Seewölfe Paket 8

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5.

Sie schritten auf das Licht im Nordosten zu und hatten den schmalen Gürtel aus Pinien und Zypressen hinter sich gebracht, als Kapitän Alvaro Monforte abrupt stehenblieb.

„Da ist jemand“, sagte er gepreßt. „Dort, links von uns.“

Reto und Tarquinho lenkten ihre Blicke in die von ihrem Vorgesetzten angegebene Richtung. Auch der Soldat und der Decksmann der „Sao Sirio“ – sie hießen Tulio und Josefe – spähten nach links.

So gewahrten sie alle die drei Männer, die sich ihnen näherten. Eine wuchtige und zwei schlanke Gestalten in Wind und Regen waren es. Sie hoben im Näherkommen die Hände und riefen etwas.

Monforte und seine Begleiter hatten unwillkürlich zu den Waffen gegriffen. Ihre Pistolen waren durch das Seewasser unbrauchbar geworden, aber sie hatten noch Degen und Säbel, mit denen sie sich notfalls ihrer Haut wehren konnten.

„Wenn das Wegelagerer sind“, zischte Monforte, „haben sie kein leichtes Spiel mit uns. Wir sind zu fünft. Solange keine anderen Männer auftauchen, sind wir in der Überzahl und erledigen sie, selbst wenn sie uns mit Pistolen zu Leibe rücken.“

„Ich glaube, die haben keine feindlichen Absichten“, sagte Tulio, der Soldat.

„Der Mann in der Mitte ruft wieder etwas“, meinte Tarquinho, der Decksälteste. „Himmel, wenn man es nur verstehen könnte. Capitán, er hat einen mächtigen Vollbart, glaube ich.“

„Wer seid ihr?“ schrie Monforte den drei Männern zu.

„Companhero“, erwiderte der Bärtige, „habt Vertrauen zu uns! Wir wollen euch helfen! Was ist euch passiert?“

„Wer seid ihr?“ wiederholte der abgekämpfte, argwöhnische Kapitän seine Frage.

Der Bärtige blieb stehen, und sofort verhielten auch die beiden anderen ihren Schritt. „Pinho Brancate und seine Söhne Charutao und Iporá“, entgegnete er. „Wir sind friedfertige Bewohner der Küste, ehrbare Leute. Der Wind hat Schreie zu unserem Haus herübergetragen, und wir wollten nach dem Rechten sehen. Wir haben unten auf dem Kieselstrand Männerleichen entdeckt. Was hat das zu bedeuten? Habt ihr damit zu tun? Was ist geschehen?“

„Tretet näher“, forderte Monforte die drei auf. „Habt ihr Waffen?“

„Nein, wir haben keine“, sagte Pinho Brancate mit sonorer Stimme.

Die Männer der „Sao Sirio“ musterten ihn und seine Söhne und stellten fest, daß die drei tatsächlich weder Schuß- noch Hieb- oder Stichwaffen bei sich führten. Das überzeugte sie vollends von der Harmlosigkeit der Brancates. Monforte, Reto, Tarquinho, Tulio und Josefe nahmen nacheinander die Hände von ihren Degen und Säbeln.

Nachdem Alvaro Monforte den Vater und dessen beide Söhne eingehend betrachtet hatte, sagte er: „Wir sind Schiffbrüchige. Unsere Galeone ‚Sao Sirio‘ ist keine Viertelmeile vor der Küste auf ein tückisches Riff gelaufen. Nur wir fünf sind ihrem Untergang lebend entkommen.“

Brancate bekreuzigte sich. „Das Riff“, murmelte er. „Das verfluchte Riff, immer wieder fordert es Opfer. Es ist schon vielen Schiffen zum Verhängnis und vielen braven Männern zum Friedhof geworden. Sie sind der Capitán, Senor?“

„Ja.“

„Ich spreche Ihnen hiermit mein Beileid aus. Kann ich irgendwie helfen? Gibt es noch irgend etwas zu tun?“

Monforte nannte seinen Namen. Er stellte auch seine vier Männer vor, und die Brancates schüttelten ihnen nacheinander die Hände.

