Seewölfe Paket 26

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3.

Das graue Licht des beginnenden Tages kroch durch kleine Fenster, deren Scheiben fast blind waren. Der Raum mit den niedrigen Deckenbalken verlor dadurch wenig von seiner Düsternis.

Der Dielenboden hatte dunkle Flecken von dem, was in der Nacht verschüttet worden war – Bier und Wein vor allem. Auf den Tischen lagen umgekippte Trinkbecher zwischen den Köpfen der Schnarchenden. Auch neben die Stühle und Bänke waren Gestalten gesunken und im Vollrausch eingeschlafen. Durchdringender Mief, vermischt mit dem Geruch verschütteter Getränke, erfüllte die Luft.

Die beiden Männer betraten den Schankraum von den Hinterzimmern her und blieben neben dem Tresen stehen. Gonzalo Bastida stemmte die Fäuste in die Hüften, schnaufte und schüttelte mißbilligend den massigen Kopf. Dann stapfte er los, durch den Gang zwischen den Tischreihen, und es kümmerte ihn nicht, wenn er dabei gelegentlich auf Arme und Beine von Schlafenden trat. Bei den Mengen von Alkohol, die sie geschluckt hatten, spürte ohnehin keiner etwas.

Bastida riß die beiden Riegelbalken der Eingangstür hoch und ließ sie achtlos zu Boden poltern. Eine der Gestalten in der Nähe wurde von einem der Balken an der Schulter getroffen, stöhnte kurz auf und versank sofort wieder in tiefen Schlaf. Bastida öffnete die Tür weit, reckte sein Gesicht dem Tageslicht entgegen und pumpte die frische Luft tief in seine Lungen.

Alonzo de Escobedo, der bei der Theke stehengeblieben war, beobachtete den anderen Mann grinsend. Bastida war ein eiskalter, verfetteter Hundesohn. Ihm gehörte diese Kaschemme, und hier ging alles ein und aus, was auch nur in entferntester Weise das Licht des Tages zu scheuen hatte. Schon als Hafenkommandant hatte de Escobedo eine enge Zusammenarbeit mit dem Kaschemmenwirt gepflegt, wie er es gern nannte. Für den Schutz vor polizeilichen Organen, der ihm von de Escobedo zugesichert und in vollem Umfang gewährleistet worden war, hatte Bastida sich in angemessener Weise erkenntlich gezeigt.

Das harte Wort Schmiergeld mochte de Escobedo in diesem Zusammenhang nicht gern anwenden.

Gonzalo Bastida hatte sich jedoch immer auf ihn verlassen können. Es war eine Zusammenarbeit gewesen, die in den sogenannten normalen Zeiten in Havanna stets hervorragend geklappt hatte. Bastida setzte in seinen Hinterzimmern Diebesgüter um. Die „Nebentätigkeit“ als Hehler brachte ihm wesentlich mehr ein als die Kaschemme.

Andererseits war es jedoch eben diese Schenke, die ihm zu den so wichtigen Kontakten verhalf. Im Laufe der Jahre hatte sich Bastida überdies zum Gebieter über eine bemerkenswerte „Truppe“ hochgearbeitet – Taschendiebe, Einbruchsspezialisten, Falschspieler, Schläger und Mörder.

Geradezu unvorstellbar weit waren die „Fachgebiete“ dieser schrägen Vögel, die entweder auf eigene Rechnung arbeiteten oder von Bastida gezielt eingesetzt wurden. Auf sein Kommando hörten sie so oder so.

Wer mit Gonzalo Bastida zusammenarbeitete, der wußte, daß er eine Zuverlässigkeit gepachtet hatte, die sich mit der Unerschütterlichkeit von Bastidas Leibesumfang vergleichen ließ. Buchstäblich nichts brachte diesen Mann aus dem Gleichgewicht. In der Unterwelt von Havanna war er eine Art ungekrönter König.

Bastida wandte sich bei der Tür um und blinzelte in das Halbdunkel. Mit einer ausladenden Handbewegung wies er in den Raum, in dem das Schnarchkonzert unvermindert anhielt.

„Sieh dir das an, Alonzo. Ist es nicht eindrucksvoll?“

De Escobedo zog die Brauen zusammen.

