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Warten, nichts als warten


ie Woche verging langsam und ohne große Ereignisse. In der Schule lernten sie nach und nach alle ihre neuen Lehrer kennen. Da war zum Beispiel Gertrude Zank, eine ältliche aber dennoch beinharte Lehrerin, bei der sie Erdkunde und Sozialkunde hatten.

Eriks Kommentar zu ihr war: »Die sieht echt so aus, als würde sie nach der Schule auf nem Besen nach Hause reiten.«

Dann gab es noch Herrn Jemineh, den Mathe- und Physik-Lehrer. Er war irgendwie mittelalt und recht unscheinbar. Allerdings hatte er einen trockenen Humor, mit dem er seine Stunden gerade so würzte, dass auch die öde Theorie nicht immer nur langweilig war.

Chemie hatten sie bei Antonio Meyer, einem kleinen Deutsch-Italiener. Dieser hatte trotz seiner zwanzigjährigen Laufbahn als Lehrer immer noch einen derartigen Akzent, dass er bereits seine erste Stunde der unfreiwilligen Komik preisgab.

Den Abschluss bildete Herr Dr. Gormann der Biologie-Lehrer. Er ließ die Schüler vom ersten Augenblick an spüren, dass er seine Arbeitskraft an einer bloßen allgemeinbildenden Schule für absolut vergeudet hielt. Schon kurz, nachdem er das »Dr.« seines Namens an die Tafel geschrieben hatte, schien er förmlich einen halben Meter größer zu werden. Sofort danach fing er an, sie alle mit der ihm eigenen herablassenden Art zu behandeln. Schnell kamen sie sich vor, als wären sie Zweijährige, die sich auf eine Veranstaltung ihrer Eltern verirrt hatten.

Als es schließlich Freitag wurde, waren Lucas’ Neugier und Anspannung mittlerweile schier ins Unermessliche gestiegen. Den Tag über folgte er dem Unterricht nur mit einem halben Ohr. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu den kommenden Ereignissen, von denen er überhaupt noch gar nicht wusste, ob sie ihm das bringen würden, was er sich erhoffte. Im Grunde genommen war er sich nicht einmal klar darüber, was er sich erhoffte. Das machte ihn geradezu wahnsinnig vor Ungeduld.

Zum Glück hatten sie in der letzten Stunde Sport. Lucas versprach sich davon eine Art von Ablenkung, die anders sein würde, als es normaler Unterricht wäre. Wie sehr er damit recht haben würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt nicht.

Sie hatten sich umgezogen und lungerten nun in der Sporthalle herum. Während sie auf ihren Lehrer warteten, unterhielten sie sich angeregt über die nun fast vergangene erste Schulwoche. Obwohl Lucas eigentlich nicht der Sinn danach stand, beteiligte er sich auch am Gespräch und vergaß darüber schließlich doch fast seine Ungeduld.

Plötzlich gellte ein schriller Pfiff durch die Halle, der sie alle zusammenzucken ließ. Sie drehten sich hastig zu der Geräuschquelle um. Dann sahen sie ihn.

Karl Brecher war ein wahrer Bulle von einem Mann: groß und muskulös, mit Stiernacken und einem kantigen Schädel, auf dem sich ein Bürstenhaarschnitt befand. Diese imposante Erscheinung steckte in einer Art Trainingsanzug, den er wahrscheinlich aus einem Army-Shop hatte. Die Hosen waren in Tarnfarben gescheckt und auf dem Muscleshirt, das er dazu trug, befand sich ein Bundesadler.

»Scheiße, das ist Knochen-Brecher, raunte ihm jemand ins linke Ohr. Wenn ich das richtig gehört habe, dann war der mal beim BGS, aber sie haben ihn wegen irgendwas rausgeschmissen.«

Mehr konnte Lucas nicht verstehen, denn Brecher hatte zu sprechen begonnen – vielmehr war es wohl das, was er für Sprechen hielt.

In einem Ton, der Lucas stark an den des Drill-Sergeants aus »Ein Offizier und Gentleman« erinnerte, schrie er quer durch die Halle: »So, Freunde des Schweißes. Dann mal schön in einer Reihe anjetreten und Maul halten! Ick bin hier der Scheff und in meinem Unterricht jibt et nur zwei Rejeln. Erstens: Et wird jemacht, wat ick sage und zweitens: Schnauze halten. Kommprie?«

»Avez-vous«, entwischte es aus Lucas’ Mund in die eingetretene Stille hinein.

