BAT Boy

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Schließlich räusperte sich Tom. »Also Leute, ich störe ja nur ungern, aber wir müssen echt langsam los, wenn wir heute Abend in unserer Nachtunterkunft angekommen sein wollen.«

Ines bedachte ihren Vater mit einem seltsamen Blick.

Lucas fragte sich später immer, ob er darin Erleichterung oder Zorn gesehen hatte – oder vielleicht beides.

Dann sah sie zurück zu Lucas. »Also weißt du, das ist im Moment alles ein bisschen viel auf einmal. Ich glaube, es ist besser, wenn wir es erst mal dabei belassen. Wir sehen uns dann ja irgendwie zu Hause.«

»Also dann macht’s gut und kommt heil nach Hause«, antwortete Lucas ein wenig lahm. Er konnte in diesem Moment einfach nicht sagen, ob er diesen Schluss nun gut finden sollte oder nicht. Und war es denn überhaupt ein Schluss? Für den Moment? Für wie lange?

Sein Vater riss ihn aus den Gedanken. Er war zusammen mit seiner Mutter hinter ihm aufgetaucht und schwenkte ein Paket.

»He, Ihr wollt doch wohl nicht einfach ohne Eure Wegzehrung aufbrechen?«

Tom stutzte. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Ihr habt doch nicht etwa ...?«

»Oh, doch«, kam es von Betty zurück. »Hausgemachte Pasta, von Alfredo persönlich, mit ... äh wie hieß die Soße noch mal?«

»Ist doch egal – Hauptsache sie schmeckt«, ließ sich Diana vernehmen. »Danke ihr Lieben. Zu Hause werden wir uns mal revanchieren.«

»Wenn wir überhaupt jemals zu Hause ankommen«, sagte Tom mit gespielter Verzweiflung, während er in den Wagen stieg.

Die anderen beiden lachten und stiegen ebenfalls ein. Dann setzte der Wagen aus der Parklücke zurück. Er fuhr gemächlich den Schotterweg bis zur Schranke und außer Sichtweite.

Die neue Schule


ucas vertrieb sich den letzten Tag des Urlaubs mit seinen Eltern. Sie hatten viel Spaß, aber insgeheim dachte Lucas immer wieder daran, wie viel Spaß es wohl mit Ines gemacht hätte.

Dann kam auch für sie der Morgen der Abreise. Obwohl es doch alles in allem eine sehr schöne Zeit gewesen war, freuten sie sich auch auf Zuhause.

Die Fahrt zurück kam ihnen unheimlich lang vor, aber letztendlich kamen sie an.

Während des Restes der Ferien versuchte Lucas immer wieder mal zufällig auf Ines zu treffen, was ihm aber nie gelang.

Dann brach die letzte Ferienwoche an. Im Haus der Frankes begann es, hektisch zu werden. Unterlagen mussten ausgefüllt und Material musste besorgt werden, denn schließlich begann das neue Schuljahr ja an einer anderen Schule. Langsam wurde Lucas ein wenig nervös – zum einen aus Vorfreude, zum anderen auch ein bisschen aus Angst, ob auch alles gut gehen würde.

Der erste Schultag selbst verlief dann jedoch ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Insgesamt war alles ziemlich geschäftsmäßig. Man begab sich in den Raum, der laut einem im Foyer der Schule aushängenden Plan zu der Klasse gehörte, der man zugewiesen worden war.

Lucas stellte fest, dass er einige Gesichter kannte. Außer ein paar seiner bisherigen Klassenkameraden waren offensichtlich auch einige Mitschüler aus anderen Klassen seiner Grundschule nun in seiner Klasse.

In dem allgemeinen Gewimmel entdeckte er plötzlich Ines. Dabei stellte er erstaunt fest, dass sie im Urlaub gar nicht darüber gesprochen hatten, auf welche Schule sie gehen würden. Er hob die Hand, um sie zu begrüßen, ließ sie aber sofort wieder sinken.

Anstatt ihn zu bemerken, hatte sich Ines eben zu einem wesentlich älteren Schüler umgedreht, der von hinten an sie herangetreten war und ihr die Augen zugehalten hatte. Gemeinsam gingen die beiden nun Arm in Arm die Treppe zu den Klassenräumen hoch.