„Mich widert es eher an.“

„In genau dem Sinne meine ich es auch“, entgegnete Bastida und nickte. „Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie sich eine bestimmte Sorte Mensch an ungeschriebene Gesetze hält.“

„So?“ sagte de Escobedo ohne sonderliches Interesse. Manchmal ging ihm der Dicke damit auf die Nerven, wie er die Leute beobachtete und sie messerscharf durchschaute. Das Unangenehme war, daß Bastida eigentlich immer recht hatte mit dem, was er sagte. Er sprang mit seinen Leuten bisweilen um wie ein allgewaltiger Herrscher, und sie gehorchten ihm aufs Wort. Ohne Murren.

„Allerdings“, sagte Bastida bekräftigend. „Du kannst dir jeden einzelnen von diesen blöden Hurensöhnen herauspicken und wirst bei jedem das Gleiche feststellen. Sie könnten in Villen und Palästen übernachten, aber sie tun es nicht. Sie haben fast ganz Havanna auf den Kopf gestellt und könnten sich aufspielen wie die großen Sieger. Trotzdem ziehen sie sich in diese lächerliche, schäbige Kneipe zurück, als ob es der schönste Ort der Welt wäre. Verstehst du das?“

De Escobedo zog die Schultern hoch.

„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, sagte er brummend. „Das wird es sein.“

Bastida wedelte abwehrend mit der Hand.

„Irrtum, mein Lieber. Das ist es nicht. Die Menschheit teilt sich nach Rangordnungen auf. Es gibt geborene Gewinner und geborene Verlierer.“

Der frühere kommissarische Gouverneur grinste jetzt.

„Dann weiß ich, zu welcher Seite wir beide gehören, Gonzalo.“

„Das will ich meinen.“ Bastida kehrte mit schweren Schritten zur Theke zurück. Kühle Morgenluft breitete sich im Schankraum aus. Bastida lehnte sich mit dem Rücken an und schob die Ellenbogen auf die Theke. „Diese Leute wollen gelenkt werden, Alonzo. Denen würde es überhaupt nicht gefallen, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Die brauchen immer jemanden, der ihnen sagt was sie tun sollen, wo sie es tun sollen und wie sie es tun sollen.“

De Escobedo wischte mit der rechten Hand durch die Luft.

„Du brauchst mir nicht zu erzählen, wie man mit Befehlsempfängern umzugehen hat.“

Bastida lächelte kaum merklich.

Er wußte, daß de Escobedo für gewisse Erkenntnisse nicht über genügend geistige Beweglichkeit verfügte. In gewisser Hinsicht war er ein sturer Kerl. Aber das mußte man ihm nicht unbedingt vorwerfen, wenn man mit ihm zusammenarbeiten wollte.

„Du redest von deiner Zeit als Hafen- und Stadtkommandant?“ sagte der Kaschemmenwirt.

„Allerdings.“ De Escobedo warf stolz den Kopf in den Nacken.

„Dann laß dir gesagt sein, daß du es hier nicht mit Soldaten oder Gardisten zu tun hast, mein Freund. Dieses Lumpenpack will anders angepackt werden.“

„Was du nicht sagst“, entgegnete de Escobedo spöttisch. „Es wäre mir wahrscheinlich schwergefallen, das herauszufinden.“

Gonzalo Bastida antwortete nichts darauf. Er wandte sich ab und bedeutete de Escobedo mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Sie ließen sich auf den Stühlen im ersten Hinterzimmer nieder, von wo sie durch die offene Tür den Schankraum beobachten konnten.

Die Hausgehilfin des beleibten Kaschemmenwirts hatte ein opulentes Frühstück zusammengestellt. Vom gebratenen Schinken bis zu frischen Früchten fehlte es an nichts. Bastida hatte darauf geachtet, welche Sachen aus der umfangreichen Diebesbeute der vergangenen Nächte für ihn abgezweigt wurden.

Bei de Escobedo hatte er indessen den Eindruck, daß dieser in erster Linie Machtgelüste hegte.

Bastida kannte die Geschichte dieses Mannes von Anfang an, und es bereitete ihm nicht die geringste Anstrengung, ihn bis auf die Knochen zu durchschauen. Nachdem er erst Hafenkommandant, dann Stadtkommandant und schließlich kommissarischer Gouverneur von Kuba gewesen war, hatte sich de Escobedo nun endgültig auf die Seite des Verbrechens geschlagen.

Nur über die ersehnte Macht, das wußte de Escobedo, konnte er auch zu Reichtum gelangen. Bastida erinnerte sich sehr gut, wie er das Gouverneursamt auszunutzen versucht hatte, um sich einen gehörigen Teil an Nebeneinnahmen zu verschaffen.