Neben ihm sog jemand scharf die Luft ein.

Lucas sah sich aus den Augenwinkeln verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Er konnte nicht glauben, was er gerade getan hatte. Bereits zwei Sekunden nachdem ihnen von ihrem Lehrer, der sich geradezu für ihren Gott zu halten schien, die Zwei Gebote gegeben worden waren, hatte er eines davon gebrochen. Aber vielleicht hatte Brecher die gemurmelten Worte ja gar nicht gehört oder wusste nicht, wer sie ausgesprochen hatte.

So schnell, wie sie gekommen war, verschwand seine Hoffnung auch wieder.

Brecher baute sich in diesem Moment vor Lucas auf und schaute auf ihn hinab. Er musste zwar nicht besonders viel hinabschauen, denn Lucas war ziemlich groß, aber er kam sich neben diesem Fleischberg trotzdem um einiges kleiner vor.

»Wat war dit?«, herrschte Brecher Lucas an.

»Entschuldigung, es war nur weil ...«, murmelte er mit gesenktem Blick.

»Ick kann dich nich hören!«, brüllte Brecher ihm ins Gesicht und erinnerte Lucas damit erneut an einen Drill-Sergeant.

»Sir, Entschuldigung, Sir!«, schrie er daraufhin zurück. »Ich nahm an, dass Sie auf Französisch ‘Habt ihr verstanden’ sagen wollten und das heißt nicht nur ‘Compris’, sondern ‘Avez-vous compris’.«

Stille lastete schwer auf der ganzen Sporthalle während der Lehrer den strammstehenden Lucas mit einer Mischung aus Verwunderung und Wut anstarrte.

»Findest dit wohl lustich, wa?«, knurrte Brecher. »Na denn wolln wa ma sehn, ob de dit jetz ooch noch lustich findest. Ihr da!« Er drehte sich zu dem Ende der Reihe um, das sich am nächsten zu den Geräteräumen befand. »Holt drei Matten, ein Pferd und ein Sprungbrett. Zack-Zack!«

Schweigend machten sich die Angesprochenen an die Arbeit. Die anderen Schüler waren inzwischen ein Stück von Lucas abgerückt und musterten ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid.

Er selbst wusste gar nicht so recht, wie er sich fühlen sollte. In ihm herrschte eine große Leere. Was würde das jetzt wohl werden? Jedenfalls bestimmt kein Spaß – so viel stand fest. Brecher wollte hier an ihm ein Exempel statuieren, um seine Autorität von vornherein klarzustellen.

Er war zu den Schülern, die die Geräte holten, hinübergegangen und dirigierte sie mit fuchtelnden Händen. Als sie fertig waren, drehte sich Brecher mit einem niederträchtigen Grinsen zu Lucas um.

»So, Schlaumeier. Jetz will ick ma sehn, ob du ooch noch wat anderet bewegen kannst, als dein Mundwerk. Anlauf nehmen und rüber über det Ding!« Er zeigte auf das Pferd, das längs aufgestellt worden war. »Und keene Angst mein Kleener. Wennde uff die Schnauze fliechst, denn helf ick dir.«

Lucas sah sich in der Halle um. Überall standen seine Klassenkameraden möglichst unauffällig in der Gegend herum. Keine Frage, die Ansage von Brecher hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Mit zitternden Knien, aber äußerlich doch bemüht, sich davon möglichst wenig anmerken zu lassen, trottete Lucas zum Anlaufpunkt und stellte sich auf. Er wagte noch einen vorsichtigen Blick in die Runde, aber niemand traute sich, ihm zu begegnen.

Lucas zuckte mit den Schultern. Das war es nun also: Seine erste Sportstunde an dieser Schule würde wohl damit enden, dass er von einem zufrieden schmunzelnden Karl Brecher an die Mannschaft eines Rettungswagens übergeben würde.

»Ick hab noch jesacht: Mach det nich. Aber denkense der hat uff mich jehört?«, klang Brechers Stimme in Lucas’ Gedanken, und das grinsende Gesicht schaute in falscher Anteilnahme auf ihn hinab.

Mit einem Mal änderte sich etwas. Lucas konnte nicht genau sagen, was mit ihm vorging, aber irgendwas ging vor. Sein Herz, das ohnehin schon einen wilden Tanz in seiner Brust aufgeführt hatte, fühlte sich nun an, als ob es sich dazu entschieden hätte, seinen Brustkorb zu zertrümmern, um dem feixenden Brecher ins Gesicht zu springen. Lucas hatte das Gefühl, dass sich alle Muskeln fast bis zum Zerreißen spannten. Eine Wut stieg in ihm auf und füllte sein ganzes Bewusstsein aus.

