Das Geheimnis von Nevermore

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Z serii: Snow und Winter #1
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»Oh Mann, schau mal, wie heftig es schneit«, grummelte Max, während er durch das Fenster dem Schneesturm zusah.

Jingle Bells ertönte zufälligerweise aus den Lautsprechern des Ladens. Dashing through the snow passte gut zu dem Wetter draußen. Die ganze Stadt wurde langsam immer mehr unter Schnee begraben.

»Mach doch heute ein bisschen früher Feierabend, Max.«

»Wirklich?«

»Na klar, ich wette, U-Bahnfahren macht heute keinen Spaß«, sagte ich, während ich zum Tresen wanderte.

»Gehst du auch heim?«

Ehrlich gesagt war ich versucht, Mike einen Besuch abzustatten und ihn zu fragen, was los war, aber das klang nicht nach meiner besten Idee. Vielleicht sollte ich ihn lieber anrufen, das würde einen weniger bedrohlichen Eindruck machen. Auch wenn er sich wie ein Arschloch verhielt und mich beschuldigte, bei ihm eingebrochen zu sein, so hatten wir doch ein paar Jahre eng zusammengearbeitet und ich wollte sichergehen, dass es ihm gutging. »Vermutlich.«

»Dann geh ich mit dir raus«, erwiderte Max und begann, die Kasse zu leeren und das Geld zu zählen.

Das Telefon des Ladens klingelte und ich hob den Hörer ab. »Snows Antiquarisches Imperium.«

»Ich bin’s.«

Neil. Ich riss mich zusammen. »Hey.«

»Bist du beschäftigt?«

»Wir schließen heute vorzeitig. Das Wetter wird immer schlimmer und Max muss mit der U-Bahn nach Brooklyn.«

»Ich mache jetzt Feierabend«, sagte er. »Ich komme bei dir vorbei.«

»Ich kann nach Hause laufen.«

Neil holte tief Luft. »Sebby, bitte streite nicht mit mir. Nur dieses eine Mal. Lass mich dich abholen.«

Wieso wurde ich wütend, nur weil er mich nach Hause fahren wollte, statt mich durch dieses scheußliche Wetter laufen zu lassen? »Okay, danke.«

»Soll ich etwas fürs Abendessen mitbringen?«

»Ich hatte vor, zu kochen«, antwortete ich zaghaft. Langsam war ich es leid, von Fast Food zu leben. Neil konnte überhaupt nicht kochen, was bedeutete, dass ich mich in die Küche stellen musste, wenn ich Lust auf Hausmannskost hatte.

»Das klingt toll«, meinte er erfreut. »Ich bin in spätestens zwanzig Minuten da.« Er legte auf.

»Neil holt mich ab. Du kannst schon mal gehen, ich kümmere mich um den Rest«, sagte ich zu Max.

Max lachte, als er mit dem Geldzählen fertig war. »Danke, Seb.«

»Ich ruf dich morgen an, falls wir wegen des Wetters geschlossen bleiben müssen.«

»Okay. Ich richte mich aber darauf ein, zu kommen, bis du mir etwas anderes sagst.« Innerhalb weniger Momente hatte er all seine Sachen eingepackt und verschwand durch die Tür im Schneesturm.

Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, sperrte ich ab und begann, meine Sachen zusammenzusuchen. Ich verstaute meinen Laptop in meiner Laptoptasche für den Fall, dass wir morgen den Laden geschlossen lassen mussten. Wenn ich schon daheim bleiben müsste, könnte ich wenigstens anfangen, die neue Ware, die ich noch zu Hause hatte, zu katalogisieren. Allerdings hatte ich das schon seit zwei Wochen vor und bisher noch nicht die Energie dafür gehabt. Als ich endlich die Lichter ausmachte, den Sicherheitsalarm anschaltete und in meine Winterkleidung schlüpfte, parkte Neil in seinen schwarzen BMW schon vor der Tür.

Das Auto war noch ein Streitgrund zwischen uns. Ich hatte keinen Führerschein, weil Menschen mit Achromatopsie besonders viele Tests absolvieren mussten, um ein Auto fahren zu dürfen. Darauf hatte ich schlicht und ergreifend keine Lust. Vor allem machte es in einer Stadt, die so ein großartiges öffentliches Verkehrsnetz bot, keinen Sinn. Trotzdem hatte ich mich mit Neil geeinigt, zusammen ein Auto zu kaufen und mich finanziell daran zu beteiligen, damit wir hin und wieder Urlaub außerhalb von New York machen konnten. Neil hatte einen teuren Geschmack. Er wollte einen Luxusschlitten und da gab es für ihn keinen Kompromiss. Das verstand ich einfach nicht. Wir hätten so viel Geld sparen können mit einem sinnvollen Gebrauchtwagen. Die Auseinandersetzung hatte damit geendet, dass ich mich geweigert hatte, Geld für ein solches Auto auszugeben. Das hatte er zwar akzeptiert, aber mir gleichzeitig gesagt, ich sollte mich verpissen. Natürlich hatte ich aus Trotz versucht, bisher jede Fahrt abzulehnen.