Die wirklich großen Brocken waren de Escobedo jedoch verwehrt geblieben. Von Bestechungsgeldern und eigenmächtig erhobenen Zöllen wurde man nicht steinreich. Don Antonio de Quintanilla hatte auf diesem Gebiet wesentlich mehr erreicht, wobei Bastida den früheren Gouverneur jedoch auch für zehnmal gerissener hielt als de Escobedo.

Bastida hatte allerdings keine Ahnung von jenem ungeheuren Schatz, den de Quintanilla in den Höhlen von Batabanó versteckt hatte. Diesem Schatz trauerte de Escobedo noch immer nach. Um ein Haar wäre er in den Besitz dieses riesigen Schatzes gelangt.

Das Unrechtmäßige seines wie Don Antonios Tun hatte er bis heute nicht eingesehen. Eine Läuterung hatten bei de Escobedo weder das Scheitern der Schatzbergung noch die schlimmen Tage im Gefängnis von Havanna bewirkt.

Die Zeit, in der er noch Recht und Ordnung vertreten hatte – oder wenigstens glaubte, dies zu tun –, gehörte endgültig der Vergangenheit an. Jene wenigen guten Eigenschaften, die de Escobedo überhaupt jemals gehabt hatte, waren begraben unter einer Lawine von Haß und Rachgier.

Generalkapitän de Campos schied als Zielfigur für diese Gelüste aus. Ihn hatte die gerechte Strafe bereits getroffen, obwohl es de Escobedo lieber gewesen wäre, sich wegen seiner Inhaftierung persönlich an dem verfluchten Kerl zu rächen.

El Lobo del Mar, der berüchtigte Seewolf, gehörte ebenso zu denen, die ihm den großen Reichtum verwehrt hatten, wie Capitán de Mello. Letzterer war vor lauter Ehrenhaftigkeit vermutlich imstande, der spanischen Krone seinen Sold zurückzuzahlen. Warum auch nicht? Offiziere dieses Schlages, so fand de Escobedo, sollten eigentlich ihre Uneigennützigkeit auch in dieser Beziehung unter Beweis stellen.

Im Vordergrund stand aber nicht die Rache.

Nummer eins aller Überlegungen war für Alonzo de Escobedo die Macht über Havanna. Die Gelegenheit war günstiger als je zuvor. Natürlich war der Plan des Gouverneur-Sekretärs Corda von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen – so dankenswert sein Verhalten auch gewesen war. Cámpora, dieser halsstarrige Hundesohn, hatte alles vereitelt – hätte es so oder so vereitelt.

 

Nichtsdestoweniger verdankte er, de Escobedo, seine Freiheit dem Sekretär. Er beschloß, das in seine Überlegungen einzubeziehen.

Nachdem er vor dem Gefängnistor mit knapper Not entwischt war, hatte er sich auf Umwegen zu Bastidas Kaschemme durchgeschlagen. Inzwischen hatte er die verwinkelte Behausung des Wirts zu seinem Hauptquartier erklärt. Seine ersten taktischen Überlegungen hatte er hier angestellt, und erfolgreich waren nach seinen Plänen die Aktionen gegen die Ordnungskräfte der Stadt durchgeführt worden.

Als erster Erfolg war bereits der Rückzug der Bürger zu werten gewesen. Die ständigen Übergriffe und Plünderungen hatten sie so sehr entnervt, daß sie nicht einmal einen Ansatz von Gegenwehr zustande gebracht hatten. Die wenigen, die aktiven Widerstand geleistet hatten, fielen für de Escobedo und Bastida nicht ins Gewicht. Das Gros der Pfeffersäcke und ihresgleichen hockte jetzt jedenfalls oben in der Residenz und zitterte vor Angst.

Dazu hatte auch die systematische Zermürbungstaktik beigetragen. Eine Patrouille nach der anderen war entweder vollständig aufgerieben oder so weit dezimiert worden, daß die wenigen Überlebenden nur noch ihr Heil in der Flucht gesucht hatten. Zwar war das Pack aus dem Hafengebiet alles andere als eine disziplinierte Truppe. Aber die Gier nach Beute und der Haß auf das reiche Bürgertum glichen dieses Manko aus.

Gemeinsam hatten de Escobedo und Bastida beschlossen, die Stadt Havanna aus den Angeln zu heben.

Den Gedanken hatte de Escobedo entwickelt, nachdem er von Corda erfahren hatte, daß de Campos nicht mehr lebte. Damit herrschte ein führungsloser Zustand in Havanna. Denn die Amtsübernahme Marcelos hatte man beileibe nicht als eine Behebung dieses Zustands betrachten können.