Dieser Typ – Lehrer oder nicht – sollte ihm nicht den Tag verderben. Er hatte Besseres zu tun als sich hier von diesem Möchtegern-Gott vorführen zu lassen! Er musste sich heute noch mit Neumann treffen, um endlich Klarheit in all die Fragen zu bringen, die ihn die ganze Zeit seit ihrem letzten Gespräch umtrieben.

Ohne es selbst richtig zu merken, sprintete Lucas mit einer Vehemenz los, die einige nahe bei ihm stehenden Schüler zusammenzucken ließ. Er rannte auf das Sprungbrett zu. Dabei hatte er das Gefühl, dass sich sein ganzes Leben quasi auf diesen rechteckigen Punkt vor ihm auf dem Boden fokussierte. Seine Füße hämmerten auf den Boden der Turnhalle, immer schneller, immer schneller. Als er das Brett erreichte, sprang er ab und – Dunkelheit umfing ihn.

Lucas erschrak. Er wollte aufschreien, aber er brachte keinen Ton heraus. Tatsächlich konnte er weder sich noch irgendjemand anderen hören.

War’s das jetzt?, fragte er sich still, während er das Gefühl hatte, endlos durch leeren Raum zu schweben. Bin ich etwa tot?

Aber bevor Lucas die Möglichkeit hatte sich eine Antwort auf diese Frage zu überlegen, drang plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm an seine Ohren. Einerseits war er erneut erschrocken über diesen Lärm. Andererseits war er aber auch froh über die Tatsache, dass er offensichtlich doch noch am Leben zu sein schien.

Er drehte den Kopf und stellte wiederum erstaunt fest, dass er auch wieder etwas sehen konnte. All seine Mitschüler stürmten jubelnd auf ihn ein, klopften ihm auf die Schulter und schüttelten ihm die Hände.

 

Lucas blickte verständnislos in die Runde.

Andi, der grinsend wie ein Honigkuchenpferd vor ihm stand, rief: »Mann, das war echt abgefahren. Wo hast du denn das gelernt?«

»Was gelernt? Ich meine was ...«, stammelte Lucas zurück.

»Na den Stunt, den du da eben hingelegt hast. Muss so was wie‘n Doppelsalto oder so gewesen sein. Weiß nich, war irre schnell«, antwortete Andi.

Lucas wandte sich um und stellte fest, dass er auf der anderen Seite des Pferdes stand. Irgendwie musste er also tatsächlich da rüber gekommen sein.

»Keine Ahnung.« Er grinste Andi zu. »Ich hab einfach ...«

»Darf man die Mädels ma störn?«, hörte Lucas die Stimme von Brecher hinter sich.

Diesmal brüllte er nicht, aber in der Stimme lag ein Unterton, der es Lucas eiskalt den Rücken hinunterlaufen ließ.

»Ick wollte nur unserm Turner-As zu seiner Leistung gratulieren«, fügte er hinzu. Dabei streckte er Lucas seine Hand hin.

Lucas ergriff sie und dann drückte Brecher mit einer Kraft zu, die Lucas’ Knochen knirschen ließ. Diesem schossen vor Schmerz sofort Tränen in die Augen, aber Brecher ließ nicht los.

Zwischen seinen grinsend gebleckten Zähnen zischte er Lucas zu, sodass nur er es hören konnte: »Na warte, Freundchen. Det machste nich noch mal mit mir.« Und dann an alle gewandt fügte er hinzu: »Bravo, bist‘n Juter. Sehter Leute, sowat könnt ihr ooch jerne ma machen, wenn euch nach Quatschen oder so is. Vielleicht ham wa hier inner Klasse noch mehr Sportskanonen.«

Dann ließ er Lucas’ Hand los und blickte auf die Uhr. »Schade, det hat jetz allet leider‘n bisschen lange jedauert. Nu bleibt uns bloß noch Zeit, ne Runde zu laufen. Zwanzig Minuten ab jetz und uff jeder zweiten Gerade einen Sprint!«

Das Gesumme der Stimmen, das eben noch ertönt war, erstarb schlagartig, als Lucas’ Mitschüler die letzten Worte hörten.

Mit hängendem Kopf reihte sich Lucas schweigend in die Reihe der anderen ein und fing an zu laufen.