Im Auto war es warm, als ich die Beifahrertür öffnete und mich setzte. Die Scheibenwischer mussten hart arbeiten, um den schweren, klebrigen Schnee von der Scheibe zu entfernen. Neil hörte irgendwelche Weihnachtslieder und sah wieder mal cool und sexy aus. Ich musste zugeben, dass er wirklich gut hinter dem Lenkrad dieses Autos aussah.

Er lächelte. »Bereit?«

»Jepp.«

Neil fuhr los. Wir waren langsam auf den von Schnee bedeckten Straßen unterwegs.

»Du wirst morgen eingeschneit sein, wenn man dem Wetterbericht glauben kann«, raunte er mir zu.

»Musst du zur Arbeit?«

»Im öffentlichen Dienst gibt es kein schneefrei. Ist dir warm genug?«

Ich grummelte eine Antwort vor mich hin und war dann still. Wir wohnten in einem überfüllten Manhattaner Apartment, das eigentlich viel zu klein war für zwei Leute, aber dafür sehr nahe am Imperium lag. Normalerweise dauerte es nicht lange, um dort anzukommen, aber die Straßen waren komplett bedeckt. Das ein oder andere Auto vor uns war bereits ins Rutschen gekommen und Neil blieb Gott sei Dank lieber vorsichtig.

Bei der Gelegenheit studierte ich sein Profil und dasselbe hübsche Gesicht, das ich seit Jahren kannte. Er hatte mir gesagt, er hätte braune Augen. Seine Haare waren anscheinend hellbraun und Neil hatte sie mit einem Milchkaffee verglichen. Welche Farbe auch immer sie hatten, ich fand Neil schon immer attraktiv. Und er alterte wahnsinnig gut. Wenn ich ihn ansah, sah ich den Mann, in den ich mich verliebt hatte. Wieso stritten wir uns nur noch? Mein Vater sagte, es läge daran, dass es mich kirre machte, wieder einen Teil von mir verstecken zu müssen. Ich hatte mein Coming-out, aber wegen Neils Paranoia konnte ich trotzdem nicht frei leben. Jahrelang hatte ich das bestritten, aber langsam bekam ich das Gefühl, dass mein Dad vielleicht doch recht haben könnte. Neil war meine erste ernsthafte Beziehung und es hatte mich aus der Bahn geworfen, als ich herausgefunden hatte, dass er nicht geoutet war. Ehrlich gesagt warf es mich immer noch aus der Bahn.

»Tut mir leid«, sagte ich leise.

»Was tut dir leid?«

»Dass ich heute Morgen so unfreundlich war.« Ich starrte meine Hände an. »Wieso warst du eigentlich im Imperium?«

Er seufzte. »Ich habe zufällig gehört, dass Detectives zu der Adresse geschickt wurden, und gedacht, es sei etwas passiert. Ich habe gedacht, dir sei etwas passiert.«

»Danke, dass du dir Sorgen gemacht hast.« Ich lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Das klingt so komisch.«

»Ich weiß, was du meinst.« Er nahm kurz eine Hand vom Lenkrad, um mir liebevoll auf mein Knie zu klopfen.