Lucas blieb mit einem Gefühl im Magen, das stark an einen Eisklumpen erinnerte, in der Menge stehend zurück.

Da war sie wieder. Diese Stimme in seinem Kopf, die ihm zu sagen schien: Siehst du. Es geht weiter. Gewöhn Dich lieber daran, dass du ein Pechvogel bist.

Er schüttelte heftig den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Dann stieg er langsam ebenfalls die Treppe hinauf. In seinem Klassenraum angekommen setzte Lucas sich auf einen der freien Plätze und wartete auf das, was da noch kommen mochte.

Was kam, war ihr erster Lehrer – vielmehr die erste Lehrerin. Sie rauschte in einem Schwall von Parfumduft durch die Tür und schloss diese leise hinter sich. Sofort war der gesamte Raum von diesem schweren süßen Duft erfüllt, sodass sich einige der Jungen verstohlene Blicke zuwarfen und verhalten kicherten.

Erik, neben den Lucas sich gesetzt hatte, raunte ihm zu: »Die scheint zu Hause Parfum als Leitungswasser zu haben.«

Lucas verbiss sich einen Lachanfall.

Die Lehrerin stellte sich als Frau Gensicke vor. Sie war eher zierlich, hatte hellbraunes gewelltes Haar und trug einen langen Faltenrock zusammen mit einer arg gerüschten Bluse. Ihr Alter war schwer einzuschätzen – irgendwo zwischen 30 und 50.

Die Schüler erfuhren von ihr, dass sie ihre Klassenlehrerin sei. Sie würden bei ihr Deutsch und Französisch haben. Außerdem gab sie ihnen den Stundenplan und einige Informationen über Arbeitsmaterial, das sie sich noch beschaffen müssten. Als die Glocke zum Stundenende klingelte, entließ sie sie in die Pause und schwebte wieder aus dem Klassenraum.

Kaum, dass sie verschwunden war, hörte Lucas Uwe – einen Jungen, den er aus der alten Schule kannte – sagen: »Macht bitte mal einer die Fenster auf? Diese Wolke ist ja kaum zu ertragen.«

Unter allgemeinem Gelächter wurden die Fenster geöffnet, und alle begaben sich auf den Pausenhof.

Als Lucas auf dem Hof ankam, wusste er zunächst nicht so recht, was er machen sollte. Vor ihm tummelte sich die Masse der Schüler im Sonnenschein, der ihm fast schmerzhaft in die Augen stach. Lag es nur daran, dass es drinnen so viel dunkler gewesen war, oder war die Sonne heller als sonst?

Er schlenderte ein wenig herum, bis er ein schattiges Plätzchen erreicht hatte. Lucas wollte sich gerade hinsetzen, als ihn ein schier trommelfellzerfetzender Lärm zusammenschrecken ließ. Direkt nebenan hatten ein paar ältere Schüler damit begonnen, mit mehreren Getränkedosen Fußball zu spielen. Die Umstehenden johlten und gaben lautstark Kommentare dazu ab. Eigentlich waren das die üblichen Geräusche einer Pause auf dem Schulhof, aber für Lucas hätte es genauso gut ein startendes Flugzeug sein können.

Sein Kopf begann zu schmerzen – erst die Sonne und nun dieser Lärm. Das wollte er sich nicht antun und so sprang er wieder auf, um sich erneut nach einem geeigneten Platz umzusehen. Der einzige Platz, an dem er sich weder dem Krach, noch der sengenden Sonne ausgesetzt sah, befand sich am Rand zum Schulgarten. Dort jedoch herrschte jedoch ein Geruch nach den im Garten befindlichen Blumen und Kräutern sowie dem Komposthaufen vor, von dem Lucas sofort speiübel wurde. Auch das waren Gerüche, die er eigentlich mochte, aber heute waren sie ihm einfach zu viel.

Mühsam und inzwischen auch ziemlich entnervt rappelte er sich wieder hoch. Er lief an der Hauswand entlang, in der Hoffnung, dass er vielleicht die Pause im Klassenraum verbringen könnte. Er hatte nun nur noch Augen für die halb offene Eingangstür und die dahinter liegende dunkle Stille, sodass er fast rannte.