Charutao und Iporá hatten eine andere Statur als ihr Vater, aber aus der Nähe fiel doch ihre große Ähnlichkeit mit Pinho Brancate auf. Ihre Züge waren ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, das konnte auch nicht das Bartgestrüpp verbergen, das Pinho Brancates Kinn und Wangen überwucherte. Sehnige junge Männer waren Charutao und Iporá, augenscheinlich strotzten sie vor Gesundheit.

„Senor Brancate“, sagte Monforte. „Sie sind Fischer, nehme ich an?“

„Nein. Ich habe keine Beziehung zum Meer, wenn wir auch nicht weit davon entfernt leben. Mehr noch, ich hasse die See.“

„Das ist ungewöhnlich …“

„Mein Vater ertrank darin“, versetzte der Bär von einem Mann gedämpft. „Ich kann es nicht vergessen und immer, wenn ich die Abuela, meine Mutter, anschaue, erinnere ich mich an die furchtbare Szene, die ich miterlebte, ohne etwas tun zu können.“

Monforte nickte. „Ich kann Ihnen nachempfinden, wie Ihnen zumute ist, glauben Sie es mir. Ich habe mehr als zwanzig meiner Männer einen grausigen Tod sterben sehen. Sie haben folglich auch kein Boot, wie ich annehme?“

„Nein. Wir leben von der Landwirtschaft – meine Familie und ich. Außerdem betreiben wir nebenher noch eine bescheidene Herberge, Capitán.“

„So. Ich hatte gehofft, mit Ihrer Hilfe die Leichen meiner Männer nach seemännischem Zeremoniell bestatten zu können.“

Brancate hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Verzeihen Sie mir, aber mit einem Boot kann ich wirklich nicht dienen.“

„Im Morgengrauen könnten wir einen der Fischer aufsuchen, die in der Umgebung wohnen“, sagte Charutao, der ältere der Brüder. „Wenn wir einen dieser Männer um seine Schaluppe bitten, wird er uns gewiß nicht die Tür weisen.“

„Danke“, erwiderte Monforte. „Warten wir also bis zum Anbruch des neuen Tages.“

„Warten wir in meinem Haus“, sagte Pinho Brancate. „Wir werden ein Feuer im Kamin entzünden, Capitán, Sie und Ihre Männer können sich trocknen. Wir beköstigen Sie und geben Ihnen ein weiches Bett, in dem Sie sich ausruhen können. Ich weiß, ich weiß, Ihnen ist nach diesem entsetzlichen Unglück nicht nach Schlaf zumute, aber Sie werden schon noch einsehen, daß Sie ein wenig Schlummer bitter nötig haben.“

„Wahrscheinlich“, erwiderte Monforte erschöpft. „Aber wir können Ihre Dienste nicht bezahlen, mein werter Brancate. Wir haben keinen einzigen Escudo in der Tasche.“

„Das ist auch nicht notwendig“, sagte Brancate. Er beschrieb eine theatralische Gebärde und hob abwehrend beide Hände. „Nie würde ich von Ihnen Geld annehmen!“

„Aber die Armada wird Sie dafür entlohnen, daß Sie uns Unterkunft gewähren“, fuhr Monforte fort. „Die ‚Sao Sirio‘ war eine Kriegsgaleone, wir unterstehen dem Oberkommando der Admiralität von Lissabon.“

Brancate nahm plötzlich Haltung an. Auch die Gestalten seiner Söhne versteiften sich.

„Um so größer ist die Ehre, Sie in meinem bescheidenen Heim willkommen zu heißen“, sagte der Bärtige. „Ich bin stolz darauf, Männer der siegreichen, unüberwindlichen Armada unter meinem Dach zu wissen. Es würde mich zutiefst kränken, wenn Sie sich mir in irgendeiner Weise verpflichtet fühlen würden.“

Monforte erhob keinerlei Einwand, er fühlte sich zu schwach dazu. „Danke. Ich wäre froh, wenn wir jetzt zu Ihrer Herberge gehen könnten.“

Brancate übernahm sofort die Führung. Nur noch die nächste Hügelkuppe hatten sie zu überqueren, dann rückte das Licht, das die Männer der Galeone schon vorher entdeckt hatten, rasch näher und entpuppte sich als ein quadratisches, voll ausgeleuchtetes Fenster in einer hohen Hausmauer. Das von Monforte anvisierte Ziel war also mit dem Heim der Brancates identisch, der Kapitän konstatierte es mit einer Art beruhigendem Gefühl. Hier, in dieser solide gebauten Oase mitten im Sturm, schien man wirklich sicher zu sein vor weiteren Unbilden der Natur.