Marcelo als kommissarischer Gouverneur war in de Escobedos Augen nichts weiter als eine Witzfigur gewesen. Bis auf einen lichten Moment hatte der versoffene Hurenbock denn auch nichts zuwege gebracht. Das Ergebnis hatte er jetzt, da er schwerverwundet darniederlag. Die Führungslosigkeit in der Stadt hatte weiter Bestand.

Die beiden Ordnungsgewalten Miliz und Stadtgarde waren – zumindest im Stadtgebiet – zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Mittlerweile hatten sie sich zurückgezogen und bei den Bürgern in der Residenz verschanzt. Feige Hundesöhne in de Escobedos Augen.

Er dachte an seine Zeit als Stadtkommandant zurück. Aus jener Zeit rührte seine Einschätzung der Ordnungskräfte. Für hartes und erbarmungsloses Durchgreifen fehlte Soldaten und Gardisten die rechte innere Einstellung. Befehlsempfänger waren sie eben, nichts weiter.

De Escobedo beendete sein Frühstück als erster. Er lehnte sich zurück und beobachtete sein Gegenüber eine Weile. Der Fette ließ sich nicht stören. Er schaufelte abwechselnd gebratenen Schinken, frischen Ziegenkäse und Weintrauben in sich hinein. Dazu schlürfte er innerhalb weniger Minuten drei rohe Eier, nachdem er sie mit Rotwein und Zucker verrührt hatte.

De Escobedo verspürte den Drang, sich zu schütteln, ließ sich aber nichts anmerken.

„Wir haben Erfolg über Erfolg errungen“, sagte er schließlich. „Aber wir sind noch nicht am Ziel. Die Frage ist jetzt, wen oder was nehmen wir uns als nächstes vor?“

Bastida betupfte seine Lippen mit einem blütenweißen Tuch und warf es achtlos auf den Tisch. Er schob sich das Mundstück einer Tonpfeife zwischen die Zähne und setzte den bereits gestopften Tabak in Brand. Der Rauch hatte einen süßlichen Duft. Einen Moment schob Bastida nachdenklich das Kinn vor.

„Was ist mit den beiden Forts am Hafeneingang?“ sagte er dann. „Können die uns noch Ärger bereiten?“

De Escobedo schüttelte entschieden den Kopf.

„Überhaupt nicht. Beide Forts sind hoffnungslos unterbesetzt. Vergiß nicht: Dreiviertel der Fortbesatzungen wurden bei Beginn der Unruhen an Miliz und Stadtgarde abgegeben.“

„Militärische Einzelheiten habe ich mir noch nie merken können“, sagte Bastida mit wegwerfendem Brummen. „Du meinst also nicht, daß sich die Leute in der Residenz aus den Forts Verstärkung holen?“

„Höchst unwahrscheinlich“, entgegnete de Escobedo mit der wissend-herablassenden Miene des Fachmannes, der mit einem ahnungslosen Laien spricht.

„Wenn die Forts unterbesetzt sind“, sagte Bastida nach kurzem Nachdenken, „würden sie uns dann nicht wie reife Äpfel in den Schoß fallen? Ich meine, wir könnten dort mühelos Beute machen.“

„Was denn für Beute?“ entgegnete de Escobedo. „Da gibt es nichts zu holen, außer Waffen. Und die haben wir in Hülle und Fülle – dank der von mir geplanten Aktion gegen das Arsenal.“

„Gib nicht so an“, sagte Bastida grinsend. „Wenn ich dir nicht meine besten Leute herausgesucht hätte, wäre die Sache sehr wahrscheinlich schiefgegangen.“

„Gut, gut“, sagte de Escobedo. „Ich weiß, daß es eine Glanzleistung war. Das habe ich nie bestritten. Oder?“

Der Fette winkte ab.

„Halten wir uns nicht an der Vergangenheit fest. Wir müssen uns einig werden, was jetzt das Naheliegende für uns ist. Die Residenz, meine ich.“

De Escobedo wiegte den Kopf.

„Da ist noch diese deutsche Handelsfaktorei. Dieser Arne von Manteuffel. Er ist der einzige im Hafengebiet, der noch Widerstand leistet. Dieser Señor von Manteuffel ist ein unglaublich harter Kämpfer, das hat er wieder einmal bewiesen. Und seine Leute auch.“

„Meine Leute sind auch harte Kämpfer“, sagte Bastida unwillig.