Plötzlich trat ihm eine schattenhafte Gestalt in den Weg und er stieß mit ihr zusammen.

Der Aufprall presste Lucas die Luft aus den Lungen und er setzte sich unfreiwillig rückwärts auf den Boden.

Der Schatten über ihm beugte sich nun zu ihm herunter und streckte ihm eine Hand entgegen.

Verdutzt blickte Lucas in das Gesicht eines Mannes, der ihn etwas seltsam anlächelte.

Er war vollständig in Schwarz gekleidet und hatte sogar bei dieser Hitze einen weiten Mantel an. Sein schwarzes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden und an seiner linken Hand einige Ringe, wie Lucas sie noch nie gesehen hatte. Sie alle schienen verschiedene Tiere darzustellen.

»Hoppla«, sagte der Mann. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, murmelte Lucas geistesabwesend und immer noch auf das Erscheinungsbild des Mannes starrend. Dann bemerkte er, was er da tat und sprang hastig auf.

»Entschuldigung, dass ich Sie umgerannt habe, Herr ... ähh.«

»Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Ich hab dich beobachtet. Als ich sah, dass du vermutlich gleich in Panik gerätst, wollte ich dich aufhalten. Ist also eigentlich eher meine Schuld.«

»Äh, wie jetzt?«, hüpfte es Lucas aus dem Mund, bevor er noch die Zeit dazu hatte, sich darüber Gedanken zu machen, dass das ziemlich unhöflich klingen musste.

Was hatte dieser Mann gerade gesagt? Panik? Und warum hatte er ihn beobachtet? Das war doch alles ganz schön eigenartig, obwohl, wenn er es recht bedachte, dann war die Sache mit der Panik wirklich nicht so weit hergeholt. Er hatte tatsächlich so etwas wie Panik verspürt, als er eben über den Schulhof gelaufen war.

Der Mann schien seine Gedanken zu erraten, denn als Lucas ihn wieder ansah, lächelte er wieder sein Mona-Lisa-Lächeln und sagte: »Ja, ich habe dich beobachtet, weil mir gleich aufgefallen ist, dass du da etwas mit dir herumträgst …«

»Nein, nicht im wörtlichen Sinn«, sagte er lachend, als Lucas sich umsah und seinen Rucksack nach ungewöhnlichen Merkmalen absuchte. »Ich meine das eher im übertragenen Sinn. Du hast da etwas, von dem du noch nicht so richtig weißt, wie du damit umgehen sollst. Du erinnerst mich ein bisschen an mich selbst nach meinem 13. Geburtstag.«

 

Lucas zuckte zusammen und starrte den Mann erneut an. Da war es wieder! Konnte man ihm das inzwischen schon ansehen? Und wenn ja, was konnte man ihm denn ansehen? Schwebte am Ende schon so etwas wie ein großes L wie Looser – für alle anderen außer ihm sichtbar – über ihm, an dem man erkennen konnte, was los war?

»Entschuldigung, aber was meinen sie damit?«, war er gerade im Begriff zu fragen, als es zum Pausenende klingelte.

»Lass uns da später mal drüber reden. Wie wäre es heute nach der Schule?«

»Hmmja gut, aber wo finde ich Sie?«

»Ich finde dich schon. Bleib einfach auf dem Hof.«

Dann wurde Lucas von der Menge der ins Schulhaus drängenden Schüler erfasst und befand sich kurz darauf wieder im Klassenraum.

»Sag mal stimmt das, dass du dich mit Mister Spooks angelegt hast?«, wollte sein Nachbar zur Linken gleich von ihm wissen.

»Mister wer?«, fragte Lucas.

»Na, Spooks«, kam es von dem Jungen, der Andreas hieß und einen größeren Bruder an der Schule hatte. »Der, der so gruselig aussieht.«

»Ach, du meinst den in Schwarz?«

»Ja ja, diesen Grufti-Typ.«

»Na wie ein Grufti kam er mir eigentlich nicht vor. Er war eher nett. Ich hab ihn umgerannt und dann hat er ...«

Lucas brach ab, denn ihm war gerade eingefallen, dass er nicht unbedingt große Lust dazu hatte, Andreas vom Rest des Gesprächs zu erzählen.