Die Eingangstür des Steinhauses wurde von innen geöffnet, als sie nur noch ein paar Schritte davon entfernt waren. Alvaro Monforte sah eine vom Alter gebeugte Frau in dem dämmrig leuchtenden Viereck erscheinen. Sie wandte Monforte ihr zerknittertes Greisengesicht entgegen und musterte ihn aus klaren Augen.

„Was wollt ihr hier?“ stieß sie heiser aus. „Geht fort, weit fort, ihr habt hier nichts verloren. Ihr habt euch den falschen Platz zum Verweilen ausgesucht, glaubt es mir.“

„Madre“, herrschte Pinho Brancate die Alte an. „Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du die Tür nicht anfassen sollst? Wo stecken denn Emilia und Josea? Dios, der Wind könnte dich glatt zu Boden werfen. Abuelita, sei doch nicht so starrsinnig.“

„Mich wickelst du nicht ein, du raffinierter Hund“, zischte die Alte. „Mir kannst du nichts vorgaukeln, ich durchschaue dich.“

Brancate schob sich an dem Kapitän vorbei und drängte seine Mutter mit sanfter Gewalt ins Haus. Sie schimpfte weiter, aber er ging nicht darauf ein, sondern beförderte sie in einen Nebenraum des großen Kaminzimmers, in das Charutao und Iporá die Gäste jetzt geleiteten. Pinho Brancate zog die Holzbohlentür des Nachbarraumes zu, legte einen Riegel vor und begab sich mit entschuldigendem Grinsen zu seinen Besuchern zurück.

„Die Abuela ist nicht mehr ganz richtig im Kopf“, sagte er. „Sie dürfen ihr nicht übelnehmen, was sie sagt.“

„Natürlich tun wir das nicht“, entgegnete Monforte matt.

Tarquinho schaute zu dem bärtigen Riesen auf. „Viele Leute werden im Alter wunderlich. Ich habe einen achtzig Jahre alten Vater, der körperlich noch völlig auf der Höhe ist. Manchmal aber läuft er ohne jeglichen Anlaß von zu Hause weg, und es bereitet unglaubliche Mühe, ihn wiederzufinden.“

„Ja, ja“, meinte Pinho Brancate. „Wem sagen Sie das, Amigo mio. Einmal wollte sich die Abuela von den Klippen stürzen. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um sie zurückzuhalten.“

„Leben und Tod“, murmelte Alvaro Monforte. „Nur ein Hauch trennt beides voneinander. Welchen Wert hat das Leben eines Menschen? Wie leichtfertig darf man damit umgehen? Wer gibt uns das Recht dazu, über anderer Leute Schicksal zu befehlen?“

Brancate gab seinen Söhnen einen Wink. Sie verließen das geräumige Kaminzimmer. Brancate setzte sich zu seinen nassen, entnervten Gästen an den klobigen Zypressenholztisch und faltete die mächtigen Hände.

„Senor Capitán“, sagte er ruhig. „Sie sind jetzt verbittert, aber Sie müssen einsehen, daß das Leben weitergeht – nicht nur für Sie, auch für diese vier Männer hier. Ich verstehe nichts von der Seefahrt, das habe ich Ihnen ja schon erklärt. Aber ich weiß, daß man an Bord eines Segelschiffes immer mit dem Unfaßbaren rechnen muß – mit dem Tod. Wer dem Sturm entrinnt, ist zum zweitenmal geboren.“

 

„Sie können mich nicht begreifen“, entgegnete Monforte. „Sie kennen nicht alle Hintergründe, Brancate.“

„Haben Sie Schuldgefühle, Capitán? Machen Sie sich Vorwürfe?“

„Dazu habe ich keinen Grund.“

„Wirklich nicht“, fügte der erste Offizier der „Sao Sirio“ bekräftigend hinzu – mehr für seinen Kapitän als für den Besitzer der Herberge. „Capitán Monforte hat alles getan, um sein Schiff und seine Mannschaft vor dem Verderben zu retten.“

„Gott gebe, daß alle Männer so werden wie Sie“, sagte Brancate ergriffen zu seinem Gegenüber.