Als sie nach der Stunde im Umkleideraum ihre Sachen zusammenpackten, fragte er sich, ob er sich jemals schon so fertig gefühlt hatte.

Dann trat einer seiner Klassenkameraden an ihn heran und sagte immer noch mit hochrotem Kopf: »Tu uns allen den Gefallen und halt deine Zunge in Zukunft in Zaum. Auf so ne Aktion hab ich nicht so bald wieder Bock.«

Lucas blickte in die Runde. Er stellte fest, dass ihn fast alle mit Blicken ansahen, die ungefähr das aussagten, was der Junge eben angesprochen hatte.

Nur Andi und Erik zuckten mit den Schultern und versuchten zu grinsen.

Lucas beschloss, sich die Bitte zu Herzen zu nehmen. Im Grunde genommen hatte er ja selbst keine Lust darauf, von Brecher drangsaliert zu werden. Wer wusste schon, was der sich beim nächsten Mal einfallen lassen würde.

Enthüllung


achdem Lucas seine Sachen gepackt hatte, ging er hinaus auf den Schulhof, wo er sich schnell einen schattigen Platz suchte. Da freitags nur wenige Klassen bis zur sechsten Stunde Unterricht hatten, war der Hof schon ziemlich leer. Er setzte sich auf eine der Bänke, um auf Herrn Neumann zu warten.

Andi und Erik kamen an ihm vorbei. »He, was los? Willst du hier übernachten?«, riefen sie ihm zu, aber er winkte nur ab und sagte, dass er noch auf jemanden warten müsse. Die beiden schnitten eine Grimasse und trollten sich nach Hause.

Lucas lehnte sich zurück. Er genoss die momentane Ruhe. Nur die zwitschernden Vögel waren zu hören – gelegentlich unterbrochen von Schülerstimmen, die sich gegenseitig ein schönes Wochenende wünschten. Er schloss die Augen und döste vor sich hin. Als er sie wieder öffnete, blickte er direkt in das lächelnde Gesicht von Neumann. Lucas hatte ihn zwar nicht kommen gehört, aber irgendwie hatte er gewusst, dass er da war.

Das Lächeln des Lehrers wurde breiter. »Ah, du hast mich bemerkt – gut«, sagte er und ergänzte, bevor Lucas etwas erwidern konnte: »Ich habe gehört, dass du eben einen großen Auftritt hattest.«

»Hä?«, entfuhr es Lucas. »Verzeihung, was hatten sie gesagt?«

»Na, die Sache mit Brecher«, entgegnete Neumann immer noch schmunzelnd.

»Oh, das! Na ja, das ... aber woher wissen Sie denn das?«

»Das war nicht schwer zu erfahren. Ich hab Brecher ins Lehrerzimmer kommen sehen – der hat echt geschäumt vor Wut. Bevor jemand etwas sagen konnte, da hat er auch schon losgelegt: Was du denn für ein Typ wärst, kein Respekt lalala. Und dann hättest du auch noch die ganze Klasse aufgehetzt. Mann, das hätte ich gern mit angesehen.«

»So lustig war es nun auch wieder nicht«, bemerkte Lucas. »Über ein Pferd sollte ich springen! Ich dachte, er trägt mich hinterher in nem Eierbecher nach Hause.«

»Aber du hast es geschafft, oder?«

»Ja, irgendwie schon, aber ich weiß nicht wie.«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Neumann nickend.

»Wieso gedacht, was ...?«, wollte Lucas fragen, aber Neumann sagte nur: »Später. Deswegen haben wir uns doch heute getroffen. So, was ist, wollen wir los?«

Lucas sprang geradezu von der Bank auf. Er folgte Neumann über den Hof.

Dieser lief zu einem Schuppen neben dem Fahrradverschlag, den er aufschloss und darin verschwand. Gleich darauf kehrte er mit zwei Helmen in der Hand zurück, von denen er Lucas einen zuwarf.

Dieser fing ihn auf. Er fragte sich dabei kurz, was er damit anfangen sollte, als sein Blick auf das Motorrad fiel, das Neumann gerade bestieg. In diesem Moment hatte Lucas das Gefühl, sich mit der flachen Hand an die Stirn schlagen zu müssen. Natürlich würden sie Motorrad fahren. Er konnte sich kein Fortbewegungsmittel vorstellen, das so gut zu Neumann passte, wie dieses.

Es war eine Vmax, schwarz und chromblitzend, schlicht, aber die Kraft, die in ihr steckte, war förmlich zu spüren.