„Aber beim letzten Angriff auf die Faktorei haben sie sich blutige Nasen geholt“, sagte de Escobedo hämisch. „Oder etwa nicht?“

Der Fette nahm mit einem Ruck die Tonpfeife aus dem Mund.

„Gib mir noch eine Nacht, Alonzo. Dann setze ich die richtigen Burschen auf diesen deutschen Hundesohn. Und ich schwöre dir, wir werden ihn aus dem Bau herausholen. Und seinen Reichtum an Gold und Silber.“

De Escobedo benagte seine Unterlippe.

„Wir würden zu viele Verluste haben, Gonzalo. Man müßte überlegen, ob man den Kerl nicht am besten doch ausräuchert.“

„Nein“, sagte Bastida energisch und klemmte sich das Pfeifenmundstück wieder zwischen die Zähne. „Wir haben uns darauf geeinigt, grundsätzlich kein Feuer legen zu lassen. Bislang hat das gut geklappt. Ich sehe nicht ein, daß wir diesen Grundsatz auf einmal über den Haufen werfen.“

De Escobedo nickte. Es war nicht einfach gewesen, bei der wilden Meute durchzusetzen, daß nicht gezündelt werden durfte. Die einfältigen Gemüter hatten eben ihre größte Freude daran, ein Bürgerhaus in Flammen aufgehen zu sehen. Bastida und de Escobedo hatten den Kerlen aber nachdrücklich erklärt, daß man sich durch Feuer in den eigenen Finger schnitt. Man wollte schließlich Beute und keine Aschenreste. Das hatten sie begriffen. Es geschah also nicht aus Menschenfreundlichkeit oder Erbarmen mit den Pfeffersäcken, wenn man die Häuser vom roten Hahn verschonte.

„Also gut“, sagte de Escobedo, der bei allem nur das eine Ziel vor Augen sah – nämlich als selbsternannter Gouverneur über Havanna und Kuba herrschen zu können. Voraussetzung waren einfach Tatsachen, die man schaffen mußte. „Dann nehmen wir uns also die Residenz vor.“

Bastida nickte.

„Sehr vernünftig. Aber das schaffen wir nicht mit den Leuten, die wir jetzt haben.“

De Escobedo zog die Stirn kraus.

„Wir brauchen Verstärkung, das ist richtig.“ Er grinste breit. „Aber woher nehmen und nicht stehlen?“

Bastida gab schmatzende Sauggeräusche von sich. Er stellte fest, daß der Tabak abgebrannt war, und legte die Pfeife auf den Tisch.

„Was uns fehlt, ist so eine Art Bestandsaufnahme. Wir wissen überhaupt nicht genau, wie viele Leute wir eigentlich haben. Das beste wäre, ich lasse alle zusammentrommeln, die sich als Kämpfer geeignet fühlen.“

De Escobedo stieß verächtlich die Luft durch die Nase.

„Wie lange soll denn so etwas dauern! Zwei Tage, drei Tage? Nein, mein Lieber, deine Halunken in allen Ehren, aber …“ Er unterbrach sich und sah sein Gegenüber minutenlang starr an. Plötzlich erhellte sich seine Miene. „Jetzt weiß ich es! Verdammt, ich weiß, woher wir unsere Verstärkung kriegen!“

„So?“ entgegnete Bastida zweifelnd. „Da bin ich mal gespannt.“

„Aus dem Gefängnis!“ rief de Escobedo, und es hörte sich regelrecht begeistert an. „Da sitzen die richtigen Kerle, die wir jetzt brauchen. Mit denen werden wir noch schlagkräftiger. Die fürchten weder Tod noch Teufel!“

Bastida winkte geringschätzig ab.

„Ein disziplinloser Haufen, sage ich dir. Noch disziplinloser als meine Leute. Ich prophezeie dir, mit denen wirst du Schiffbruch erleiden.“

De Escobedos Haltung versteifte sich.

„Das kann ich besser beurteilen als du. Schließlich hatte ich das Vergnügen, in dem Rattenloch einsitzen zu dürfen. Du vergißt einen entscheidenden Punkt, Gonzalo. Was ist stärker – Disziplinlosigkeit oder die Aussicht auf Freiheit?“

„Wahrscheinlich letzteres“, gab Bastida zu.