Glücklicherweise kam in diesem Moment der nächste Lehrer durch die Tür, sodass es Lucas erspart blieb, auf weitere Fragen seines Banknachbarn antworten zu müssen. Der Lehrer war mittelgroß, trug braune Cordhosen, ein Oberhemd, das oben aufgeknöpft gelassen war und ein dunkles Tuch um den Hals. Sein Kopf wurde von einer etwas wirren Mähne dunkelbraunen Haares umrahmt. Auf der Nase trug er eine Nickelbrille. Insgesamt konnte man ihn sich eher mit einem großen Café-au-lait in einem Pariser Bistro sitzend vorstellen, als in einem Klassenzimmer. Und er hatte eine weitere unverkennbare Eigenschaft.

»G-g-good mo-morning boys and g-girls«, sagte er, während er seine Unterlagen auf den Lehrertisch fallen ließ. »My n-name is Mister Mannf-fred.«

Es handelte sich unzweifelhaft um ihren Englischlehrer. Mr. Mannfred brachte es fertig, dass die Klasse sich nach der etwas drögen ersten Stunde schnell komplett auf ihn konzentrierte. Allerdings weniger wegen dem, was er zu sagen hatte, sondern wie er es sagte. Sein Stottern zog sich durch den gesamten Unterricht. Man bekam das Gefühl, dass sich alle ein Kichern verkneifen mussten. Auch sonst war der Unterricht nicht unbedingt uninteressant, da Mr. Mannfred immer die eine oder andere Anekdote parat hatte, um seine Ausführungen zu garnieren.

Als er nach Stundenende schließlich den Klassenraum verließ, hob sofort ein intensives Gebrabbel an.

»Das ist ja ne Type ...«

»Habt ihr gehört, was er mir geantwortet hat, als ich ihn nach der letzten Aufgabe gefragt habe?«

»Das ist doch gar nichts. Habt ihr gesehen, was er zwischendurch mit seinen ...«

Plötzlich hallte ein lautes »Spooks!« durch den Raum, sodass alle verstummten und Andreas ansahen, der soeben durch die offene Tür gestürmt war. Die allgemeine Aufmerksamkeit ließ ihn stehenbleiben. Er deutete aus der Tür und sagte: »Hey Leute, setzt euch lieber hin. Ich glaube, Spooks kommt zu uns.«

Sie taten es und sahen dann alle erwartungsvoll zur offenen Tür.

Nach einer Weile, die ihnen allen ziemlich lang vorkam, glitt tatsächlich die dunkle Gestalt, die Lucas bereits vom Schulhof kannte, durch die Tür. Die Art wie Spooks ging, machte selbst den kurzen Weg zwischen Tür und Lehrertisch zu etwas Aufsehenerregendem. Er bewegte sich geschmeidig, ja geradezu gefährlich wie ein Raubtier.

Lucas wurde klar, wieso dieser Mr. Spooks einen Ruf wie Donnerhall hatte.

Spooks ließ sich lässig auf der Kante des Lehrertischs nieder und sah die Klasse an, die gespannt zurückschaute.

»Morgen Herrschaften«, sagte er in einer leisen, aber sonoren Stimme, die absolut zu seiner sonstigen Erscheinung passte. »Ich bin euer Geschichtslehrer. Mein Name ist Balthasar Neumann. Ich bevorzuge auch so genannt zu werden, selbst wenn man in diesem Haus durchaus auch andere Namen zu kennen glaubt.«

Neben Lucas lief Andreas knallrot an.

»Wie ihr sehen werdet, kann man mit mir ganz einfach klarkommen. Alles, was ich verlange, ist Disziplin und den Willen zu lernen.«

In der ersten Reihe meldete sich ein Mädchen.

»Ja bitte, wie heißt du?«

»Simone, Herr Neumann.«

»Und was möchtest du wissen?«

»Ähm, Herr Neumann, die Tür ist noch offen.«

»Stimmt und das wird auch so bleiben.«

Simone und der Rest der Klasse sahen ihn etwas verwirrt an.