Voller Vorfreude setzte er sich den Helm auf und kletterte hinter Neumann auf den Soziussitz, als ihm etwas einfiel. Seit seine Eltern fast einen guten Freund bei einem Unfall verloren hatten, standen sie dem Motorradfahren ziemlich skeptisch gegenüber. Sie würden es bestimmt wissen wollen, wenn er nun als Beifahrer auf ein Motorrad stieg.

»Was gibt’s?«, fragte Neumann, der sein Zögern bemerkte.

»Ach, nichts«, antwortete Lucas und ließ sich auf den Sitz fallen, aber als sie vom Schulhof und dann Richtung Stadt fuhren, dachte er: Hoffentlich sieht mich niemand.

Die Fahrt dauerte nicht lange, aber Lucas genoss sie in vollen Zügen. Er mochte dieses Gefühl von Freiheit, das ihm das Motorradfahren vermittelte. Er ließ die Häuser und Straßenbäume an sich vorbeiflitzen und spürte die Kraft der Beschleunigung – obwohl Neumann gar nicht so schnell fuhr.

Dann waren sie an einem unscheinbaren Mietshaus in einer von recht hohen Bäumen bewachsenen, engen Seitenstraße angekommen, die für die Innenstadt üblich waren. Sie fuhren durch ein Tor auf einen Hinterhof. Dieser war allerdings nicht wie ein normaler Hof von hohen Mauern geprägt, sondern öffnete sich nach hinten auf ein brachliegendes Grundstück und dahinter liegende Bahngleise.

Lucas schaute sich um, nachdem er vom Motorrad abgestiegen war und den Helm abgenommen hatte. Er entdeckte ein flaches Gebäude, das sich an einen verfallen aussehenden Seitenflügel des Mietshauses anlehnte.

Der gesamte Bau war über und über mit Graffiti besprüht und sah insgesamt recht sonderbar aus.

Neumann schien sich jedoch an diesem Aussehen nicht zu stören, denn er hielt direkt auf den Eingang zu. Lucas folgte ihm.

Über dem Eingang hing ein Schild, dessen Aufschrift man erst dann richtig erkennen konnte, wenn man unmittelbar davor stand. In graffiti-typisch verschlungenen Buchstaben stand dort »BAT-Club« geschrieben. Neumann trat ein und winkte Lucas, ihm zu folgen.

Im Eintreten dachte Lucas, dass es sich wohl um eine Art Jugendclub handeln musste. Er konnte ein Bistro, einige Flipper und Billardtische, sowie einen dunklen Durchgang mit einem Schild »Disco« erkennen.

Neumann ging mit ihm sofort ins Bistro, wo sich schon einige Leute befanden. Es war eine etwas seltsame Mischung von Menschen, die hier saß, stand oder herumlief. Die meisten schienen – soweit sich das sagen ließ – in Lucas’ Alter zu sein, aber man konnte auch einige Erwachsene sehen. Dann fiel ihm ein, dass auch er ja mit einem Erwachsenen da war und er zuckte für sich leicht mit den Schultern.

Neumann bedeutete ihm, an einem freien Stehtisch zu bleiben, während er hinter den Tresen ging, um dort mit einem Mann zu sprechen.

Lucas sah, wie Neumann dem Mann einen metallisch glänzenden Gegenstand gab. Er glaubte, diesen als den Apparat zu erkennen, mit dem der Lehrer letztens bei ihm irgendetwas gemessen hatte.

Der Fremde beäugte den Gegenstand kurz, nickte dann und sagte etwas zu Neumann, der daraufhin wieder zu Lucas zurückkam.

»Komm, wir müssen nicht hierbleiben«, sagte er. Dabei legte er Lucas einen Arm auf die Schulter und führte ihn in Richtung einer Tür, die sich neben dem Tresen befand.

Als sie durch die Tür getreten waren, kamen sie in einen fast leeren großen Raum. Dieser war wie eine Art Auditorium nach unten abfallend in den Boden hineingebaut worden. Sie setzten sich an einen von um die 50 Tischen, die in kleiner werdenden Halbkreisen auf den einzelnen Stufen des Raumes aufgestellt waren. Zu ihnen gehörten jeweils zwei Stühle.

