BAT Boy 2

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Z serii: BAT Boy #2
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»Ach, na ja, so kalt war’s nicht. Ich hab auch gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Aber jetzt bin ich doch ganz schön kaputt. Macht’s euch was aus, wenn ich nur schnell was esse und mich dann hinhaue?«

Paul und Betty wechselten einen Blick. Dann sagte Betty sanft: »Klar Luky. Und morgen bleibst du noch zu Hause.«

»Huch, wieso …«, begann Lucas, aber sein Vater sah ihm tief in die Augen.

»Glaub mir, du brauchst den freien Tag. Du hast mit mehr klarzukommen, als wir alle ermessen können.«

Wie sehr du doch recht hast.

Das Essen war erwartungsgemäß schnell vorüber. Trotzdem hatte er Mühe gehabt, seine Neugier und Ungeduld auf das, was er heute noch erfahren würde, zu bezähmen. Mit einer Schale Nachtisch in der Hand stieg Lucas danach leise, aber doch so schnell wir möglich, die Treppe hinauf und begab sich in sein Zimmer.

Ray, bist du noch da?

Na klar. Wo soll ich denn sonst sein?, kam die Antwort mit einem Grinsen in der Stimme.

Ach, weißt du, ich habe mich zwischendurch schon gefragt, ob ich das alles nur geträumt habe.

Nö, es ist alles wahr. Du warst bei mir zu Hause und hast mich aus diesem Gefängnis in Form einer Fledermaus befreit.

Warum war das eigentlich so? Und warum bist du nicht …

Tot?

Ja. Ich kann mir das einfach nicht erklären. Wir haben doch den Haufen Asche da liegen sehen, als wir wieder hoch sind.

Richtig. Da lag Asche. Aber es hätte mehr sein müssen.

»Hä?«, machte Lucas laut und erschrak erneut über das plötzliche Geräusch. Das rief ihm ins Bewusstsein, dass ansonsten völlige Stille herrschte, was in seinem Zimmer normalerweise nicht der Fall war. Also schaltete er das Radio ein, auch wenn ihn nicht interessierte, was dort lief.

Okay, jetzt nochmal. Was war das mit mehr Asche?

Der Haufen, den ihr gesehen habt, waren nur meine Klamotten. Kurz bevor mich dein Blitz getroffen – oder eher gerade so verfehlt – hat, war ich wieder so weit, dass ich einigermaßen klar denken und mich bewegen konnte. Meine Idee war, schnell zur Fledermaus zu werden und oben raus zu fliegen, um hinter Plague herhetzen zu können. Ich war mitten in der Umwandlung, aber ein kleines Teil des Spezialsuits an meinem Bein war noch nicht wieder flexibel und verhakte sich irgendwie, sodass ich weder vor, noch zurück konnte. Dann kam der Blitz, und nur der Berg von Kleidung, unter dem ich begraben war, bewahrte mich davor, ebenfalls ausgelöscht zu werden. Aber ein Teil meines Fußes – so klein er auch war – hat noch etwas von dem Stromstoß abbekommen und eine heftige Verbrennung davongetragen. Das waren die Schmerzen, die du vorhin gespürt hast.

Ach so. Aber warum sind die eigentlich jetzt weg?

Frag mich was Leichteres. Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade nur als Teil von dir existiere.

Okay, das heißt, dass die wiederkommen, wenn ich dich hier rauslasse?

Auch das kann ich dir nicht sagen, antwortete Neumann nachdenklich. Ich hoffe, dass es nicht so ist, aber wissen kann ich’s nicht.

Aber wir können doch nicht ewig so bleiben.

Nee, keine Angst. Ich habe nicht vor, das so zu lassen. Aber das ist nichts, was wir jetzt noch klären können. Etwas anderes können wir allerdings sehr wohl jetzt klären, und du hast jedes Recht darauf, es zu erfahren.

Lucas holte tief Luft und hielt einen Moment lang den Atem an. Jetzt ging es also los. Spontan fragte er sich, ob er denn wirklich wissen wollte, was Neumann ihm zu erzählen hatte. Jedoch dauerte diese Unsicherheit nur wenige Sekunden. Natürlich wollte er wissen, wie sein Mentor – der Mann, von dem er geglaubt hatte, ihn zu kennen – an diesen Irren namens Plague geraten war. Und er wollte eine Erklärung dafür haben, warum dieser zumindest billigend in Kauf genommen hatte, dass Berlin mitten in der Millenniumsfeier in Angst und Chaos versinken würde. Lucas setzte sich auf sein Bett und wartete gespannt auf Neumanns Erklärung.