»Du möchtest wissen, warum? Ganz einfach. Wenn bis zum Ende der Stunde niemand hereingekommen ist, der sich wegen der Lautstärke wundert, warum die Tür offen ist, dann habt ihr eine erste Vorstellung davon, was ich mit Disziplin meine.«

Die Stunde verlief vermutlich in etwa so, wie Herr Neumann sie sich vorgestellt hatte. Zum Stundenende ließ er sich lässig von der Tischkante gleiten und sagte im Hinausgehen: »Okay. Darauf lässt sich aufbauen. Das nächste Mal bitte genau so. Übrigens, ihr habt heute Glück, denn Eure letzte Stunde fällt aus. Herr Brecher, euer Sportlehrer, ist heute bei einem Wettkampf.«

Alle Schüler atmeten auf und begannen, ihre Sachen einzupacken. Nur Andreas blieb, etwas belämmert aussehend, auf dem Platz neben Lucas sitzen.

Lucas blickte fragend auf ihn hinab. Als Andi den Blick bemerkte, ließ er einen leisen Seufzer hören. »Ausgerechnet ‘Knochen-Brecher’! Hätten wir nicht bei jemand anderem Sport haben können?«

Lucas setzte sich interessiert wieder hin, denn er wusste ja, dass Andi durch seinen Bruder, der an der Schule in der 10. Klasse war, gute Insiderinformationen hatte.

»Knochen-Brecher?«, fragte er Andi.

»Yo, Karl Brecher, auch Knochen-Kalle oder eben Knochen-Brecher genannt. Der echt heftigste Sportlehrer, den man hier bekommen kann.«

Andi wollte gerade noch weiter erzählen, da hörten sie Herrn Neumanns Stimme durch den sich leerenden Raum. »Oh, Lucas. Gut, dass du noch da bist. Bleib doch bitte gleich noch hier, dann können wir kurz reden.«

Diese Worte hatten eine seltsame Wirkung auf Andi. Er fing hastig an, seine Sachen in die Tasche zu stopfen und floh dann geradezu aus dem Klassenraum. Nun waren sie beide allein.

»Na das hat ja dann noch besser geklappt, als wir dachten. Jetzt müssen wir uns nicht erst gegenseitig suchen«, bemerkte Neumann lächelnd.

Lucas wollte gerade zu einer Frage ansetzen, da fiel ihm wieder ein, dass sie sich nach der Schule verabredet hatten. Allerdings fühlte er sich bei dieser Erkenntnis trotzdem nicht so richtig wohl. Auf dem Schulhof war es ihm unproblematisch vorgekommen – er war sogar darauf gespannt gewesen. Aber jetzt so ganz allein hier im Klassenraum zu stehen war ihm eher unheimlich.

Herr Neumann schien seine Gedanken zu erraten. »Lass uns doch vielleicht einfach ins Café um die Ecke gehen. Da redet es sich besser als hier in diesem leeren Raum.«

Lucas nickte und folgte ihm.

Sie wandten sich zunächst zum Lehrerzimmer, wo Neumann seine Tasche holte. Danach gingen sie in das kleine Café, das seinen Unterhalt fast allein durch die nahe Schule bestritt. Dort fanden sie nur noch einen Platz im Innenraum, denn draußen war alles mit einer schnatternden Schar von Schülern aller Klassen besetzt, die das schöne Wetter genossen.

Herr Neumann bestellte für sie beide einen Eistee. Dann saßen sie einander schweigend gegenüber. Als Lucas sich langsam unwohl zu fühlen begann, brach Neumann das Schweigen. »Du fragst dich natürlich, warum ich das hier alles veranstalte.«

»Hmmm«, brummte Lucas vorsichtig.

»Okay, aber bevor ich loslege, muss ich dich noch um etwas bitten, das dir vielleicht ezwas eigenartig vorkommen wird. Vertraust du mir?«

»Ähm ja ... warum nicht«, sagte Lucas zögernd, während eine leise Stimme in seinem Hinterkopf ihn fragte, wie lange er Neumann schon kenne, dass er das sagen könne.