Lucas ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. An drei weiteren Tischen saß jeweils ein Junge oder Mädchen zusammen mit einem Erwachsenen. Nach den ratlos aussehenden Blicken zu urteilen, die er von dem einen oder anderen auffing, wussten auch sie nicht mehr als er. Dann beobachtete er die Erwachsenen und stellte fest, dass sie ebenfalls etwas gemeinsam hatten. Alle vermittelten den Eindruck nur mühevoll unterdrückter Vorfreude auf etwas. Lucas hob den Blick und sah nun in das lächelnde Gesicht von Neumann, der ihm zuzwinkerte.

»Jetzt ist es gleich so weit«, flüsterte er ihm zu. »Wir müssen nur noch darauf warten, wer von denen da draußen ebenfalls ausgewählt wird.«

Aha. Also bin ich anscheinend zu etwas erwählt worden – aber wozu?

Die Ungeduld, die durch die Herfahrt etwas in den Hintergrund getreten war, kam mit Macht wieder zurück. Sie vermittelte ihm das Gefühl, auf einem Ameisenhaufen zu sitzen.

Um sich irgendwie abzulenken, wandte er sich wieder an Neumann: »Wissen die da draußen, um was es geht?«

»Nee, das wäre nicht gut«, kam es von Neumann zurück, der sich aber sofort wieder bremste und nicht weitersprach. Aber das, was er gesagt hatte, weckte nun erst recht Lucas’ Interesse.

»Wieso denn nicht gut?«, bohrte er weiter.

Neumann grinste verlegen. »Na ja, wie soll ich es sagen? Es entscheidet sich ja erst noch, wer etwas mit uns zu tun hat und wer nicht. Für die, die nichts mit uns zu tun haben, wäre jede Information zu viel. Die könnten damit nichts anfangen.«

In Lucas regten sich ob dieser Geheimniskrämerei inzwischen trotz all seiner undefinierten Hoffnungen und Ungeduld leichte Zweifel, ob es richtig gewesen war, sich auf das alles hier einzulassen. Er schaute Neumann mit einer hochgezogenen Augenbraue fragend an.

Dieser legte ihm die Hand auf den Arm. »Lucas, ich schwöre dir, dass du in einer halben Stunde genau weißt, wovon ich gesprochen habe und mir zustimmst. Bitte hab noch dieses bisschen Geduld. Ich weiß es ist viel verlangt, aber es lohnt sich wirklich.«

Lucas blickte in Neumanns Augen und glaubte, darin eine Ernsthaftigkeit zu erkennen, die seine Zweifel wieder schwinden ließ. Er nickte und lehnte sich im Stuhl etwas zurück, um seine Anspannung abzuschütteln.

Es dauerte nicht lange, aber Lucas kam es trotzdem wie eine halbe Ewigkeit vor, da öffnete sich plötzlich die Tür, durch die sie auch eingetreten waren. Eine lange Reihe von Jungen und Mädchen kam zusammen mit ihren Begleitern herein. Alle suchten sich einen Platz, um sich hinzusetzen. Als auch die Letzten eingetreten waren, schloss sich die Tür wieder.

Lucas vernahm dabei ein leises Klicken, das ihm verriet, dass sie sich auch verriegelt hatte, um nun niemanden mehr herein (oder hinaus?) zu lassen.

Neumann, der Lucas’ Reaktion darauf bemerkte, legte ihm wiederum die Hand auf den Arm und schüttelte mit geschlossenen Augen leicht den Kopf.

 

Lucas blieb sitzen, aber der nagende Zweifel war wieder da.

Nun allerdings wurde im Saal das Licht gedimmt und die Spots für das Podium angeschaltet. Dies nahm Lucas Aufmerksamkeit in Anspruch, sodass der Zweifel ein weiteres Mal in den Hintergrund trat. Durch eine Tür neben dem Podium traten mehrere Personen ins Licht und setzten sich auf dort stehende Stühle.

Nur eine Person blieb stehen. Es war ein Mann, der eigentlich nur durch eines auffiel – seine Unauffälligkeit. Er war irgendwie mittelalt und mittelgroß. Sein Haar hatte eine Farbe, die wie eine Mischung sämtlicher Haarfarben aussah. Auch das Gesicht wies keine markanten Merkmale auf. In einer Menschenmenge wäre er so wenig aufgefallen wie ein Sandkorn in der Wüste. Als der Mann aber zu sprechen begann, hatte er eine sonore Stimme, die den ganzen Raum zu füllen schien, obwohl er nicht sonderlich laut sprach.

Neben Lucas machte Neumann eine Bewegung, die ihm signalisierte, dass auch er das fühlte, was Lucas in diesem Moment durch den Kopf ging: Jetzt geht’s endlich los!