Monforte fixierte ihn. „Senor, ich möchte weder zum Helden ernannt werden noch einen Glorienschein erhalten. Bitte, verlieren wir kein Wort mehr über die Vorfälle dieser Nacht. Es geht mir nur um eins – um Gerechtigkeit.“

„Man hat Ihnen – ein Unrecht angetan?“ fragte der Bärtige verdutzt.

„Unser Schiff gehörte einem Fünferverband an“, sagte Tarquinho, der Decksälteste. „Unser Capitán ist der Meinung, es war ein Fehler des Kommandanten, dem Sturm trotzen zu wollen. Wir hätten irgendwo Schutz vor dem Wetter suchen sollen.“

„Schweigen Sie“, fuhr Monforte den Mann an. „Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, diese Details an einen unbeteiligten Dritten weiterzuverraten?“

„Niemand, Senor“, antwortete Tarquinho irritiert.

„Sie werden von jetzt an keine Einzelheiten mehr ausplaudern, die unseren Verband und unseren Auftrag betreffen“, erklärte Monforte barsch.

„Nein, Senor“, sagte Tarquinho erschrocken. „Und verzeihen Sie mir. Ich habe – nicht mehr daran gedacht, daß …“

„Schon gut“, entgegnete der Kapitän merklich ruhiger. „Es ist ja nicht so tragisch. Ich bin völlig fertig. Mir ist hundeelend zumute, da dreht man leicht durch.“

Pinho Brancates ließ seine Besucher nicht aus den Augen. Ein geheimer Auftrag? fragte er sich. Der Capitán will nicht, daß ich darüber etwas erfahre. Nun, im Grunde schert es mich ja auch einen feuchten Kehricht, was für eine Mission dieser Verband hat. Nur ein wichtiger Punkt wäre da zu beachten …

Er beugte sich vor und sagte: „Senores, sicherlich wird der Geschwaderführer nach der ‚Sao Sirio‘ suchen lassen, sobald der Sturm nachläßt und es hell wird.“

„Bei der Hast, mit der er den Verband vorantreibt, wird er sich mit uns, den ‚Nachzüglern‘, nicht aufhalten“, erwiderte Monforte erbittert. „Ich schätze eher, er behält seinen Nordkurs bei und wartet darauf, daß die anderen Schiffe seinen Vorsprung aufholen.“

„Aber so erfährt er nie, daß es die ‚Sao Sirio‘ zerschmettert hat“, stieß Brancate in gut gespielter Entrüstung aus. „Und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis jemand die, äh, traurigen Überreste des stolzen Schiffes birgt.“

„Zu bergen gibt es da nichts mehr“, erwiderte der Kapitän. „Und die ‚Sao Sirio‘ als reiner Kriegssegler hat ja auch keine Reichtümer befördert, wenn man einmal von ihrer Armierung und ihrer sonstigen Ausrüstung absehen will. Kurzum, alle Bestrebungen des Comandanten in dieser Richtung wären vergebliche Liebesmühe. Ein Zeitverlust. Man kann darauf verzichten. Verstanden, Brancate?“

„Ja. Durchaus.“

„Aber schließen wir das Thema jetzt ab.“

„Einverstanden, Senor Capitán.“ Pinho Brancate erhob sich von seinem Stuhl, trat an den gemauerten Kamin und kauerte sich davor. Er schürte die Glut, bis die Flammen munter emporzüngelten, und legte Holz nach. Im Nu bullerte und knisterte das Feuer, und ein hellerer Schein zuckte durch den großen Raum. Brancate wandte sich um und lud seine Gäste durch eine Geste ein näherzurücken.

Sie nahmen gern an. Mit ihren Sitzgelegenheiten begaben sie sich dicht vor das Feuer. Es war Juni und trotz des Sturmes eine laue Nacht, aber nach dem unfreiwilligen Bad in der See tat die Wärme wohl, die nun an ihren Gliedmaßen emporkroch.