Neil ließ mich an unserer Straße raus, um dann einen Parkplatz zu finden. Ich betrat das Gebäude und ging die drei Stockwerke zu unserer kleinen Wohnung nach oben über alte, knarzende Treppenstufen. Die Leitungen machten laute Geräusche, als die Boiler ansprangen. Ich hängte Mantel und Hut auf und verstaute meine Stiefel im Schrank. Dann ließ ich meine Tasche auf die Matratze unseres Doppelbetts fallen, bevor ich ein paar Lampen in der Wohnung anschaltete. Ich wusste, dass Neil es nicht mochte, in einer so dunklen Wohnung zu leben, aber er war höflich und arrangierte sich, ohne sich zu beschweren, damit ich meine Sonnenbrille hier drinnen nicht aufsetzen musste. Eine lange Zeit hatte ich versucht, mein Handicap vor ihm geheim zu halten. Das war aber zunehmend schwieriger geworden, als er angefangen hatte, Sachen zu fragen wie: Kannst du mir mein dunkelblaues Hemd geben? Oder beim Mexikaner: Reichst du mir die grüne Salsa? Es war schließlich herausgekommen, als er meinen zusammengeklappten Gehstock in meiner Tasche gefunden hatte, als er nach einem Kondom gesucht hatte. Ich musste kurz lachen, als ich den Kühlschrank öffnete und an den Moment zurückdachte. Die Stimmung war jedenfalls im Eimer gewesen und ich hatte geglaubt, er würde sofort mit mir Schluss machen. Beide Freunde, die ich vor ihm gehabt hatte, hatten mich wegen meines „Zustands“ verlassen. Es war nicht lebensbedrohlich, aber es war eine Last. Neil war bei mir geblieben und das war alles, was zählte.

Ich hörte ihn an der Tür, als er seinen Mantel und seine Schuhe auszog, während ich Zwiebeln und Paprika zerkleinerte. Ich gab das geschnittene Gemüse in einen Kochtopf und öffnete zwei Dosen Tomatensoße.

»Spaghetti?« Neil kam in die Küche geschlendert. Er kannte den Geruch gut.

»Wir müssen bald einkaufen gehen«, antwortete ich. »Wir haben nicht viel Auswahl.«

Er ging einen Schritt an mir vorbei und öffnete den Kühlschrank. »Willst du ein Bier?«

»Klar, warum nicht?«

Geschickt öffnete er die Bierflaschen und stellte eine neben mir auf die Küchenzeile, bevor er sich mir gegenüber an die Wand lehnte. »Also, sag mir, was heute Morgen passiert ist.«

Ich erzählte die ganze Geschichte noch einmal und es kam mir mittlerweile vor, als hätte ich das schon hundertmal getan. Währenddessen fing ich an, die Soße mit Salz, Pfeffer, Tabasco und anderen Gewürzen, die wir im Küchenschrank hatten, zu verfeinern. »Aber es war nicht menschlich. Es war ein Schweineherz.«

»Was haben die Detectives gesagt?«

Abwesend zuckte ich mit den Schultern. »Lancaster hat gesagt, ich solle wieder normal öffnen und mich um ein besseres Sicherheitssystem kümmern.«

»Und dieser Winter-Typ?«

Über meine Schulter warf ich ihm einen fragenden Blick zu. »Wieso magst du ihn nicht?«

 

»Ich habe dir gesagt, wieso.«

»Er hat aufgehört, mich über Mike auszufragen, und ist dann ebenfalls gegangen.« Ich hatte mich wieder der Soße zugewandt, aber hielt inne und sah Neil noch mal an. »Du hast nichts davon gehört, oder? Dass bei Mike eingebrochen wurde?«

Neil schüttelte den Kopf, bevor er von seinem Bier trank. »Ist vielleicht in einer anderen Abteilung gelandet.«

»Wieso, denkst du, würde Mike mich beschuldigen, bei ihm eingebrochen zu sein?«

»Weil er ein Arsch ist.«

»Ja, aber …«

»Nichts aber«, unterbrach Neil mich. »Er hatte es schon immer auf dich abgesehen, Seb.«

Ich nahm einen Schluck Bier und dachte über meinen nächsten Kommentar nach. »Ehrlich gesagt habe ich darüber nachgedacht, ihn nachher anzurufen.«

Neil starrte mich an, als ob mir ein zweiter Kopf gewachsen wäre. »Bist du bescheuert?«

»Wie bitte?«

»Sebby, halt dich da raus. Lass die Polizei herausfinden, was Mike passiert ist. Sei kein Idiot und belästige ihn nicht.«

»Wer hat denn etwas von Belästigung gesagt? Ich will nur fragen, ob er okay ist.«

»Egal«, antwortete Neil. »Die Polizei kann es nicht brauchen, dass du ihn kontaktierst, nachdem er mit dem Finger auf dich gezeigt hat, okay?«

Was Neil sagte, machte natürlich Sinn. Und wer würde da besser Bescheid wissen als ein Polizist? Ich trank noch mal von meinem Bier und konzentrierte mich dann voll und ganz aufs Abendessen. Neil riss mich kurze Zeit später aus meinen Gedanken, als er meinen Namen sagte.