Na gut, begann dieser. Zuerst einmal musst du mir bitte verraten, wie du überhaupt auf die ganze Sache gekommen bist.

Na, das war damals, als Mandana mich die erste aktive Transmutation hat durchführen lassen. Sie wollte nach nem Ring in Eulenform suchen. Ich wusste nicht, wo sie hingegangen war und habe sie gesucht. Dabei bin ich zufällig zu der kleinen Kammer gekommen, in der du gesessen hast, um mit diesem Plague zu telefonieren.

Was, da hast du’s schon gewusst? Aber wieso ...

Moment, dachte Lucas. Ich hab ja nicht alles mitbekommen. Und deine Stimme habe ich nicht erkannt – sie kam mir nur irgendwie bekannt vor.

Aha. Und wie bist du darauf gekommen, ausgerechnet zu Silvester auf der Siegessäule aufzutauchen? Ich habe doch meine Notizen mitgenommen.

Als du weg warst, bin ich noch einmal zu der Kammer und habe da ein bisschen rumgeschnüffelt. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich auf der Schreibtischunterlage was durchgedrückt hatte. Das habe ich mit einem Bleistift, der da rumlag, einigermaßen sichtbar gemacht. Aber viel mehr, als die Skizze des Großen Sterns konnte ich nicht erkennen. Das war genauso mysteriös, wie dieses Wort.

Wort?

Ja. ‘Weitukäi’. Du glaubst ja nicht, wie lange ich gebraucht habe, um herauszufinden, dass es eigentlich ‘Y2K’ heißt. Später habe ich zufällig einen Nachrichtenbeitrag über die Aufbauarbeiten zur Millenniumsfeier gesehen und dabei die Struktur des Großen Sterns auf deiner Skizze erkannt. Da war mir mehr oder weniger klar, wann und wo da etwas abgehen würde. Doch ich glaube, dass ich letztendlich nichts unternommen hätte, wenn Ines nicht gewesen wäre.

Stimmt. Wo kam die eigentlich her?

Ich weiß auch nicht genau wie, aber sie ist auch in der BAT und hat dich und Plague ebenfalls belauscht, ohne euch erkennen zu können. Da habt ihr euch wohl genauer über das Wann und Wo unterhalten. Sie muss sich dann zu Silvester in der BAT auf die Lauer gelegt haben, ist dabei in den Lieferwagen geklettert und darin eingeschlossen worden.

Ach, deswegen. Du hättest mal mein Gesicht sehen sollen, als Plague sie vor sich her in den Vorraum der Siegessäule geschubst hat. Neumann konnte ein Glucksen nicht verhindern.

Okay, jetzt aber mal Butter bei die Fische. Was war da los?!, platzte Lucas heraus, der die innere Anspannung nicht mehr ertragen konnte.

Ist gut. Aber eins muss ich vorher noch sagen. Ich bewundere deinen Spürsinn und das, was du daraus gemacht hast. Nicht viele Jungen in deinem Alter wären mitten in der Nacht fast allein losgezogen, um sich einem potentiell gefährlichen Gegner entgegenzustellen.

Ach, na ja, dachte Lucas verlegen. Das war doch …

Nein, glaub mir. Das war alles andere, als normal. Ich kann das beurteilen, denn ich bin … verdeckter Ermittler bei der CAT.

What?!, dachte Lucas völlig perplex.

Tja, wieder so‘ne Abkürzung. CAT steht für ‘Control Authority for Transmutators’, also in etwa Kontrolleinrichtung für Transmutatoren. Das ist ne internationale Behörde, die seit ca. zwanzig Jahren dafür sorgt, dass möglichst alle, die die Begabung haben, nicht einfach damit machen können, was sie wollen.

Also ne Art Polizei für Trans …

... mutatoren, jep.

Warum denn nicht Transmutanten?

Wärst du gerne ein Mutant?

Nee, eigentlich nicht, dachte Lucas und musste schmunzeln. Und du bist da‘n verdeckter …

Ermittler. Genau.