Eine Zimmertür öffnete sich, und Charutao und Iporá kehrten in Begleitung ihrer Mutter und ihrer Schwester zurück. Emilia eilte auf die fünf Männer der Galeone zu, begrüßte sie und überschüttete sie mit Freundlichkeit. Die jungen Männer holten sich Stühle und setzten sich ebenfalls an den Kamin.

Josea, die Zwanzigjährige, hatte eine unaufdringliche Art, sich in dem Kaminzimmer zu beschäftigen. Sie förderte aus einem der schweren Schränke eine Korbflasche Rotwein und Becher zutage, holte Brot, Schinken, Hartwurst, Käse und stellte alles auf den Tisch.

Monforte registrierte sofort, daß seine Begleiter nur noch Augen für dieses schöne, gutgewachsene Mädchen hatten.

„Emilia“, brummte Pinho Brancate. „Kannst du nicht besser auf die Abuela aufpassen? Sie hat unsere Gäste natürlich sofort auf ihre Art begrüßt. Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?“

„Im Stall bei den Tieren. Konnte ich denn ahnen, daß du jemanden mitbringst?“

„Du weißt doch, wie oft wir in Sturmnächten Schiffbrüchige zu uns nach Haus geholt haben.“

„Ja, das stimmt. Und du bist ja extra deshalb aufgebrochen, weil du nachsehen wolltest, ob wieder ein Unheil am Riff geschehen war“, entgegnete die stämmige Frau. „Verzeih, Pinho, daß ich so unaufmerksam gewesen bin. Senores, verzeihen auch Sie.“

„Ach, Schwamm drüber, das ist doch nicht der Rede wert“, sagte Reto, der Erste Offizier. Er hatte wie die anderen aus Joseas Hand einen Becher voll dunklem Rotwein entgegengenommen und als erster von diesem vorzüglichen Tropfen gekostet. Es war ein herrliches Gefühl, den Wein die Kehle hinabrinnen zu lassen, und Joseas Anwesenheit trug ebenfalls zu einer gewissen Gemütswandlung bei. Fast aufgeräumt prostete Reto den Brancates zu. „Ihr habt viel für uns getan, und wir werden es euch nie vergessen.‘“

Pinho Brancate hob seinen Becher und stieß mit ihm an, er trank aber nicht, sondern setzte das Gefäß auf dem Kaminsims ab.

„Ich hoffe wirklich, daß ihr uns stets in Erinnerung behaltet, Senores“, sagte er salbungsvoll.

6.

Reto, der Erste, schlief zuerst ein. Er hatte sich an den Tisch gesetzt und von dem Brot und dem Schinken gekostet. Mit der berückend schönen Josea hatte er noch ein Gespräch beginnen wollen, aber dann waren ihm die Augen zugefallen. Er ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken, legte die Arme auf und begann sanft zu schnarchen.

„Es war zuviel für ihn“, sagte Traquinho. „Er hätte nicht soviel Wein trinken sollen.“

„Ja, das ist ein süffiger Tropfen“, sagte Pinho Brancate lächelnd. „Wir bauen selbst keinen Wein an, weil er am Meer nicht gedeiht, aber weiter im Landesinnern habe ich einen guten Companhero, der mir jedes Jahr einige Fässer davon für wenig Geld verkauft.“

„Ehrlich gesagt, ich bin auch sehr müde“, sagte Tulio, der Soldat. „Auf dein Angebot, bis zum Morgen in einem eurer Gästezimmer auszuruhen, würde ich jetzt nicht verzichten, Brancate.“

Josefe, der Decksmann, gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. „Gleichfalls. Himmel, ich fühle mich so schwer, als hätte ich Blei in den Gliedern.“

„Senor Capitán“, sagte Tarquinho, dem jetzt auch die Augen zufielen. „Dürfen wir uns ein paar Stunden hinlegen, oder ist es vermessen, darum zu bitten?“

Alvaro Monforte schaute auf. Der Wein, die Wärme des Kaminfeuers – Herrgott, ihm war der Kopf auch schon halb nach vorn gesunken, und er hatte schon gar nicht mehr richtig verstanden, was gesprochen worden war. Ein wirrer Traum hatte in seinem Geist Gestalt angenommen. Jäh verblaßte jedoch das Produkt seiner bewegten Phantasie, er blinzelte seinen Decksältesten an. „Tarquinho, wir fünf haben den Schlaf bitter nötig, nehme ich an.“