»Seb, versprich mir, dass du deine Nase nirgendwo reinsteckst, wo sie nicht hingehört.«

»Wieso denkst du, dass ich so etwas tun würde?«

Die Frage brachte Neil zum Lachen. »Weil ich weiß, dass du die Aufregung magst. Die zweihundert Mystery-Romane im Wohnzimmer bestätigen das.«

»Das sind keine zweihundert«, versuchte ich mich zu verteidigen. Und selbst wenn. Ich fand Spannung super.

»Seb«, sagte er wieder, dieses Mal noch ernster.

»Ich versprech’s.« Langsam wurde ich ein bisschen sauer. »Du hast ja recht. Ich verstehe das.« Bevor Neil noch etwas antworten konnte, bemerkte ich: »Wie das Herz in den Laden gekommen ist, ist aber noch nicht geklärt.«

»Hm?«

»Wie kommt ein Schweineherz unter meinen Fußboden, Neil?« Ich drehte mich zu ihm um. »Ich habe es da nicht deponiert und ich war derjenige, der den Laden gestern abgeschlossen hat. Das Tor habe ich ganz sicher zugesperrt und den Sicherheitsalarm habe ich auch eingeschaltet.«

»Es war vermutlich ein Streich«, meinte er schulterzuckend.

»Ein Streich?«, wiederholte ich. »Von wem?«

»Weiß ich nicht. Kinder, Teenager. Jemand, der nicht ganz dicht ist. Komm schon, du bist wahnsinnig beschäftigt, wenn du im Laden bist. Du und Max könnt nicht ständig alles im Blick haben.«

Natürlich hatte Neil ein Stück weit recht. Den heutigen Tag ausgenommen, war es sehr hektisch und voll in letzter Zeit. Es waren immer mal wieder mehrere Kunden gleichzeitig im Laden gewesen, es war neue Ware geliefert worden, Artikel waren für eine Auktion abgeholt worden und ich hatte gar nicht alles überblicken können, was vor sich gegangen war.

»Aber wozu?«

»Wozu gibt es Hotdog-Wettessen?«, entgegnete Neil mit einem Grinsen. »Menschen machen ab und zu dumme Sachen, Seb.«

»Vermutlich hast du recht. Es ist aber schon ein bisschen dramatisch. ‚Das verräterische Herz.’«

»Das was?«

»Poe«, erklärte ich. »›Es ist das grauenhafte Klopfen seines Herzens!‹«

»Oh, ja, ich glaube, das habe ich in der Schule gelesen«, erwiderte Neil nachdenklich.

»Ein alter Mann mit einem blinden Auge wird ermordet und zerteilt. Der Mörder denkt, er höre das Herz unter seinen Fußbodendielen, wo er die Leiche versteckt hat«, versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen. »Er dreht durch vor Schuldgefühlen, während die Polizei wegen einer vermeintlichen Ruhestörung bei ihm ist.«

»Verdammt.«

»Zum Glück bin ich nur farbenblind.« Ich konnte mir ein bisschen Sarkasmus nicht verkneifen.

Während des Essens sahen wir uns einen Krimi im Fernsehen an, was bedeutete, dass sich Neil eigentlich 45 Minuten lang nur darüber beschwerte, dass sich die Spurensicherung am Tatort falsch verhielt und niemand so schnell DNA-Ergebnisse zurückbekam. Verärgert schaltete Neil schließlich um und wir landeten bei Kevin – Allein zu Haus.

»Ich wollte das schon immer machen«, sagte Neil, als wir später am Abend im Dunklen saßen und Wein tranken.

»Macaulay Culkin sein?«

»Die Bösewichte schnappen.«

»Das tust du«, meinte ich. »Nur mit Spielzeug für große Jungs. Du bist ein bisschen zu alt, um Treppen zu teeren oder Spielzeugpistolen zu benutzen.«

Neil legte mir seinen Arm um die Schultern und ich machte es mir gemütlich. Es war schön, den Abend zusammen zu genießen, ohne sich wegen Nichtigkeiten zu streiten. Bestimmt dachte Neil dasselbe, denn er lehnte sich näher zu mir und küsste mich auf den Kopf.

»Hey«, murmelte er.

»Hey, was?« Ich sah auf. Meine Sicht war wesentlich besser im Dunklen und ich konnte Neils Gesichtsausdruck gut erkennen.

»Wieso hauen wir nicht ab?«

»Wohin?« Ich musste lachen.

»In das Zimmer nebenan.« Neil lehnte sich nach vorn und legte unsere Brillen auf den Couchtisch, bevor er aufstand.