Ist das so‘ne Art Geheimagent?

Na ja, ganz ruhig. Brauchst nicht gleich an James Bond zu denken, aber … ja irgendwie schon. Ich wurde vom Hauptquartier in Boston beauftragt, mich bei uns hier in Berlin umzusehen, ob ich Kontakt zu einer Gruppe bekommen kann, die irgendwas Schräges zum Millennium planen sollte.

Blood Pride, entfuhr es Lucas, dem plötzlich das Bild eines Sarges mit blutroten Buchstaben vor dem inneren Auge schwebte.

What the … wo hast du das denn her?!

War nur ne Idee wegen des Telefons.

Jetzt war es an Neumann, verwirrt zu sein.

Ähm, Moment mal. Was für‘n Telefon?

Ich hab deinen Rucksack oben auf der Säule gefunden. Den hattest du da wohl liegen lassen. Mit deinen Sachen drin. Und da hatte Plague anscheinend auch sein Telefon reingepackt. Ich habe das gar nicht richtig mitbekommen, aber als wir mit der tickenden Bombe abgezogen sind, da habe ich ihn auch mitgenommen. Dann, als eigentlich alles vorbei war, gab es plötzlich Probleme mit Ines. Wir sind alle zusammen ins Krankenhaus gerast. Als ich da so auf ner Bank sitze, höre ich mit einem Mal Musik. Erst nach ner Weile checke ich, dass die aus deinem Rucksack kommt. Ich mache ihn auf und finde so‘n Handy, aber eins, das es eigentlich gar nicht geben kann – so mit richtiger Musik und Farbe und zum Aufklappen. Das Ding hört nicht auf, zu klingeln. Also mache ich es auf. Auf dem Display innen ist ein Bild von nem Sarg mit der Aufschrift ‘Blood Pride‘. Dann geh ich dran, und ein Typ fragt Plague, warum irgendwas nicht geklappt hat.

 

Mit einem Mal war Stille in Lucas‘ Kopf. Er konnte Neumann zwar nicht sehen, aber er wusste, dass dieser noch da war. Und er wusste, dass sich, wenn er ihm in diesem Moment in Fleisch und Blut gegenüberstehen würde, ein breites Lächeln auf dessen Gesicht zeigen würde.

Geil!, war das Erste, was Neumann dann wieder dachte. Du weißt ja gar nicht, wie groß der Dienst ist, den du uns allen in dieser Nacht erwiesen hast. Nicht nur, dass du dieses Tier in die ewigen Jagdgründe geschickt hast. Du hast uns auch noch einen Zugang zu seiner Horde von Freaks besorgt. Zeig mal her. Wo ist denn dieses Handy?

Hier in deinem Rucksack. Lucas griff danach und hob ihn hoch.

Ah, gut. Das ist übrigens der einzige Fehler, den du gemacht hast.

Äh, was?

Das ist Plagues Rucksack, nicht meiner. Anstatt dass er das Handy in meinen Rucksack gepackt hat, habe ich meine Sachen bei ihm verstaut. Ich wollte die beiden Rucksäcke dann irgendwie vertauschen, um an sein Zeug zu kommen. Das habe ich dann zwar nicht mehr geschafft, aber zum Glück hast du den richtigen gegriffen.

Zur Antwort erhielt Neumann nur Schweigen.

Ähm, Lucas?, fragte er nach einer Weile, bekam aber immer noch keine Antwort.

Langsam, aber sicher war der Ältere ernsthaft beunruhigt, fügte sich jedoch notgedrungen in sein momentanes Schicksal. Ohne Körper mit Augen und Händen, die er dazu hätte benutzen können, um Lucas‘ Zustand zu erkunden, blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass dieser sein Schweigen brach.

Der erste Laut, der schließlich über Lucas‘ Lippen kam, war ein Schluchzen.

Junge, alles okay? Was ist mit dir?

Nach einem weiteren Moment erklangen Lucas‘ Gedanken: Alles in Ordnung Ray. Das ist es ja gerade. Es ist wirklich alles in Ordnung. Plague ist weg, Ines ist wieder wach und auch die Bombe hat keinen großen Schaden angerichtet. Mir ist gerade klar geworden, dass die Trauer, die mich seit den Ereignissen auf der Siegessäule von innen zerfressen hat, jeglicher Grundlage entbehrt. Sie hing nur mit der Vermutung zusammen, dass du tot wärst.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, der in ein übermütiges Gelächter überging. Neumann konnte nicht anders, als in Gedanken mitzulachen.