„Siehst du“, sagte de Escobedo triumphierend. „Und da sie nichts zu verlieren haben, werden die Kerle draufhauen, daß die Wände wackeln.“

„In Ordnung, meinetwegen. Aber dazu müssen wir sie erstmal aus dem Gefängnis holen. Wie willst du das anstellen?“

„Zu was habe ich deine harten Kämpfer?“ entgegnete de Escobedo grinsend. „Und wenn wir die Residenz erst einmal gestürmt haben, wird uns die Faktorei von Manteuffels wie ein reifer Apfel in den Schoß fallen.“

4.

In seine zerlumpte Verkleidung gehüllt, kehrte Jussuf an diesem Vormittag des 9. Juli 1595 in die Faktorei zurück. Er benutzte dazu den Hintereingang in einem Moment, in dem sich in der Seitengasse keine Menschenseele aufhielt. Überhaupt waren die Gassen und Straßen erstaunlich ruhig.

Bevor er ins Haus ging, stattete er seinen Brieftauben einen Besuch ab und vergewisserte sich, daß es seinen „Kinderchen“ an nichts mangelte – weder an Futter, Wasser oder Zufriedenheit. Gerade der letztere Umstand, das wußte er, war besonders wichtig für die Einsatzbereitschaft seiner gefiederten Nachrichtenübermittler.

Traurige oder verstörte Täubchen waren absolut ungeeignet für wichtige Aufgaben. Seine schnellen Lieblinge, das hatte Jussuf in jahrelanger aufopfernder Betreuung festgestellt, brauchten so etwas wie ein unumstößliches inneres Gleichgewicht. Sie durften keine Futtersorgen haben und auch keinerlei anderen Kummer. Sie mußten nur ihren Partner im Sinn haben, der im Schlag an der Cherokee-Bucht auf sie wartete.

Aischa, die liebe Kleine, war vor drei Stunden an diesem Morgen losgeflogen, mit der Nachricht Arnes an den Seewolf im Federkielröhrchen. An der Cherokee-Bucht würde Mustafa, ihr Auserwählter, sehr bald in Verzückung geraten. Dann nämlich, wenn sie nach dem Flug von Havanna in den Schlag im Stützpunkt einfiel.

Arne von Manteuffel las bereits im Gesicht des türkischen Taubenvaters, daß sein rascher Erkundungsgang durch die nähere Umgebung der Faktorei niederschmetternd gewesen sein mußte.

Arne und Jörgen Bruhn hielten sich im Kontor auf. Sie hatten alle kaufmännischen Unterlagen zusammengetragen, die vernichtet werden mußten, falls der Pöbel die Oberhand gewinnen sollte. In der Küche war Isabella Fuentes mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt.

„Draußen ist es sehr ruhig geworden“, sagte Arne, noch in einen Folianten vertieft. „Die Ruhe vor dem Sturm, Jussuf?“ Dann hob er den Kopf und stutzte. „Was ist geschehen?“

Auch Jörgen Bruhn bemerkte den düsteren Gesichtsausdruck des Türken sofort.

„Irgend etwas stimmt mit dir nicht, Jussuf“, sagte er trocken. „Was, zum Teufel, hast du gesehen?“

Jussuf zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken.

„Könnt ihr euch das nicht vorstellen?“ murmelte er finster. „Ich habe die Hölle gesehen – oder besser, das, was die Hölle übriggelassen hat.“ Seine Stimme versagte. Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren.

Arnes Blick wurde starr.

„Die Familie Herrera?“ flüsterte er tonlos.

Jussuf nickte. Seine Lippen waren zusammengepreßt und schmal wie ein Strich.

„Sie sind alle tot“, sagte er mit bebender Stimme. „Alle! Señora Herrera, die Hausgehilfinnen, die Kinder! Ja, auch die Kinder! Nicht einmal sie hat die Mörderbrut verschont. Und Señor Herrera hat offenbar versucht, sie noch mit seinem eigenen Körper zu schützen. Es hat nichts genutzt.“ Tränen standen in den Augen des Türken, als seine Stimme erneut erstickte.

 

Minutenlang herrschte völlige Stille im Kontor der Faktorei.

„Felipe Herrera war ein tapferer Mann“, sagte Arne von Manteuffel dumpf. „Die Bürgerschaft dieser Stadt ist mitschuldig an seinem und seiner Familie Tod. Wenn man seine Vorschläge angehört hätte, wäre es wahrscheinlich zu einem gut organisierten Widerstand gegen den Pöbel gekommen.“

„Du hast davon berichtet“, murmelte Jörgen Bruhn. „In dieser famosen Besprechung hielten sie es für angebracht, einen Adligen als Versammlungsleiter zu wählen. Herrera war ihnen nicht gut genug.“

„Dabei war er der tapferste von allen“, fügte Jussuf hinzu.