Auch ich erhob mich und nahm Neil bei der Hand, die er mir entgegenstreckte. Er führte mich in unser überfülltes Schlafzimmer, hob meine Tasche vom Bett und schloss die Tür.

»Hast du Angst, dass uns jemand sehen könnte?«

Er hielt kurz inne, bevor er sich zu mir umdrehte. »Um die kalte Luft draußen zu lassen, Seb«, korrigierte er mich in einem Ton, den ich als seinen Sebastian-du-stellst-dich-ganz-schön-an-Ton kennengelernt hatte. Ich mochte es nicht, weil er diesen Tonfall normalerweise nur benutzte, wenn wir im Begriff waren, eine Diskussion über seine Sexualität zu führen.

Neils Hand fand meine Taille, die andere meinen Hinterkopf und er küsste mich heftig. Er schmeckte ein wenig süßlich und ein wenig bitter, was ungefähr unsere ganze Beziehung zusammenfasste. Seit wir zu Hause angekommen waren, hatte er irgendwie seine Anzugjacke und Krawatte verloren und ich half ihm schnell aus seinem übrig gebliebenen Hemd und der Hose. Neil war währenddessen damit beschäftigt, mich meiner Hose und meines Pullovers zu entledigen. Er lachte kurz auf.

»Was ist?«

»Du kleidest dich wie ein Opa«, flüsterte er mir zu.

»Ich mag den Pullover.«

»Er ist älter als du.«

»Ich versuche nicht, einen Fashion-Wettbewerb zu gewinnen.«

Kleidung einzukaufen, war sehr stressig für mich. Kaufhäuser waren zu hell und es gab offensichtlich ein Konzept von „sich beißenden Farben“. Wenn ich neue Kleidung brauchte, ging ich idealerweise mit meinem Dad zu einem Secondhandladen und ließ ihn ein paar Kleidungsstücke in Farben aussuchen, von denen er sagte, dass ich nichts falsch machen könnte, wenn ich sie mit anderen Farben kombinierte. Wir brauchten im Normalfall nur zehn Minuten.

»Wir kaufen dir bald einen schöneren Pullover«, sagte Neil und begann, meinen Nacken zu küssen.

»Ich mag den aber«, antwortete ich.

»Er ist vom Wohltätigkeitsladen.«

»Ja und? Ich muss keine dreihundert Dollar für einen ‚Ralph Lauren’-Pullover ausgeben, wenn mich der hier wunderbar warm hält.«

»Bist du fertig, Sebby?« Neil starrte mich eindringlich an. »Willst du dich jetzt gerade wirklich streiten?«

Das wollte ich natürlich nicht. Ich war es leid, ständig zu streiten. Ich hasste es, dass jedes unserer Gespräche damit endete, dass einer von uns frustriert war. In fast kompletter Dunkelheit starrte ich Neil an und auf einmal überkam mich ein bekannter, aber furchtbarer Gedanke. Ich war nicht die Person, die Neil wirklich wollte. Wir stritten uns nur noch wegen Kleinigkeiten wie meinem Pullover. Wieso war es ihm so zuwider, dass ich etwas trug, das schon ein bisschen abgenutzt war? Er wollte, dass ich immer chic und modisch auftrat, so wie sein verdammtes Auto.

»Seb?«

Schnell schüttelte ich den Kopf, legte meine Arme um seinen Hals und küsste ihn. Vorsichtig strich ich ihm durch die Haare und versuchte, die von mir zerstörte Atmosphäre wiederherzustellen.

Wann hat sich unsere Beziehung so verändert?

Er schubste mich aufs Bett und küsste meine Brust und meinen Bauch entlang.

Vielleicht, als wir zusammengezogen sind.

Neil drehte mich sanft auf den Bauch und ich hörte das Klacken einer Plastikflasche, bevor ein warmer, öliger Finger seinen Weg in mich fand.

Wann bin ich so defensiv geworden? So bitter und nachtragend meinem Partner gegenüber?

Seine Hände waren an meiner Hüfte und er hob mich leicht an, bevor er unsanft in mich eindrang.

Als er anfing, in mich zu stoßen, biss ich die Zähne zusammen.

Ich mag nicht, wer ich geworden bin.

Kapitel Zwei

»Wir erleben gerade rekordverdächtige Schneefälle in New York City. Experten gehen davon aus, dass es den ganzen Dezember so weitergeht«, meldete der Meteorologe im Fernsehen am nächsten Morgen.