Wow, Wahnsinn, dachte Lucas, als sein Lachanfall geendet hatte. Ich fühl mich plötzlich, als könnte ich Bäume ausreißen. Jetzt können wir einfach so weitermachen, als ob zu Silvester nichts passiert wäre. Ich muss gleich nach unten und meinen Eltern sagen, dass ich morgen doch in die Schule kann.

Er sprang auf und lief in Richtung Tür.

Stop!, erklang da Neumanns Stimme in seinem Kopf.

Konsterniert blieb Lucas mit einem noch halb erhobenen Fuß stehen.

Was ist denn?

Na überleg mal. Was willst du denen denn erzählen? Dass du dich gerade in deinem Kopf mit dem Neumann unterhalten hast, von dem alle glauben, dass er tot sei? Auf die Art und Weise bekommst du bestimmt noch mehr als einen Tag Pause, und zwar in einer Einrichtung mit gepolsterten Wänden. Außerdem würde ich es ehrlich gesagt bevorzugen, offiziell als tot zu gelten. Das kann mir bei der Infiltrierung von ‘Blood Pride‘ einen Vorteil verschaffen.

Okay, aber wie wollen wir das machen?

Ganz einfach, indem wir nichts machen. Wenn ich nicht in der Schule erscheine, dann werden früher oder später Nachforschungen angestellt. Die werden ergeben, dass ich spurlos verschwunden bin.

Aber verschwunden heißt doch nicht tot, wandte Lucas ein.

Das ist mir, was Schule und BAT angeht, ziemlich egal.

In der BAT auch?, platzte Lucas enttäuscht heraus, da ihm klar wurde, dass so alles anders werden würde. Wer würde dann aber die Kurse geben? Und an wen sollte er sich wenden, wenn er Probleme hätte?

Hey, natürlich in der BAT. Gerade dort. Ich bin immer noch nicht durchgestiegen, wie die Leute da so ticken. Und jetzt überleg mal. Da du ja weiterhin dort bist, kannst du Augen und Ohren offen halten und mir berichten, wenn da was Seltsames vor sich geht.

Du meinst wohl, ich soll eine Art …

Agent für mich sein.

Cool … aber was ist, wenn ich Fragen habe? Und die Kurse – besonders Sport. Die brauchen dich doch. Ich brauche dich doch.

Ist doch kein Problem. Ich bin da für dich. Du kannst jederzeit bei mir auflaufen. Wenn du ne Frage hast, die sich nicht durch die Bibliothek klären lässt, dann stehe ich dir zur Seite – obwohl ich ja auch nicht allwissend bin. Und was Sport angeht; du hast ja gesehen, dass ich ne ganze Menge Platz habe. Da kannst du dich austoben, und ich kann dir noch das eine oder andere beibringen.

Aber wenn die dich doch suchen kommen, dann kannst du da nicht wieder hin.

Oh, keine Sorge. Die Adresse kennt keiner. Offiziell wohne ich in nem Ein-Zimmer-Wohnklo in Köpenick.

Lucas ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen und nickte dann. Als ihm bewusst wurde, dass Neumann es ja nicht sehen konnte, ergänzte er: Alles klar. Und was machen wir jetzt?

Ich schlage vor, wir … ähm du gehst jetzt schlafen.

Zuerst wollte Lucas protestieren, aber da bemerkte er, wie müde er war und so stimmte er zu. Er stand auf und ging ins Bad. Schon während des Zähneputzens fielen ihm die Augen zu. Den Weg zurück in sein Zimmer bewältigte er nur noch im Halbschlaf, der ihn bereits in dem Moment vollends übermannte, als sein Kopf das Kissen berührte.

Schlachtplan


as erste, was Lucas wieder wahrnahm, war ein seltsames Geräusch. Er öffnete ganz leicht ein Auge und linste zu seinem Radiowecker hinüber. Dabei stellte er fest, dass es bereits nach zehn Uhr war, und dass das Radio gar nicht lief. Aber warum hörte er dann Gesang? Als die Erkenntnis ihn traf, war er schlagartig hellwach.