Pinho Brancate stand auf und winkte seinen Söhnen und den Frauen zu. „Los, bewegt euch. Josea, richte die Zimmer her. Emilia, zünde die Öllampen im Obergeschoß an, damit unsere Freunde sich nicht die Köpfe stoßen. Senores, wir haben eine wunderschöne Kammer mit vier Betten und eine mit einem Bett – ich schlage vor, Sie schlafen separat, wie es Ihrem Dienstgrad zusteht, Capitán.“

„Einverstanden“, sagte Monforte mit schwerer Zunge. „Tarquinho und Josefe, ihr kümmert euch um den Ersten.“

„Das erledigen wir schon“, sagte nun Charutao und schritt mit seinem Bruder auf den schlafenden Ersten zu. Sie packten ihn unter den Armen, zogen ihn von seinem Platz hoch und hoben ihn offenbar mühelos so weit an, daß seine Füße den Holzfußboden nicht mehr berührten.

Josea hatte eine Tür geöffnet und war vorausgeeilt. Emilia folgte ihr über die Stufen der Treppe ins Obergeschoß. Sie entfachte mittels eines glimmenden Dochtes die Öllampen, die in eisernen Halterungen an den Wänden des oberen Flures angebracht waren.

Den Schluß der Prozession bildeten die Männer. Charutao und Iporá schritten hinter ihrem Vater, dem Kapitän, Tarquinho, Tulio und Josefe. Geschickt hoben sie die Beine des tief schlafenden ersten Offiziers über jede Stufe. Sie konnten sich ein Grinsen jetzt nicht mehr verkneifen.

Vom Flur des Obergeschosses führten vier oder fünf Türen in dahinter befindliche Räume, soviel stellte der Kapitän Monforte in seinem tranceartigen Zustand noch fest. In einem rechts liegenden Raum war das schöne junge Mädchen verschwunden. Emilia schlüpfte jetzt ebenfalls hinein. Wenig später konnten die Männer eintreten. Sie befanden sich in dem Vier-Betten-Raum. Emilia und ihre Tochter hatten durch eine Verbindungstür bereits das nächste Zimmer aufgesucht, das für Monforte bestimmt war.

Charutao und Iporá betteten Reto mit größter Behutsamkeit auf eins der Grasmatratzenlager. Tarquinho, Tulio und Josefe konnten nun auch nicht länger widerstehen, sie sanken jeder auf eine Ruhestatt.

Alvaro Monforte wankte auf die Verbindungstür zu. Er glaubte, jeden Augenblick in den Knien einzusakken. Pinho Brancate war neben ihm, stützte ihn und redete auf ihn ein. Monforte verstand nicht mehr, was der Mann sagte. Er entfloh in seine Traumwelt, diesmal endgültig.

Charutao und Iporá sahen ihrem Vater und dem Kapitän nach, dann blickten sie auf die vier Männer der „Sao Sirio“ hinunter.

„Sie schlafen“, sagte Charutao. „Diese Narren.“

„Still“, zischte Iporá Er trat neben die Betten, beugte sich über jeden Mann und hob prüfend die Augenlider an. Erst dann nickte er bestätigend. „In Ordnung, sie schlummern wirklich fest.“

Charutao verzog den Mund zu einem hämischen Grinsen. „Hör mal, glaubst du denn, das Gebräu der Abuela verfehlt seine Wirkung? Mutter hat doch genug davon in den Wein gekippt.“

„Aber die Abuela will kein Schlafmittel mehr zubereiten.“

„Vater zwingt sie dazu.“

„Du glaubst, sie könnte eines Tages einen Trick versuchen und statt des Kräuterelixiers eine harmlose Brühe kochen, von dem kein Kind einschläft?“

„Das wagt sie nicht“, sagte Charutao. Er tat einen Schritt auf den Ersten zu, griff an den Gurt und zückte einen Dolch, den er unter dem Hemd versteckt in den Hosenbund geschoben hatte. „Ich schätze, der Capitán, dieser verdammte Trottel, pennt inzwischen auch selig. Besorgen wir es diesen Hunden also. Je eher wir es erledigt haben, desto besser.“

