, in ihrem echten Leben niemals wirklich Zeit gefunden zu haben, sich mit dem zu beschäftigen, was es über ihren Köpfen womöglich noch alles gab. Das Leben war mitunter leider so hektisch, dass es keinen Raum für Wunder ließ. Doch als sie nun, sozusagen auf der Spitze der Welt, in den Himmel schaute, ohne jeglichen Stress und Zeitdruck, da begann sie auf einmal, Bastians Faszination dafür zu verstehen. Während sie tief durchatmete, fiel ihr Blick auf den Mond, der in Bastians Vorstellung übergroß und voll am Firmament erstrahlte und eine ihr unbekannte Sehnsucht erfüllte sie. »Bastian?«

»Hm?«

»Können wir wirklich überall hin?«

»Natürlich. Kein Ort ist zu weit für meine Weltenbummlerin!«

»Auch nicht der Mond?«

Nun blickte er zum hellen Erdtrabanten empor und sie könnte schwören, dass dabei ein seliger Ausdruck über sein Gesicht huschte. »Eines Tages, das verspreche ich dir!«

»Danke«, erwiderte sie leise und schmiegte sich an seine Schulter. »Warum dieses Gebäude?«, fiel ihr jäh ein. »Weshalb hast du das hier gewählt?«

»Richtig. Meine Gedanken vergessen in deiner Nähe wohl recht gerne, was sie zu tun haben.« Er räusperte sich einige Male, bevor er fortfuhr. »Ich habe das höchste Gebäude der Welt gewählt, weil ich möchte, dass du stets an deinen Träumen festhältst, völlig gleich, wie hochgesteckt sie auch sein mögen. Ab sofort gibt es das Wort unmöglich in deinem Wortschatz nicht mehr, versprochen?«

»Versprochen.« Das Reden fiel ihr immer schwerer und Elena fühlte, dass es nur noch eine Frage von Augenblicken war, bevor ihr Verstand wieder in die kalte Schwärze zurückbefördert wurde. Sie aus einem Körper herausriss, den sie nicht einmal wirklich besaß und der doch alles war, was sie sich in der Vergangenheit erträumt hatte.

»Es ist in Ordnung«, murmelte Bastian neben ihr. Als hätte er Angst, sie zu stören. Seltsam, welche Grübeleien sich einschlichen, wenn die Neuronen allmählich ihren Dienst versagten. »Du warst so tapfer heute, doch nun kannst du loslassen. Ich verspreche dir, dass dies nicht unser letztes gemeinsames Abenteuer war, ich habe noch so viel zu sagen und du bist die Einzige, der ich es erzählen möchte. Sammle neue Energie, meine wundervolle Elena, damit du bereit bist, bald wieder in deine Gummistiefel zu schlüpfen!«

Müde schloss sie die Augen und hoffte, dass er ihr Nicken noch mitbekommen hatte. Das war allerdings ihr letzter bewusster Gedanke, bevor sie in den verhassten, widerlichen Strudel aus Finsternis und Angst fiel.

5

Bastian

Obwohl er bereits seit beinahe zwei Stunden zu Hause war, kam Bastian an diesem Abend nicht zur Ruhe. Elena beherrschte nach wie vor seinen Verstand. Immer wieder fragte er sich, ob sie wohl auch nur ein Wort von seiner Geschichte mitbekommen hatte? Er hatte sie so selbstverständlich zu einem Teil seiner Erzählung gemacht, als kannte er sie schon lange Zeit. Natürlich war das nicht der Fall, dennoch fühlte es sich für ihn manchmal so an. Immer dann, wenn er sie minutenlang anstarrte, während sie reglos dalag und er sich in einem fort fragte, wie sie wohl war? Besaß sie tatsächlich das sonnige Gemüt, das er sich für sie vorstellte? Und war sie in Wirklichkeit genauso humorvoll, wie er es annahm? Liebevoll und großherzig? All das hatte er den Bildern entnommen, die ihre Eltern in Elenas Krankenzimmer über dem Bett aufgehängt hatten. Die, neben den Postkarten aus aller Welt, von einer lebenslustigen Frau zeugten, die das Leben und alle Menschen geliebt hatte.

Doch Bastian kannte nur den Schatten, der Elena noch war. Die traurigen Überreste des Energiebündels, für die er nun mitunter verantwortlich war. Trotz alldem blieb die Bitterkeit heute aus, die sich meist beim Gedanken an sie und ihrem undankbaren Schicksal bemerkbar machte. Denn heute hatte er es gewagt, eine seiner Geschichten zum Besten zu geben. Auch wenn es sich zu Anfang fremd und seltsam angefühlt hatte, so war es dennoch viel mehr befreiend gewesen, die Schleusen zu seinem Verstand zu öffnen und jemanden an all dem teilhaben zu lassen, was sich ansonsten dort hinter unzähligen verschlossenen Türen befand.