Ray, bist du das?, horchte er vorsichtig in sich hinein – immer noch halb befürchtend, dass er den Verlauf des gestrigen Tages nur geträumt hatte.

Ah, du bist wach, kam es prompt zurück. Prima. Mir ist langsam die Beschäftigung ausgegangen.

Oh, bist du etwa schon früh aufgewacht?

Na ja, wie man’s nimmt. Ich habe gar nicht geschlafen.

Was? Oh, sorry, das wollte ich nicht.

Du konntest ja nicht wissen, dass das nicht einfach so klappt. Aber es war auch gar nicht schlimm. Ich war nicht müde und bin’s jetzt auch nicht. Außerdem hatte ich so Zeit, um mir Gedanken über das zu machen, was ab jetzt passieren kann und sollte.

Erleichtert stieß Lucas die Luft aus, die er vor Schreck angehalten hatte. Dann fragte er: Und was genau soll jetzt passieren?

He, nun mal langsam, kam es von Neumann zurück. Du bist doch gerade erst wach geworden.

Ja stimmt, aber ich habe sowas von tief geschlafen und fühle mich so gut wie lange nicht mehr. Die Tatsache, dass du noch da bist, hat mich wahrscheinlich davor bewahrt, vor Trübsinn einzugehen.

Aha. Na, wenn du das so siehst, dann gäbe es auf jeden Fall ein paar Dinge, die zu erledigen wären. Aber vorher hätte ich gern noch ein bisschen Input von dir. Du hast mir zwar schon ne ganze Menge von dem erzählt, was zu Silvester abgegangen ist, aber eins fehlt mir noch. Du hattest da kurz was angeschnitten, von dem wir wieder abgekommen sind. Ich wollte dich zum Schluss nicht mit der Frage belasten, weil du so fertig warst.

Ähm, und was war das?

Du scheinst ja inzwischen herausgefunden zu haben, von wem du die Begabung hast. Das würde mich brennend interessieren, denn so viel ich auch recherchiert habe, ich habe nirgendwo einen Eintrag über dich oder deine Eltern finden können. Ist es nun deine Mutter oder dein Vater?

Lucas stockte überrascht, da er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er jemandem von seiner Herkunft erzählen wollte. Aber eigentlich war es doch Schwachsinn, damit hinter dem Berg zu halten. Und wenn es jemanden gäbe, dem er es erzählen sollte und auch wollte, dann war es Neumann.

Also dachte er – bevor er es sich anders überlegen konnte: Ehrlich gesagt sind es beide.

Prima, ich hatte mir doch gedacht, dass … Waas?!

In diesem Augenblick wurde es Lucas wieder klar, warum er es eigentlich niemandem anders, als den Personen, die es ohnehin schon wussten, hatte erzählen wollen. Aber jetzt war es heraus – unmöglich, es ungeschehen zu machen.

Nach einer Pause, die ihm endlos vorkam, meldete Neumann sich wieder zu Wort: Du verarschst mich doch jetzt nicht etwa. So als kleine Retourkutsche für den Schreck, den du meinetwegen erlitten hast?

Nee, keine Chance, antwortete Lucas, erleichtert darüber, dass sein Mentor es anscheinend doch nicht so schlecht aufnahm, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Die sind mir echt beide hinterhergeflogen und haben mich überrascht, als ich mit Harald gerade nen Plan machen wollte. Soweit ich es verstanden habe, sind sie beide zuerst total ahnungslos von dem gewesen, was sie sind. Meine Mutter hat wohl irgendwas geahnt. Als sie dann den Zettel gefunden haben, den ich zu Hause deponiert hatte, als ich weg bin, ist sie meinem Vater gegenüber damit herausgerückt. Ich muss sie echt mal fragen, warum sie mich nicht angesprochen hat, als ihr ein Verdacht kam. Stattdessen hat sie sich von meiner Oma – also ihrer Mutter – was über ihre Vergangenheit erzählen lassen, obwohl die davon eigentlich nichts mehr wissen wollte.

Na gut. Dann bist du also ein Doppel. Hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas erleben würde.