Iporá stürzte auf ihn und griff nach seinen Handgelenken. „Bist du wahnsinnig? Du weißt doch, daß wir hier im Haus niemanden umbringen sollen. Wenn Josea das sieht …“

„Josea, Segura, Franca werden sich daran gewöhnen. Eines Tages müssen sie ja doch die Wahrheit erfahren. Warum sollen wir uns solange mit diesen fünf Figuren aufhalten? Zu holen gibt es bei ihnen ja doch nichts, zum Teufel. Nur ihre Waffen können wir in bare Münze umsetzen. Ein Hungerlohn.“

„Sei still“, sagte Iporá gedämpft. „Denk doch daran, daß wir die Kanonen ihres Schiffes bergen und verscherbeln können. Das bringt uns etwas ein.“

„Der Aufwand lohnt nicht. Einmal haben wir Schiffsgeschütze vom Grund des Riffs heraufgeholt, aber das war eine wahnsinnige Arbeit, und das Entgelt dafür war spärlich. Hast du das vergessen?“

„Nein“, antwortete ihm eine Stimme von der Verbindungstür zwischen den beiden Kammern her. Pinho Brancate war zu ihnen zurückgekehrt. Er blickte seinen ältesten Sohn so drohend an, daß dieser den Dolch sofort in den Hosenbund zurückschob.

Der bärtige Riese trat dicht vor seine Söhne hin. „Du hast Recht, Charutao“, raunte er. „Aber deswegen dürfen wir diese fünf Dummköpfe noch lange nicht ermorden. Laß dir so was nie wieder einfallen, verstanden? Oder du nimmst ein Bad im Brunnen.“

 

Charutao war bleich geworden. „Jawohl, Padre. Nur – was geschieht jetzt mit den Kerlen?“

„Ein Mißgeschick wird ihnen widerfahren. Sie treten zu nah an den Rand der Klippen und stürzen ab. Sie brechen sich den Hals, die Ebbe trägt sie in die See hinaus, und kein Hahn kräht mehr nach ihnen. Wer aufs Riff läuft, ersäuft, das ist doch klar. Ich glaube, der Handkorb von Monfortes Degen ist aus Silber. Dafür kriegen wir doch ein hübsches Sümmchen, und wieder halten wir uns für eine Weile über Wasser.“

„Über Wasser“, zischte Charutao. „Aber das große Geld verdienen wir nie, Padre.“

Pinho Brancates dunkle Augen begannen gefährlich zu glimmen. „Unzufrieden, Söhnchen?“

„Ich – nein, Padre.“

„Dann schweig. Wer aufsässig wird und das Maul zu weit aufreißt, erhält von mir eine Lektion, merk dir das.“

Er wollte weiterreden, den Zeitpunkt für die „Aktion Klippfelsen“, festlegen und Einzelheiten mit seinen Söhnen durchsprechen, da ertönte aus dem Erdgeschoß des Hauses anhaltendes, dumpfes Klopfen.

„Das ist die Abuela“, stieß der Bärtige aus. „Zum Teufel mit ihr. Sie ahnt natürlich, daß wir dabei sind, diese fünf traurigen Gestalten auszuplündern und zu beseitigen. Wartet hier, ich beruhige sie schon.“

Er verließ den Raum mit den vier Betten, hastete den Flur entlang und nahm die Treppe mit ein paar Sätzen. Unten angelangt, schob er den Riegel vor der Kammer seiner Mutter zurück und öffnete die Tür. Er schob sich in den Raum, ehe sie sich in das Kaminzimmer zwängen und womöglich nach oben laufen konnte.

Aus haßlodernden Augen blickte die alte Frau ihren Sohn an. Sie wollte mit den Fäusten gegen seine Brust trommeln, aber er hielt sie fest und drängte sie mit sanfter Gewalt tiefer in den Raum.

„Madre, Madre“, sagte er. „Was ist denn nur in dich gefahren?“

„Das weißt du!“

„Abuelita, ich schwöre dir …“

„Schwöre nicht! Versündige dich nicht! Ihr habt sie umgebracht, habt sie erstochen, nicht wahr?“

„Aber, aber“, sagte er mit erzwungenem Lachen. „Wer wird denn so etwas tun?“

„Lüg mich nicht an!“ schrie sie.