»Guten Tag meine Damen und Herren«, sagte der Mann auf dem Podium. »Ich nehme an, dass Ihnen diese Anrede bisher nicht oder nur selten zuteilwurde. Aber nichtsdestoweniger halte ich sie für die richtige Wahl, denn Sie unterscheiden sich von circa 95% aller anderen Menschen in einem wesentlichen Punkt. Und genau dieser Punkt ist der Grund dafür, dass Sie heute hier sind.«

Er machte eine bedeutungsvolle Pause, in der die Totenstille, die im Raum herrschte, schwer auf den Anwesenden lastete.

»Bevor ich aber fortfahre, möchte ich mich bei Ihnen vorstellen. Mein Name ist Ullrich Upuaut und ich bin stellvertretender Leiter der BAT. Sie werden sich nun sicherlich fragen ‘Was zur Hölle ist eine BAT?’. Nun, ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen: Der ausgeschriebene Name der BAT lautet ‘Berliner Akademie für Transmutationen’ und Sie alle sind hier, weil Sie das sind, was die restliche Weltbevölkerung unter der Bezeichnung ‘Vampir’ zu kennen glaubt.«

Sofort brach ein wahrer Tumult los, als alle anwesenden Mädchen und Jungen aufgeregt durcheinander riefen.

Einige von ihnen – darunter auch Lucas – waren aufgesprungen. Sie ließen ihre Blicke unstet im Raum hin und her wandern, während sie nach einer Fluchtmöglichkeit vor diesem Irren dort unten suchten.

Jemand legte Lucas die Hand auf den Arm und er zuckte zusammen, während er scharf die Luft einsog. Sein Herz hämmerte zum zweiten Mal an diesem Tag wie wild in seiner Brust. Dann erweiterte sich sein Gesichtsfeld ein wenig.

Er blickte nach unten und erkannte das lächelnde Gesicht von Neumann, der ihm bedeutete, sich wieder zu setzen. Seine Lippen formten die Worte »Bleib ruhig«, die Lucas durch das Geschrei ringsum aber nicht hören konnte. Seltsamerweise lag in dieser Geste etwas derart Beruhigendes, dass Lucas sich tatsächlich hinsetzte.

»Warte bitte noch eine Weile ab, bis du dir ein Urteil bildest«, rief Neumann durch den sich allmählich wieder legenden Lärm.

Lucas blickte sich um und begriff nun auch, warum hier zu jedem Jungen oder Mädchen auch ein erwachsener Begleiter vorhanden war. Ohne diese hätte es hier vermutlich bald eine Massenpanik gegeben. Als er dann wieder in Richtung Podium blickte, stellte er fest, dass der Redner mit dem komischen Namen ebenfalls ganz ruhig geblieben war. Anscheinend wartete er nur darauf, dass sich seine Gäste wieder beruhigten, so wie man auf das Vorüberziehen eines kurzen Sommergewitters wartet.

Schließlich begann er erneut: »Mir ist klar, dass Sie sich jetzt bestimmt fragen, zu was für einem Verrückten Sie Ihre Betreuer hier gebracht haben. Die Erklärung, was es mit dem Vampirismus auf sich hat, ist jedoch recht umfangreich. Deshalb möchte ich der pauschalen Aussage von eben nun eine Demonstration folgen lassen, die Ihnen eine grundsätzliche Vorstellung davon vermittelt, was ich damit meine.«

Er drehte sich um und winkte die drei Personen, die sich auf die Stühle gesetzt hatten, heran. Es waren zwei unterschiedlich alte Jungen und ein Mädchen, die zum Redner traten.

»Bevor wir gleich beginnen, möchte ich Sie bitten, diese Demonstration aufmerksam aber ruhig zu verfolgen«, meldete Upuaut sich noch einmal zu Wort. »Es kann Ihnen nichts passieren. Und trauen Sie ruhig Ihren Augen.«

Er bat den ersten Jungen – augenscheinlich den ältesten der drei – nach vorn. Dieser tat zunächst etwas, mit dem Lucas am allerwenigsten gerechnet hatte, denn er zog sich bis auf die Unterhose aus. Als Kommentar kam dazu von Upuaut, dass dieses letzte Kleidungsstück angelassen würde, damit nicht der Eindruck entstünde, dass es sich hier um etwas Anstößiges handle.