Ich saß an einem kleinen Tisch im Wohnzimmer und hatte meine Augen fest auf den Fernseher gerichtet, während ich dabei war, eine Schüssel Cornflakes zu vernichten und meinen morgendlichen Kaffee zu trinken. Es war definitiv ein Tag, um meine liebste Tasse herauszukramen. Auf ihr war die Grinsekatze aus Alice im Wunderland zu sehen, und wenn sie heiß wurde, verschwand die Katze und nur das breite Grinsen blieb übrig.

Es ist das seltsamste Ding, das ich je gesehen habe!

»… dreißig Zentimeter über Nacht und wir gehen davon aus, dass den Tag hindurch noch mal mindestens das Doppelte dazukommt. Anwohner werden deshalb gebeten, zu Hause zu bleiben. Wir erwarten Windböen von sechzig Stundenkilometern in Manhattan und umliegenden Gebieten. In Long Island können diese sogar mit bis zu neunzig Stundenkilometern durch die Straßen fegen.«

Während ich mir einen weiteren Löffel voll labbriger Cornflakes in den Mund schob, grunzte ich die Frau im Fernsehen an. Ich hatte Max bereits eine SMS geschickt und ihm gesagt, dass er auf keinen Fall zur Arbeit kommen sollte. Der öffentliche Nahverkehr war komplett eingestellt worden, nachdem der Bürgermeister in einer Ansprache vor dem Wetter gewarnt und seine Sicherheitsbedenken bekundet hatte. Die Stadt, die niemals schlief, war zum kompletten Stillstand gekommen.

Statt mich also in den Schneesturm zu begeben, griff ich nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und schlug es an der mit Lesezeichen markierten Stelle auf. Ich nahm eine meiner vielen Lupen zur Hand und fing an, zu lesen, bis Neil aus dem Schlafzimmer kam. Er war gerade dabei, in seine Anzugjacke zu schlüpfen, und sah mich kritisch an.

»Cornflakes und Mystery?«

»Japp«, murmelte ich, bevor ich von der Seite aufsah und ihn anblickte. »Mörder warten nicht bis nach dem Frühstück, Watson.«

Neil verzog das Gesicht. »Du bist nicht Sherlock.« Er zeigte auf die Schüssel vor mir. »Das ist purer Zucker.«

»Ich werde dran denken, demnächst mal zum Zahnarzt zu gehen«, konterte ich und aß einen weiteren Löffel Cornflakes.

Er ignorierte meinen Kommentar, was gut war, denn das hätte unweigerlich zu einer weiteren Auseinandersetzung geführt. »Du bleibst heute zu Hause, richtig?«

»Ja, Max kann sowieso nicht in die Stadt kommen.« Ich hatte mir fest vorgenommen, den Tag zu nutzen, um die Kartons neuer Ware durchzugehen, die ich in der ganzen Wohnung verteilt hatte. Aber bisher hatte mich die übliche Begeisterung noch nicht gepackt. Früher hatte ich mich voller Enthusiasmus in meine Arbeit gestürzt und es geliebt, mich durch Schätze zu wühlen, die so viel Geschichte in sich trugen. Nun war es, als hätte jemand einen Becher über eine Flamme gestülpt und den ganzen Sauerstoff genommen. Ich vermisste die Aufregung. Irgendwie fühlte ich mich nicht mehr wie derselbe Sebastian, der ich am Anfang des Jahres gewesen war. Ehrlich gesagt war ich nicht mehr derselbe Sebastian, seit Neil bei mir eingezogen war. »Ich glaube, dass Mike etwas Ähnliches passiert ist wie mir«, bemerkte ich nebenbei. Ich legte die Lupe weg und öffnete die Cornflakesschachtel, um meine Schüssel aufzufüllen.

»Was?« Neil war gerade dabei, seine Haare in Form zu bringen, und stand vor dem Spiegel neben der Eingangstür.

»Ich meine nur, wenn die Detectives, die gestern im Imperium waren, auch zu seinem Einbruch gerufen wurden …«

 

»Hör auf, Sebby. Du verschwendest nur deine Zeit, wenn du darüber nachdenkst.«

»Wie kannst du das nicht seltsam finden?«

»Tue ich, aber Detective Lancaster hat recht. Es hat kein Verbrechen stattgefunden.«

»Jemand ist eingebrochen.«

»Da haben wir gestern schon darüber geredet.«

Ich verrührte die neuen Cornflakes in meiner Schüssel mit der noch übrig gebliebenen Milch. »Eine kurze Unterhaltung mit Mike würde das alles aufklären.«

»Seb, ich mein’s ernst.« Neil drehte sich zu mir um und sah mich eindringlich an. »Wenn du zu ihm rübergehst, werde ich dich ganz sicher nicht vom Gefängnis abholen, wenn sie dich verhaften.«