Lucas hatte das Gefühl, die gleiche Fassungslosigkeit zu erleben, die sein Mentor empfand. Dann meldete sich noch ein anderes Gefühl, nämlich Hunger. Er stand auf, um sich in der Küche etwas zum Essen zu machen. Dort fand er auch einen Zettel seiner Mutter, auf den sie geschrieben hatte, dass sie wegen einer Konferenz leider erst gegen fünfzehn Uhr wieder zu Hause sein würde. Im Grunde genommen passte das aber sehr gut, da Neumann ihm zwischenzeitlich erzählt hatte, was er an diesem Tag möglichst noch in Erfahrung bringen oder sogar erledigen wollte. Sie würden zuallererst in die BAT gehen, um in der Bibliothek nach dem Buch zu suchen, aus dem Lucas die Informationen über die Merger hatte. Vielleicht würde dort auch etwas darüber stehen, ob man Neumann gefahrlos wieder aus ihm herauslösen konnte. Wenn dem so wäre, würden sie es versuchen, aber nicht in der BAT, wo zunächst niemand etwas davon mitbekommen sollte, dass Neumann noch lebte. Irgendwie würden sie zu Neumann nach Hause kommen müssen, um das Buch studieren zu können. Lucas rieb sich die Hände, denn er konnte es kaum erwarten, wieder in den coolen Loft zu kommen. Dann jedoch fiel ihm etwas ein, das seine Euphorie wieder bremste.

Sag mal, wie sollen wir das denn eigentlich alles schaffen, bevor meine Ma wieder zurück ist? Ich hab ehrlich gesagt keinen Bock drauf, sie schon wieder anzuschwindeln. Wenn ich mir aber überlege, wo wir überall hin wollen, dann bliebe nur fliegen, um das einigermaßen in der Zeit zu schaffen. Nur fliegen geht ja auch nicht, wenn wir womöglich mehrere Bücher mitschleppen müssen. Das fällt am helllichten Tag doch auf.

Oh, mach dir darüber mal keine Sorgen, antwortete Neumann vergnügt. Dazu ist mir auch schon was eingefallen. Wir werden fahren.

Ich hab doch schon gesagt, dass das mit den Öffentlichen …, begann Lucas, wurde aber sofort von Neumanns Gedanken gestoppt.

Ich habe nix davon gesagt, dass wir mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Das tun wir auch nicht – zumindest nicht nur.

Hä?, machte Lucas.

Wir fahren bis zum Großen Stern und nehmen dort meine Maschine. Die steht bestimmt noch da, wo ich sie stehengelassen habe.

 

Und wie willst du die fahren?

Och, ich dachte mir, dass du das machst.

»Was?«, rief Lucas laut. Dann ergänzte er in Gedanken: Gei … oh verdammt.

Er war eben dabei gewesen, sich etwas Tee einzugießen und hatte sich diesen nun – abgelenkt durch die Idee seines Mentors – über die Finger geschüttet. Vom Schmerz wieder ernüchtert, fragte Lucas: Aber wie soll ich das Ding denn fahren?

Du hast mir doch irgendwann was davon erzählt, dass du Kartfahren warst. So viel schwerer ist Motorradfahren auch nicht.

Denkst du wirklich, dass ich das hinbekomme?

Du bist ein vielfältig talentierter junger Mann. Warum solltest du das nicht schaffen? Ich vertraue dir da vollauf.

Okaaay.

Lucas fühlte sich ob der Tatsache, dass Neumann ihm tatsächlich seine kostbare Maschine anvertraute, enorm geschmeichelt.

Nachdem die grundsätzlichen Dinge damit geklärt waren, machte Lucas sich flugs fertig, packte Plagues Rucksack wieder ein und verließ das Haus. Einen Zettel hinterließ er nicht, da er sich sicher war, dass er vor seiner Mutter wieder zurück sein würde. Die Fahrt mit Bus und Bahn zum Großen Stern kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, da es nichts gab, was man unterwegs noch hätte tun können, um sich abzulenken. Aber dann waren sie angekommen. Während Lucas die Stufen vom Bahnsteig der Station »Tiergarten« hinunterstieg, erklärte ihm Neumann, wo er hingehen musste, um zu dem abgestellten Motorrad zu kommen. Er wandte sich, der Beschreibung folgend, nach rechts und ging bis zur nächsten Kreuzung, wo er wiederum rechts abbog und unter den Bahngleisen hindurch ging. Hinter der Unterführung befand sich eine kleine Grünanlage, die allerdings im Moment alles andere als grün war. Lucas ließ seinen Blick über die kahlen Bäume und den matschigen Boden schweifen. Dann entdeckte er die in verwaschenen Tarnfarben gehaltene Persenning, unter der die VMax auf sie wartete. Schnell hatte Lucas die Befestigungshaken gelöst, die Plane abgenommen und in der seitlich angebrachten Tasche verstaut. Danach stand er vor dem Boliden und blickte ihn etwas ratlos an.