„Es gab ein paar andere“, sagte Arne und blickte den Türken fragend an. „Regt sich nirgendwo mehr etwas?“

Jussuf schüttelte den Kopf.

„Sie sind alle tot. Alle. Herrera war für mich der schlimmste Anblick. Weil ich ihn kannte, und weil ich mir vorstellen kann, wie er sich selbst im Augenblick des Todes noch vor die Menschen gestellt hat, die ihm etwas bedeuteten.“

Wieder wurde es still im Kontor des Handelshauses von Manteuffel, das in Wahrheit alles andere war, nur eben kein Handelshaus. Die geschäftlichen Tätigkeiten, die Jörgen Bruhn in seinen Folianten aufzeichnete, waren nur fingiert. Deshalb hatten Arne und Jörgen begonnen, die Vernichtung aller gefälschten Geschäftsunterlagen vorzubereiten. Wenn man gezwungen sein sollte, die Faktorei aufzugeben, dann durfte dennoch nicht ans Licht dringen, was sich hier wirklich abgespielt hatte.

Die Brieftauben waren ein wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit des vermeintlichen deutschen Handelsherrn von Manteuffel und seiner Mitarbeiter. Jussufs gefiederten Lieblinge hatten stets zuverlässig jene Nachrichten übermittelt, die Arne und seine Freunde für den Bund der Korsaren ausgekundschaftet hatten.

Jetzt, wenn die Faktorei in Gefahr war, mußte Jussuf auch an seine Tauben denken. Würde man Zeit haben, sie fortzuschaffen, ohne daß ihnen etwas geschah? Oder sollte man sie einfach aufsteigen lassen, in der Hoffnung, daß sie allesamt zur Cherokee-Insel fliegen würden?

Zweifellos würde das letztere die beste Lösung sein, und alle Tauben würden auch zu ihren Partnern in den Schlag finden. Dennoch konnten sich Arne und Jörgen vorstellen, welche Gedanken Jussuf angesichts des zerstörten Handelshauses der Compañia Herrera y Castillo durch den Kopf gegangen waren.

„Wir sind also die letzten Überlebenden“, sagte Arne nach einer Weile. „Der Angriff in der vergangenen Nacht hatte wahrscheinlich den Zweck, auch uns den Rest zu geben. Wir müssen uns vor Augen halten, daß wir für die Horden von jetzt an ein Dorn im Auge sind. Ihre Angriffe werden noch heftiger werden.“

„Zur Zeit ist es erstaunlich ruhig“, sagte Jussuf. „In den vergangenen Tagen, als der Pöbel schon mehr und mehr die Oberhand gewonnen hatte, war auch tagsüber immer irgendwo ein Geplänkel im Gange. Jetzt aber rührte sich nichts. Ich habe den Eindruck, als ob sie sich auf etwas Besonderes vorbereiten. Als ob sie zum großen Schlag ausholen.“

Arne rieb sich das Kinn.

„Du könntest recht haben, Jussuf. Ja, es liegt auf der Hand. Die Stadt und den Hafen haben sie praktisch vereinnahmt. Was ihnen noch fehlt, sind in erster Linie die beiden Forts und die Residenz. Die Forts sind uninteressant, weil es da wenig Beute zu holen gibt. Aber die Residenz! Das ist der Punkt.“

„Da finden sie den versammelten Reichtum“, sagte Jörgen Bruhn und nickte. „Nicht nur die Wertgegenstände im Palast, sondern auch die Sachen, die die Bürger bei sich haben.“

„Vor allem die Señoras“, sagte Jussuf.

„Wie dem auch sei“, sagte Arne, „es mag traurig klingen, aber ein Angriff auf die Residenz könnte uns einen unverhofften Aufschub geben.“

Er brauchte nicht auszusprechen, was er damit meinte. Den Freunden war es klar. An diesem Nachmittag würde die Brieftaube Aischa die Cherokee-Bucht erreichen. Es gab keinen Zweifel für Arne und seine Freunde, daß Hasard und die anderen sofort etwas unternehmen würden, um ihnen in Havanna zu helfen.

Drei Tage konnten darüber vergehen.