»Gut zu wissen, wo für dich die Grenzen in unserer Beziehung sind.«

Neil schüttelte den Kopf und schnappte sich seine Jacke und Schuhe. »Ich gehe.« Er sah mich noch mal an. »Geh nicht zu Mike.«

»Ja, Herr Gefängnisdirektor«, murmelte ich und hob meine Hand, um ihm zu salutieren. »Wirst du anrufen, um sicherzustellen, dass ich meine Ausgangssperre einhalte?«

»Süß, Sebby.« Er öffnete die Tür. »Sei brav.«

»Ich bin keine zwölf Jahre alt mehr, Neil«, rief ich ihm hinterher, aber er schloss die Tür, während ich sprach. Einen Moment später fing mein Handy auf dem Tisch an zu klingeln. Das Display zeigte mir, dass Dad anrief.

»Guten Morgen, Kleiner«, sagte William Snow in einem erfreuten Ton. »Das ist ein ganz schöner Schneesturm, was?«

»Hey, Dad.«

»Ich störe dich nicht, oder?«

»Nein. Wie geht’s dir?«

»Ganz gut, ich bin nur ein bisschen unruhig. Maggie und ich konnten heute nicht, wie üblich, spazieren gehen. Bleibst du heute daheim?«

Nachdem ich gerade den Mund voll Cornflakes hatte, summte ich einfach als Antwort. »Es macht nicht viel Sinn, wenn ich den Laden aufmache bei dem Wetter, denke ich«, erklärte ich, als ich wieder sprechen konnte.

»Ist Neil auch zu Hause?«

»Nein, er musste zur Arbeit.« Mein Blick schweifte wieder zum Fernseher. »Steht bei dir heute irgendwas an?«

»Nee«, antwortete er.

»Kann ich vorbeikommen?«

»Klar, aber soweit ich weiß, fahren keine Taxis.«

»Das macht nichts.« Langsam stand ich auf und trug meine leere Schüssel in die Küche. »Ich werde mein Glück zu Fuß versuchen.«

»Ist alles okay, Sebastian?«

»Klar«, sagte ich, als ob ich es glauben würde, wenn ich es nur laut aussprach. »Wir sehen uns später.«

Wir verabschiedeten uns und legten auf.

Zurück im Schlafzimmer, wühlte ich mich durch einen Haufen Wäsche, die im Schrank von ihren Bügeln gerutscht war und sich am Boden gesammelt hatte. Ich schlüpfte in eine helle Jeans und streifte ein weißes, oder vielleicht doch eher graues, T-Shirt über. Im Badezimmer stellte ich mich vor den Spiegel und strich mir über wie Wangen, während ich überlegte, mich zu rasieren. Letztendlich kam ich zu dem Entschluss, dass es den Aufwand nicht wert war. Stattdessen fuhr ich mir ein paarmal mit den Fingern durch meine Haare, wusch mein Gesicht und putzte meine Zähne. Ich sprühte mir Deo auf und zu guter Letzt setzte ich noch meine rot eingefärbten Kontaktlinsen ein. Meinem Dad nach veränderten die Linsen meine Augenfarbe von einem Haselnussbraun in ein sehr dunkles Braun. Sie schützten mich vor Licht, und das Beste war, dass ich meine Sonnenbrille mit Sehstärke problemlos darüber aufsetzen konnte.

In dem Moment, als meine Stiefel in den tiefen Schnee einsanken, bereute ich meine Entscheidung, rauszugehen. Es schneite immer noch mit voller Wucht und die Stadt war so still, dass es fast unheimlich war. Ich traf nur wenige andere mutige Menschen, die sich ihren Weg durch den Schnee bahnten, während ich versuchte, so schnell wie möglich die Wohnung meines Vaters zu erreichen. Die Straßen waren leer, nur ein paar Fahrzeuge des Winterdienstes fuhren in der Nähe auf und ab. Fast alles hatte geschlossen. Die einzige Ausnahme schien ein alter Waschsalon und das Café daneben zu sein. Schnell kaufte ich ein paar frische Donuts, die hoffentlich als Ablenkung dienen würden, damit Dad mich nicht auf mein eher glanzloses Erscheinungsbild ansprach.

Nach 25 Minuten stand ich endlich vor der Eingangstür zu Dads Gebäude. Normalerweise würde ich für den Weg nur 15 Minuten brauchen, aber normalerweise befanden wir uns auch nicht in einer Schneeapokalypse.