»Gut, dann stecke doch bitte deinen Finger mal kurz in dieses Teil hier.«

Neumann hielt einen kleinen Apparat aus matt glänzendem Metall hoch, den er aus seiner Tasche gezogen hatte.

»Ich bin mir zwar eigentlich sicher, aber ich muss mich vergewissern.«

Lucas runzelte die Stirn bei dem Versuch, den Worten des Lehrers einen Sinn zu entnehmen.

»Ja, ich weiß. Das ist schwer zu verstehen. Ich erkläre dir nachher alles.«

Lucas machte Anstalten, seinen Finger in eine kleine Öffnung an dem Gerät zu stecken. Er fragte sich währenddessen, warum er das überhaupt tat, erst recht für jemanden, den er gerade erst kennen gelernt hatte und dessen Spitzname nicht von ungefähr Mr. Spooks war. Aber aus einem unerfindlichen Grund vertraute er ihm. Und außerdem war er inzwischen brennend neugierig.

»Nicht wundern, es pikst einmal kurz«, sagte Neumann freundlich.

Lucas hielt kurz inne, beschloss dann aber doch, jetzt keinen Rückzieher zu machen. Er steckte den Finger hinein. Es gab einen kurzen Stich und er zog den Finger schneller wieder zurück als er das eigentlich beabsichtigt hatte. Dann sah er seinen Lehrer an, der inzwischen mit einem gespannten Gesichtsausdruck auf eine Anzeige an der anderen Seite des Geräts sah.

Der Apparat gab ein eigenartiges Fiepen von sich. Das Display leuchtete grün auf.

Mit einem höchst zufriedenen Ausdruck schaute Neumann auf und begegnete Lucas’ Blick. »Dacht ich’s mir doch«, triumphierte er und saß einen Augenblick lang sinnierend da. Dann schien er sich bewusst, zu werden dass Lucas wartete.

»Ja gut. Du hast deinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt bin ich dran. Antworten ... Okay, sagen wir mal, dass mir der Tester hier gerade bestätigt hat, dass du in der Tat nicht so bist wie die meisten andern in deinem Alter.«

Ja klar, dachte Lucas. Die anderen haben Glück und ich nicht. Die haben eine Freundin oder so und ich nicht. Was ist das jetzt gewesen? Der Nieten-Test?

Neumann unterbrach diese Gedanken.

»Es ist wirklich nicht ganz einfach zu erklären. Fakt ist aber, dass du etwas Besonderes bist.«

»Was soll denn da so besonders sein?«, entfuhr es Lucas, der auf irgendetwas gehofft hatte, das ihm die jüngste Vergangenheit erklären würde. Er wollte etwas, das es ihm einfacher machte, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Lucas fing an, sauer zu werden auf diesen Mann, der ihn hier in einem Café dazu gebracht hatte irgendeinen hirnverbrannten Test mitzumachen. Vielleicht standen hinter der nächsten Ecke seine neuen Schulkameraden und lachten sich schlapp über diesen Looser, der alles mit sich machen ließ.

Aber anstatt ihn wegen seines Benehmens zu tadeln oder tatsächlich auszulachen, wurde Neumann ganz ernst. »Hör mal. Ich weiß, das ist eine ganz bescheuerte Situation. Du hoffst darauf, dass ich dir ein paar Eigenartigkeiten in deiner jüngsten Vergangenheit mit einer Erklärung versehen kann. Deswegen bist du jetzt sauer, weil ich nur drum herum rede. Aber ich schwöre dir, es gibt eine Erklärung und sie ist so fantastisch wie plausibel – ich kann sie dir aber jetzt nicht erzählen. Nicht hier und nicht jetzt. Kannst du am Freitag in den BAT-Club kommen? Der ist in Friedrichshain. Ich würde dich von irgendwo abholen und auch wieder nach Hause bringen.«

Lucas starrte seinen Lehrer mit leicht gerunzelter Stirn an. Diese Situation wurde allmählich immer absurder. Erst dieser Test und jetzt beschwor er ihn geradezu, in irgendeinen Club zu kommen.