Und jetzt?

Na Schlüssel rein, starten und ab geht’s, kam es gut gelaunt von Neumann zurück.

»Spinnst du?«, entfuhr es Lucas. Erschrocken über seine eigene laute Stimme zuckte er zusammen. In Gedanken ergänzte er: Ich kann mich doch nicht einfach auf dieses Monster setzen und losfahren. Ich wüsste nicht mal, wo Gas und Bremse sind. Da lande ich doch direkt am nächsten Baum.

Ich verarsch dich doch bloß, erwiderte der Mann in seinem Innern mit schmunzelndem Geist. Pass auf. Ich hatte es mir so vorgestellt, dass du dich erst einmal draufsetzt. Ich erkläre dir die grundlegenden Dinge. Wenn’s klappt, dann fahren wir vorsichtig los. Wenn nicht, dann würde ich dich um einen Gefallen bitten.

Gefallen?

Ja. Ich glaube, dass du mir die Kontrolle über deinen Körper zumindest so weit überlassen könntest, dass ich anstatt von dir fahre. Wenn du mir so weit vertraust.

Habe ich das nicht schon im letzten Jahr getan, als ich mit dir in diesen seltsamen BAT-Club gegangen bin?

Wenn du das so siehst, dachte Neumann zufrieden. Aber ich möchte trotzdem erst einmal schauen, ob du’s auch selbst hinbekommst. So ganz geheuer ist es mir nämlich nicht, einen anderen Körper, in dem ich selbst drin stecke, fernzusteuern.

Und das taten sie dann auch. Trotz allen Respekts, den Lucas vor der brachialen Gewalt des Motorrads hatte, übte er fleißig mit Kupplung und Gas, bis er nicht mehr abwechselnd den Motor zum Aufbrüllen brachte, oder ihn abwürgte. Ein Blick auf seine Uhr beruhigte ihn insofern, als dass dieser Crashkurs bisher nur ungefähr eine halbe Stunde gedauert hatte. Wenn alles weiter so glatt lief, war noch genug Zeit, um die restlichen Dinge zu erledigen, die sie schaffen wollten.

Eine Weile später dachte Neumann: Okay. Das Wichtigste hast du einigermaßen drauf. Jetzt können wir da vorne vorsichtig auf die Straße rollen, damit du das Hochschalten und Bremsen angehen kannst.

Bist du sicher?, fragte Lucas, dem sofort angsterfüllte Schauer über Rücken und Arme liefen.

Du kannst mir ruhig glauben. Ich merke schon, wenn jemand mein Baby richtig oder falsch behandelt. Und du hast ein gutes Händchen. Außerdem bin ich ja noch da, um dir beim Fahren Tipps zu geben.

Also fuhr Lucas vorsichtig über den Bürgersteig und von dort auf die kleine Nebenstraße, die bis auf ein paar geparkte Autos völlig verlassen war. Nachdem auch die nächsten Übungen zur Zufriedenheit seines Lehrers verlaufen waren, machten sie sich auf den Weg nach Friedrichshain. Lucas konzentrierte sich darauf, Gas, Kupplung und Bremse richtig zu bedienen. Ansonsten ließ er sich von Neumanns Anweisungen leiten. Es dauerte nicht lange, bis er in der Lage war, die Fahrt zu genießen, aber da kamen sie auch schon in der Straße an, in der die BAT zu finden war.

Gut. Jetzt lass die Maschine mal lieber ein Stückchen weiter weg stehen. Ich will nicht, dass sie jemand erkennt.

Lucas machte ein enttäuschtes Gesicht, dass sein Mentor freilich nicht sehen konnte. Gleichwohl ergänzte dieser: Ich kann ja verstehen, dass es dir Spaß macht, jetzt wo du den Bogen einigermaßen raus hast, aber um die paar Meter geht’s doch nun wirklich nicht. Außerdem kannst du ja gleich wieder rauf auf den Hobel, wenn wir hier fertig sind.