Während ich darauf wartete, das vertraute Summen des Türöffners zu hören, versuchte ich, mir den Schnee von meinem Mantel und meinem Schal zu klopfen. In diesem Haus war ich aufgewachsen. Es handelte sich dabei um eines dieser Vorkriegsgebäude, das offensichtlich von einem Architekten gut durchgeplant worden war. Es hatte wahnsinnig viel Charme und war wunderschön. Dad hatte hier schon als Teenager gewohnt und war einer der wenigen Glücklichen, die eine preisgebundene Miete zahlten. Andernfalls wäre er sicherlich bereits gezwungen gewesen, seine Wohnung aufzugeben und in das Umland der Stadt zu ziehen. Vor allem jetzt, wo er gerade erst in Rente gegangen war.

Das erwartete Summen erklang und die Tür wurde entriegelt. Ich hastete hinein und die Treppen hinauf, bevor ich an der Tür klopfte.

»Es ist offen!«

In dem Moment, als ich die Tür öffnete, wurde ich von einem riesigen Pitbull empfangen. Er hüpfte auf seinen Hinterbeinen und begann, mein Gesicht und die Sonnenbrille abzulecken. »Oh Maggie, komm schon, jedes Mal!«

»Runter«, befahl mein Vater in einem strengen Ton. »Das machst du nur bei Sebastian«, schimpfte er mit seiner Prinzessin etwas sanfter. Natürlich eilte sie sofort an seine Seite und wackelte glücklich mit dem Schwanz.

»Hey, Dad«, sagte ich, nachdem ich die Tür geschlossen und meine Winterbekleidung abgelegt hatte. Ich nahm meine Sonnenbrille ab und versuchte, sie mit meinem T-Shirt von der Hundespucke zu befreien.

»Ich hatte schon Angst, du seiest in dieser wilden, arktischen Tundra verloren gegangen«, bemerkte Dad mit einem leisen Lachen.

»Fast«, antwortete ich, holte meine normale Brille aus meiner Jackentasche und platzierte die Schachtel mit Donuts auf dem Tisch. Als er dabei war, die Kaffeemaschine einzuschalten, erblickte er sie aus den Augenwinkeln. »Was ist das?«

»Ich war kurz bei Little Earth.«

»Die mag ich am liebsten.«

»Weiß ich«, antwortete ich und holte eine kleine Tüte aus dem Inneren der Schachtel, in der sich zwei Hundekuchen befanden. Little Earth war ein lokaler Geheimtipp und bekannt für seine großartigen Donuts, aber auch Hunde kamen hier voll auf ihre Kosten, dank der selbst gemachten Leckerlis im Angebot. »Versprichst du mir, dass du nicht mehr an mir hochspringst?«, fragte ich Maggie.

Ganz brav setzte sie sich vor mich hin und sah mich voll nervöser Aufregung an.

Vorsichtig hielt ich ihr die Leckereien hin und sie schnappte sie mir beide zeitgleich aus der Hand. »Klar«, meinte ich. »Natürlich wirst du mich wieder anspringen.«

»Bist du gerade erst aufgestanden?«, fragte Dad und sah mich mit einer unbeeindruckten Miene an.

»Ich hab mir die Zähne geputzt«, erwiderte ich, lehnte mich gegen die Küchenzeile und sah mich um.

Die Wohnung hatte sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Sie war groß und geräumig und wenn man reinkam, fand man auf seiner Rechten direkt eine schöne, gut ausgestattete Küche. Am Ende der Wohnung konnte man durch große Erkerfenster auf die Straße blicken und direkt davor stand ein kleiner Esstisch. In der Mitte der Wohnung war eine Couch, die von Bücherregalen umringt war. Die Regale platzten schon aus allen Nähten und direkt vor der Couch hatten Dad und ich vor ein paar Jahren ein ordentliches Entertainmentsystem installiert. Den Flur runter fand man das Badezimmer und mein altes Kinderzimmer, das jetzt als Büro diente. Allerdings benutzte Dad es so gut wie nie, seit er in den Ruhestand gegangen war. Sein Schlafzimmer war direkt hinter der Küche. Dad hatte alle Vorhänge zugezogen, was er immer tat, wenn ich ihn besuchen kam, und die Lampen leuchteten in ihrer schwächsten Einstellung.

»Du hast deine Haare vergessen«, sagte Dad. Er zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als er anfing, meine wilderen Strähnen glatt zu streichen. »Und habe ich dir nicht beigebracht, wie man sich rasiert?«

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