»Ähm, seien Sie mir nicht böse, aber ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Also ich ... ich war noch nie in so einem Club. Was ist denn das? Was passiert da?«

»Du brauchst keine Angst zu haben, dass da etwas passiert, was du nicht willst.« Neumann lächelte ihn an. »Im Grunde genommen ist das nur ein Treffen von Leuten, die dir Antworten geben können. Vielleicht sind da auch noch ein paar andere so wie du. Glaub mir bitte einfach, dass das etwas ist, was für dich von grundlegender Bedeutung sein wird.«

Lucas sah ihn schweigend an. Der Mann schien es ernst zu meinen. Nach alldem, was er heute schon angedeutet hatte, hatte dieser das Etwas – was immer es auch war – wohl auch. Lucas beschloss, es wirklich wissen zu wollen und nickte.

»Gut!« Neumann strahlte ihn an, was bei seinem ansonsten eher coolen Äußeren ziemlich unpassend wirkte. »Also pass auf: Ich hole dich am Freitag hier von der Schule um ... sagen wir mal 14 Uhr ab. Bis 19 Uhr müssten wir wieder zurück sein. Ist das okay?«

 

»Da muss ich erst meine Eltern fragen.«

»Klar. Sag mir einfach in der Woche Bescheid.«

Sie standen auf und verließen das Café. Als sie ins Freie traten, stach der helle Sonnenschein Lucas sofort wieder schmerzhaft in die Augen. Er wagte einen kurzen Seitenblick auf Neumann, dem das Licht überhaupt nichts auszumachen schien. Sofort begannen wieder Zweifel an dem zu nagen, was er eben noch als Hoffnung in sich gefühlt hatte: Er ist so wie ich – irgendwie ist er so wie ich.

Du hast dich geirrt, flüsterten sie. Wie kann er denn so wie du sein, wenn ihm alles das gar nichts ausmacht. Er hätte doch vorhin auf dem Hof genauso panisch werden müssen.

Mit einem Mal wieder ziemlich niedergeschlagen machte Lucas sich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen beantwortete er artig alle Fragen seiner Mutter, ohne jedoch richtig bei der Sache zu sein. Seine Lehrer und ganz besonders Herrn Neumann erwähnte Lucas nur kurz. In seinem Kopf kreiste alles weiter um die Frage: War da etwas Besonderes an ihm und was sollte das sein? Wie sollte er diese Ungewissheit bloß bis Freitag aushalten? Da fiel es ihm wieder ein. »Ach, Mam. Ich bin Freitag von einem aus der Schule eingeladen worden. Von drei bis sieben oder so. Meinst du, das geht in Ordnung?«

Betty schaute ihn etwas überrascht an.

»Na, da hast du ja ganz schön schnell neue Freunde gefunden.«

»Hmm«, antwortete Lucas nur, denn er wollte eigentlich nicht näher auf das Thema eingehen.

Seine Mutter tat ihm auch den Gefallen und fragte nicht weiter nach. »Ich denke, das ist kein Problem. Wohin soll’s denn gehen?«

»Ach, der hat da so einen Club, wo wir uns ein bisschen austauschen können«, sagte Lucas und wusste dabei eigentlich gar nicht, was er damit meinte.

»Oh, schön«, nahm Betty den Ball auf. »Vielleicht hat da ja einer noch ein größeres Teleskop oder so.«

Lucas stutzte kurz. Dann merkte er, dass seine Mutter das Wort Club automatisch mit einer der wenigen Freizeitaktivitäten in Verbindung gebracht hatte, die sie von ihm kannte. Er nickte eifrig.

»Kann schon sein. Muss mal sehen, ob das was ist.«

»Ja, mach mal. Und im Zweifelsfall rufst du halt an, wenn’s doch länger dauert. Dann kann Papa dich ja auch abholen.«

»Ach, ich denk, das wird schon so gehen. Aber schau mer mal.«

Lucas nahm sich ein paar Kekse und ging in sein Zimmer. Er war froh, dass alles so gut gelaufen war. Er ließ die Jalousien an seinen Fenstern halb herunter, um die Helligkeit auf ein für ihn erträgliches Maß zu bringen. Danach legte er sich auf sein Bett. Es dauerte nicht lange, da war er eingedöst. In seinem Kopf kreiste alles um die Frage: Wann ist denn endlich Freitag?