Hast ja recht. Lucas hätte dabei geseufzt, wenn das in Gedanken möglich gewesen wäre.

Er lenkte das Motorrad vorsichtig an den Straßenrand und stellte es ab. Lucas ging auf die andere Straßenseite und lief dort noch ein wenig weiter. Dann war er an der Stelle angekommen, wo er erneut die Straße überqueren musste, um den Durchgang zum Hof zu erreichen, in dem sich der Eingang zur BAT befand. Verlassen und irgendwie unwirklich kam ihm dieser Hof vor, jetzt, wo keine Menschenseele hier war. Aber genau das war der Grund, warum sie vor der eigentlichen Öffnungszeit hergekommen waren. Auf diese Art und Weise würde die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu treffen, der nichts vom derzeitigen Gesundheitszustand Neumanns erfahren sollte, sehr gering sein. Lucas hielt auf den Eingang zu, über dem das Schild mit der Graffiti-Schrift vermeldete, dass sich hier der BAT-Club befände. Jedoch wurde er von dem Mann in seinem Innern gebremst.

Lass uns mal lieber durch den Seiteneingang gehen. Wenn wir vorne reingehen, müssen wir durch die Tür mit dem Retina-Scanner. Die registriert dann, dass du hier warst.

Oh, machte Lucas im Geist. Dabei musste er unwillkürlich grinsen. Wie schnell es einem doch in Fleisch und Blut überging, sich nur noch innerlich zu unterhalten, sodass er sogar ein so einfaches Geräusch nicht mehr laut äußerte.

Am seitlichen Eingang angekommen, kramte Lucas im Rucksack nach Neumanns Schlüsselbund. Dann schloss er die kleine unscheinbare Tür auf, die einen direkten Zugang ins Herz der Akademie ermöglichte. Am Fuß der Treppe, die er zuletzt hinuntersteigen musste, wandte er sich nach rechts und ging am Kollegiumsraum vorbei direkt zur Bibliothek. Dort hielt sich Lucas ebenfalls nicht lange auf, da er wusste, wonach er suchte. Das kleine Büchlein, aus dem er schon so viele wichtige Informationen entnommen hatte, stand immer noch genau dort, wo er es das letzte Mal hingestellt hatte. Lucas schnappte sich den dünnen Band und steckte ihn in den Rucksack.

Brauchen wir sonst noch was?, fragte er Neumann.

Hmm, glaub‘ nicht. Ich denke, wir sollten jetzt erst mal schnellstmöglich zu mir fahren und schauen, ob wir mein Problem gelöst bekommen. Wenn nicht, dann müssen wir zur Not nochmal her.

Lucas warf im Gehen einen Blick auf seine Uhr. Das könnte knapp werden, falls sie tatsächlich noch einmal hierher mussten. Aber darüber könnten sie sich ja immer noch Gedanken machen, wenn …

»Allo, ähm Lucas. Was machste du denn ier?«, erklang hinter ihm plötzlich eine Stimme.

Er fuhr herum und hob – obwohl er die Stimme eigentlich erkannt hatte – abwehrend die Hände. In diesem Moment bemerkte Lucas, dass er in der Linken immer noch seinen Motorradhelm hielt. Schnell ließ er sie wieder sinken.

»Herr Bragulia«, brachte er mit belegter Stimme hervor. In ihm wütete ein Chaos aus eigenen Gedanken und denen von Neumann, das es ihm unmöglich machte, mehr zu äußern.

»Si, si«, erwiderte Vincente di Bragulia, der Leiter der Akademie. Er blickte ihn freundlich, aber auch neugierig an. »Willste du schon übe für die neue Kurse? Und wie war deine Silvester?«

Inzwischen hatten sich die Gedanken in Lucas‘ Kopf wieder so weit beruhigt, dass er in der Lage war, zu antworten.

»Ach, wissen Sie, ein neues Jahr ist doch irgendwie wie das andere. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum die um dieses Millennium so einen Rummel gemacht haben.« Da ihm in diesem Moment eine Idee gekommen war, ergänzte er: »Und nein, ich bin nicht zum Üben hier. Herr Neumann hatte mich im letzten Jahr gebeten, ihm seinen zweiten Helm mitzubringen, den er mir mal geborgt hatte.«