Lucas beobachtete den Jungen und wurde das Gefühl nicht los, dass er ihn kannte. Allerdings wurden seine Gedanken durch das, was nun passierte schnell verdrängt. Er hatte nur noch Augen für den Jungen auf dem Podium.

Dieser hatte sich hingehockt und von Upuaut etwas aus einer schillernden Dose bekommen. Er steckte es in den Mund und schloss die Augen. Dann begann er, langsam vor und zurück zu wippen. Er wippte und wippte und schien dabei etwas vor sich hin zu murmeln.

Und dann geschah es: Vor den Augen aller Zuschauer verschwammen zuerst die Umrisse seiner Gestalt, dann löste er sich zu einer undefinierbaren Masse auf, nur um sofort daraus die Gestalt eines schwarzen Hundes anzunehmen.

Der Hund erhob sich von dem Platz, auf dem er gesessen hatte, und trabte seitlich vom Podium hinunter. Dann machte er kehrt. Plötzlich flitzte er mit der Schnelligkeit eines Jagdhundes auf der Spur seiner Beute wieder hinauf, sprang mit einem Riesensatz über alle drei dort stehenden Stühle und kam dahinter zum Stehen. Während dieser ganzen Prozedur hatte er immer noch die Unterhose an, aber niemand lachte darüber. Alle waren von dem, was dort eben vor sich gegangen war, in Bann geschlagen.

Der Hund legte sich auf den Boden. Dann verwandelte er sich wieder zurück in den Jungen, der lässig in die Runde grinste und sich wieder anzog.

Jetzt wurde das Mädchen nach vorn gebeten. Sie mutierte zu einer Katze mit Hemd und Höschen, die behände an einem Pfeiler hinaufkletterte und aus etwa 3 Meter Höhe wieder heruntersprang.

Als sich zum Schluss der zweite Junge in eine Fledermaus verwandelte, um über den Köpfen der Anwesenden eine Runde zu fliegen, waren in der ansonsten herrschenden Stille hie und da erschreckte Laute zu hören. Während der Junge sich danach hinter einem Sichtschutz wieder anzog, trat Upuaut vor und blickte in die Runde.

»Ich denke, dass Ihnen dies viel mehr gesagt hat als ich es mit Worten vermocht hätte. Allerdings will ich nicht versäumen, Ihnen nochmals eines zu versichern: Es handelte sich bei dem eben Gesehenen nicht um einen dieser Spiegeltricks, mit denen findige Leute, die sich selbst Magier nennen, die Sinne ihrer Zuschauer täuschen. Es war auch keine Zauberei, wie sie in einigen beliebten Büchern beschrieben wird. Ich bin mir nicht sicher, ob es so etwas wie Zauberei auf dieser Welt gibt. Allerdings würde es mich nicht überraschen, denn sie ist voller Wunder, von denen wir kaum eine Vorstellung haben. Nein, das, was unsere drei Begabten hier gezeigt haben, ist möglich aufgrund eines hochkomplizierten biochemisch-physikalischen Prozesses, den bisher nicht einmal die klügsten von uns ergründen konnten. Fakt ist aber, dass hierfür ein besonders seltenes Gen zuständig ist, das Sie alle in Ihren Erbanlagen tragen.«

Erneut hob Gemurmel an im Raum, aber Upuaut hob seine Hände und es legte sich rasch wieder.

»Einige von Ihnen werden sich an einen kleinen metallischen Gegenstand erinnern, in den sie ihren Finger gesteckt haben. Die anderen haben vorhin einen Kaugummi zum Testen bekommen, der seltsam geschimmert hat, als sie ihn wieder ausgespuckt haben. Nun, beide Verfahren dienten dem Nachweis des Gens, von dem ich eben berichtet habe. Dieser Nachweis ist bei Ihnen allen positiv ausgefallen.«

Lucas blickte zu Neumann, der ihm zuzwinkerte, und flüsterte: »Was ist denn mit den ganzen anderen, die auch mit uns da draußen waren?«

Neumann konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Na ja, sagen wir mal so: Die haben momentan einen netten Nachmittag im BAT-Club. Für die einen wird er langweilig genug sein, sodass sie keine Lust mehr haben werden, noch einmal herzukommen. Andere werden heute Nacht mit einer starken, aber ansonsten harmlosen Übelkeit zu kämpfen haben, die ihnen einen erneuten Besuch verleiden wird. Und die, die wieder herkommen, haben da draußen einen netten kleinen Jugendclub, in dem sie ihre Zeit verbringen können, bis sie auf bessere Ideen kommen.«