Er hatte einfach die Augen geschlossen und sich treiben lassen, was ihm trotz, oder vielleicht gerade durch ihre Gegenwart, sehr einfach gefallen war. Und dann war alles wie von selbst passiert. Und nun saß er auf seinem Sofa, während ein Actionfilm im Fernsehen lief, den er zwar ansah und trotzdem nicht sagen könnte, um was es überhaupt ging. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass er gedanklich alle paar Sekunden zu Elena abschweifte. War es die richtige Entscheidung gewesen, sie auf eine imaginäre Weltreise mitzunehmen? Was, wenn sie doch alles mitbekam in ihrem Koma-Gefängnis? Was, wenn sie um ihren Zustand wusste, hatte er es dann nicht eher schlimmer gemacht, weil er ihr von Dingen erzählte, die sie nicht tun konnte? Nicht im Augenblick jedenfalls. Und dann kamen wieder die Momente, in denen er sich kopfschüttelnd einen Idioten nannte, weil er sich mehr um Elena sorgte, als er es als Krankenpfleger sollte.

 

Schnaubend stand er schließlich auf und schlurfte zum Kühlschrank, um nachzusehen, ob sich auf wundersame Weise noch etwas Brauchbares zum Essen darin manifestiert hatte. Was natürlich nicht der Fall war. Seufzend verzog er den Mund, weil er heute nach der Schicht eigentlich hatte einkaufen wollen, in seinem Schädel aber ganz offensichtlich nichts mehr normal funktionierte. Anschließend fiel sein Blick auf die Brötchen vom Vortag, zu denen er nach kurzer Überlegung schulterzuckend griff und herzhaft hineinbiss. Wieder auf dem Sofa fiel es ihm immer schwerer, seine Lider noch offen zu halten, er fühlte sich total geschlaucht und sehnte sich nach seinem Bett.

»Das wird wohl ein kurzer Abend«, murmelte er, während er den Teller mit dem Brötchen nach wenigen Bissen zur Seite schob und sich der Länge nach auf der Couch breitmachte. Das hier war zwar nicht seine göttliche Matratze, aber er fühlte sich nicht mehr in der Lage, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen. Für heute hatte er genug, außerdem benötigte er die wenigen verbliebenen wachen Gehirnzellen für die Überlegung, welche Geschichte er Elena als Nächstes erzählen konnte. Und dieses Mal sollte es eine eigene sein, eine, die er seit vielen Jahren in seinem Herzen mit sich trug. Lächelnd zog er sich die Kuscheldecke bis unter das Kinn und drehte sich auf die linke Seite. O ja, und er wusste auch schon genau, welche. Plötzlich freute er sich wie ein kleines Kind an Weihnachten auf das nächste Abenteuer, das er mit Elena erleben durfte.


Fünf sehr arbeitsreiche Tage später war es schließlich so weit, und Bastian fand nach zwei Doppelschichten wieder die Zeit und die Energie, lange genug bei Elena zu verharren, um sie auf eine weitere Reise mitzunehmen. Am Vortag hatte ihn die Oberschwester schlafend in dem Stuhl neben Elenas Bett vorgefunden und ihn mit vorwurfsvollem und leicht tadelndem Blick nach Hause geschickt. Zu seinem Bedauern war er leider viel zu oft von der Arbeit erschöpft, dabei würde er nichts lieber tun, als ihr stundenlang Geschichten zu erzählen. Selbst als er sich mit seinen Jungs getroffen hatte, war er ständig aufgezogen worden, weil er immerzu mit den Gedanken woanders gewesen war. Er wusste ja, wie bescheuert das alles war, doch deshalb musste es nicht falsch sein. Wie könnte es das auch, wenn es sich doch so richtig anfühlte?

Jetzt, da er lächelnd auf Elena hinabblickte, fühlte er sich mehr denn je bestätigt. »Ich hoffe von Herzen, dass du mich hören kannst, denn heute möchte ich dir jemand ganz Besonderen vorstellen«, sagte er leise. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und begann seine nächste Geschichte: »Es war einmal ein Junge, der sich unter der Gewalt des Himmelszeltes klein und unbedeutend vorkam. Ein Junge, der die Geheimnisse der Welt erkunden wollte und alles hinterfragte, was sich zwischen ihm und den Gestirnen befand. Unaufhörlich folgte er seiner Neugierde, überwand seine Ängste und ließ seine Träume wahr werden. Um Antworten zu finden, stürzte er sich in die Tiefen seines Verstandes, denn dort warteten die größten Abenteuer auf ihn. Dieser Junge hieß Bastian. Sein Wissensdurst war unerschöpflich, doch vor allem interessierte ihn eines: Wo gehen die Sterne hin, wenn es hell wird?«