Über das, was sich beim Bund der Korsaren in der Cherokee-Bucht abspielte, konnten die Männer in der Faktorei nur Mutmaßungen anstellen. Fest stand aber, daß Hasard keinesfalls seinen „Mann in Havanna“ aufgeben würde. Diese Einrichtung, die ein exaktes Ausspähen aller spanischen Schiffsbewegungen ermöglichte, war für den Bund im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Man würde also alles tun, um den als Faktorei getarnten Erkundungsposten beizubehalten.

Arne und seine Freunde ahnten nicht, wie schlagkräftig die Unterstützung sein würde, die innerhalb weniger Stunden ankerauf gehen und Kurs auf Havanna nehmen würde. Sie wußten auch nicht, daß Old Donegal Daniel O’Flynn und seine Mannen von der „Empress of Sea“ vorübergehend verschollen waren, so daß Hasard eine Suchaktion mit der Hilfeleistung für Havanna verbinden würde.

Noch am Nachmittag dieses 9. Juli sollten in der Cherokee-Bucht die „Isabella“, die „Le Griffon II.“ und die „Golden Hen“ in See gehen. Und sie sollten auf die „Empress“ stoßen, die sich ihnen mit Kurs auf Havanna anschließen würde.

Es waren dreißig harte Burschen, mit denen Alonzo de Escobedo am frühen Nachmittag loszog. Er hatte sie ausgesucht, nachdem Bastida nicht mehr als vierzig Männer auf die Beine gebracht hatte. Zehn von den Figuren hatte de Escobedo ausgesondert, weil sie schon am Morgen eine Schnapsfahne gehabt hatten, die beileibe nicht von der vergangenen Nacht herrührte.

Waffen und Munition führte de Escobedos kleine Truppe am Mann und auf Handkarren mit. Er wußte, daß das Gefängnis eine harte Nuß werden würde. Schließlich kannte er es gut genug, wenn auch mehr von innen.

Der Gebäudekomplex lag etwa auf halber Entfernung zwischen Hafen und Residenz mitten im Stadtgebiet. Wie es dem Zweck eines Gefängnisses entsprach, war es festungsartig ausgebaut und weder von innen noch von außen so ohne weiteres zu überwinden. Ein massiver Steinbau, mauerumwehrt und mit wuchtigen Türen und Toren versehen.

Als de Escobedo seiner Truppe auf der Straße vor dem Gefängnis das Kommando „Halt“ gab, erschauerte er unwillkürlich.

Unter dem wolkenverhangenen Himmel von Havanna wirkte das Gefängnis düsterer und bedrohlicher, als er gedacht hatte. Ja, für einen Moment zweifelte er, ob er es sich überhaupt richtig überlegt hatte, als er beschloß, diese Festung anzugreifen. Aber er konnte nicht mehr zurück. Vor seinen eigenen Leuten und vor einem Heer von Schaulustigen hätte er das Gesicht verloren.

Überall in den nahen Gasseneinmündungen drängten sich die Galgenvögel und die Hafendirnen, die sich der de-Escobedo-Mannschaft auf dem Marsch zum Gefängnis angeschlossen hatten. Sie wollten etwas sehen und würden in Verzückung geraten, wenn der Bau gestürmt wurde. Wahrscheinlich würden sie sich aber auch verziehen, sobald die ersten Kugeln durch die Luft flogen.

De Escobedo versuchte, sich einen gedanklichen Überblick zu verschaffen und seine Chancen auszurechnen. Wenn er die stoppelbärtigen und verwüsteten Visagen hinter sich sah, hatte er nicht gerade das beste Gefühl, zumal er wußte, daß sie Flaschen mit Schnaps und Wein auf die Handkarren verladen hatten.

Es hätte keinen Sinn gehabt, das zu verhindern. Sie hatten überall und jederzeit Gelegenheit, sich Alkohol zu verschaffen. Das Problem war nur aus der Welt zu schaffen, indem man blitzschnell aufeinanderfolgende Einsätze befahl. Dann hatten sie keine Zeit, zu den Flaschen zu greifen.

Davor stand aber diese Festung, die ein Gefängnis war.

Natürlich hatten alle hochgelegenen Außenfenster massive Gitter. Keiner der Gefangenen hatte jemals ein solches Gitter beseitigen und ausbrechen können – bis auf die holländische Mannschaft von der „Zeehond“ vor fast einem Jahr. Aber darauf waren die Gitter verstärkt worden. Ebenso brauchte man sich auch gar nicht erst mit dem Gedanken zu befassen, durch ein Fenster in den Bau vorzudringen.