„Hör zu, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst.“

Sie senkte den Kopf und versuchte sich zu befreien. Sie trampelte auf der Stelle, aber es hatte alles keinen Zweck. Sie war ein schwaches, gebrechliches Etwas im Klammergriff des Riesen, dessen Geburtstag sie mehr als einmal verflucht hatte.

Sie beruhigte sich. „Du willst allen erzählen, ich sei nicht mehr ganz richtig im Kopf“, zischelte sie. „Aber nicht alle werden es glauben, nicht alle, hörst du? Ich bin nicht verrückt, ich bin ganz normal.“

„Aber sicher doch, Abuelita“, erwiderte er freundlich. „Sonst könntest du uns den Trank doch gar nicht mehr richtig zusammenbrauen.“

„Ich braue nichts mehr, darauf kannst du dich verlassen“, zürnte sie.

Pinho Brancate wurde stockernst. „Ich versichere dir, daß die bei uns Einkehrenden, die wir um ihre Habseligkeiten erleichtern, nicht schlecht von uns behandelt werden. Wir schleppen sie nur fort und setzen sie irgendwo aus. Wenn sie aufwachen, wissen sie nicht mehr, wo sie gewesen sind und was passiert ist. Zufrieden, Madre? Sieh mich nicht so strafend an. Ich bin doch dein treusorgender Sohn, der sich bislang aufopfernd um dich gekümmert hat.“ Er beugte sich leicht vor und fuhr leise und eindringlich fort: „Und wenn du jetzt noch länger tobst und dich nicht endlich brav verhältst, mache ich meine alte Drohung wahr.“

Ihre Augen weiteten sich. „Du Schuft! Das – das würdest du tun?“

„Ich setze dich in das kleine Boot, das in unserem Keller liegt, und schicke dich aufs Meer hinaus, jawohl. Dann holen dich die bösen Seedämonen und Wassergeister, und du kehrst nie mehr zu uns zurück.“

Er ließ sie los. Sie setzte sich auf ihren Stuhl und barg das Gesicht in den Händen.

Im Freien näherten sich plötzlich Schritte. Pinho Brancate trat neben das engbrüstige Fenster im Zimmer seiner Mutter, lehnte sich mit der Schulter gegen das Mauerwerk und spähte hinaus.

Gestalten näherten sich dem Haus – Männer. Der bärtige Riese zuckte kaum merklich zusammen. Angestrengt blickte er zu den Fremden, die genau auf die Eingangstür zusteuerten. Wer waren diese fünf Kerle? Woher stammten sie und was wollten sie?

Seine Züge glätteten sich erst wieder, als er im Gefolge der fünf Unbekannten seine zwei Töchter erkannte. Segura und Franca – sie hatten die Männer also gebracht!“

„Ein Schiff“, murmelte Brancate. „In der geschützten Bucht muß ein Schiff liegen, seine Besatzung hat sich auf diese Weise vor dem Sturm gerettet. Vielleicht schickt der Himmel uns diesen Kahn, vielleicht gibt es dort mehr zu holen als bei den Männern der ‚Sao Sirio‘.“

Er wandte sich vom Fenster ab, pirschte auf Zehenspitzen durch den Raum und glitt durch den Türspalt wieder in das Kaminzimmer. Die Tür riegelte er zu, dann lief er zur Treppe, hetzte die ersten Stufen hoch und rief: „Emilia! Zur Hölle, Emilia, wo steckst du denn bloß wieder?“

Schritte polterten von oben heran, das Gesicht seiner Frau schob sich über das Treppengeländer. „Was ist? Was willst du?“

„Fesselt und knebelt die fünf Männer, wir können sie jetzt nicht fortschaffen. Sperrt die Kammertüren zu, damit keiner hinein kann“, raunte der bärtige Mann ihr zu. „Es sind neue ‚Kunden‘ im Anmarsch, meine Liebe, und wir wollen sie gebührend empfangen und darauf achten, daß sie Monforte und seine Leute nicht entdecken.“

„Gut, ich kümmere mich darum“, sagte Emilia. Sie hastete zu den Schlafzimmern zurück und rieb sich zufrieden die Hände.