Seewölfe Paket 26

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8.

Als sie wieder an Bord der „Empress“ aufenterten, sah Old O’Flynn ihnen neugierig entgegen.

„Euren Gesichtern sehe ich an, daß die Kerle hier sind.“

„Stimmt genau“, sagte Carberry. „Hasard und Philip haben das Floß entdeckt. Es liegt gut versteckt auf der Ostseite zwischen dichtem Gestrüpp.“

„Und die Kerle – habt ihr die auch gesehen?“

„Keine Spur von ihnen.“

Old O’Flynn kratzte mit der Hand über seine Bartstoppeln.

„Jedenfalls sind sie hier. Ich habe mir schon überlegt, ob wir uns nicht ein weiteres Späßchen mit den Halunken erlauben sollen. Aber das fiel mir leider erst ein, als ihr schon unterwegs wart.“

„Und was sollte das für ein Späßchen sein?“ wollte der Profos wissen.

„Ich hatte vor, ihnen das Floß zu klauen und es entweder zu zerstören oder einfach abtreiben zu lassen. Die Idee war nicht schlecht, denn dann hätten sich die Halunken schwarz geärgert. Aber der Kutscher riet mir dringend davon ab.“

„Dann hatte er sicher gute Gründe“, meinte Carberry.

„Ich hatte starke Bedenken“, erklärte der Kutscher. „Um das Floß zu klauen, hättet ihr an Land gehen müssen, und auf eine solche Gelegenheit warten die Kerle doch nur. Entweder hätten sie euch überfallen oder irgendwo aus dem Hintergrund mit Musketen beschossen. Daher erschien mir das zu riskant.“

„War es auch. Die Möglichkeit bestand immerhin. Ich an ihrer Stelle hätte das Floß sogar als Köder angeboten, aber dazu sind sie wohl zu dämlich, oder sie denken nicht soweit.“

„Was tun wir jetzt?“ fragte Nils. „Sie weiterhin zappeln lassen – oder sollen wir landen, um den Kerlen ordentlich den Marsch zu blasen? Dazu müßten wir allerdings wissen, an welcher Stelle sie sich aufhalten.“

Old O’Flynn war gar nicht dafür.

„Das gefällt mir nicht. Wenn wir landen, sind die Kerle einwandfrei im Vorteil. Wir haben ja schon selbst erlebt, was passiert, wenn man sich auf Musketenschußweite dem Ufer nähert. Da ist immer derjenige im Vorteil der an Land ist und gute Deckung hat. Nein, nein, das lehne ich ab.“

„Dann lassen wir sie eben zappeln“, schlug Carberry vor.

Auch das schien Old O’Flynn nicht so recht zu behagen. Er wollte Taten vollbringen, und nicht faul herumhocken. Die sechs Kerle gingen ihm auf den Geist, wie er versicherte.

„Wir trinken erst mal einen Schluck“, schlug er vor. „Bei einem guten Tropfen kann man alles besser besprechen, und dann fällt mir sicher noch etwas ein.“

Also wurde wieder die obligatorische Rumbuddel geholt und einer „verlötet“, wie Old Donegal das gern ausdrückte.

Der Rum schien ihn tatsächlich zu beflügeln. Er hockte auf der Gräting, wischte sich mit der Hand über den Mund und grinste.

Wenn er auf diese Art grinst, dachte Carberry, dann sieht er immer wie ein isländischer Troll aus, der etwas ausheckt, um anderen einen üblen Streich zu spielen.

„Du scheinst tatsächlich schon eine Idee zu haben“, meinte der Kutscher, „sonst würdest du nicht so grinsen.“

„Die Idee ist erst halbfertig, die muß noch einmal begossen werden, damit sie ausreifen kann.“

Old O’Flynn nahm den zweiten Schluck und pochte mit seinem Holzbein auf die Planken.

„Ich hab’s!“ rief er aus. „Wir werden den Kerlen einen lustigen Streich spielen. Ich bin sicher, daß sie darüber sehr verärgert sein werden.“

„Aber nicht die Idee mit dem Floß“, bat der Kutscher. „Die haben wir mittlerweise schon vergessen.“

„Ich auch, die ist begraben.“

„Und was hast du vor?“

Wieder erschien das schon fast diabolische Grinsen, das sich noch vertiefte.

„Wir hauen einfach ab.“

„Und wohin?“ fragte Carberry entgeistert.

„Wir segeln zu der ersten Insel zurück, wo die ‚Viento Este‘ aufgebrummt ist, von der wir das Gold geborgen haben.“

Die anderen sahen Old Donegal zunächst noch verständnislos an. Selbst der Kutscher runzelte fragend die Stirn.

„Schön und gut“, sagte er schließlich. „Aber was tun wir auf der anderen Insel – Däumchen drehen?“

„Arbeiten“, sagte Old O’Flynn geheimnisvoll. „Natürlich tun wir nur so, als würden wir arbeiten.“

Carberry sah den Alten von der Seite her an. Dann räusperte er sich.

„Seit wann wirken denn zwei Schlucke so stark auf dich?“ fragte er anzüglich. „Mehr hattest du doch nicht. Und den Scheiß nennst du eine Idee?“

„Laß mich doch ausreden, du Tranfisch. Wir nehmen ein paar leere Kisten mit, Schaufeln und Spaten und graben im Sand. Die Kerle werden das beobachten und genau wissen, wonach wir graben. Nämlich nach den Goldbarren, die wir versteckt haben.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann verstand jeder die Gedankengänge des Old O’Flynn.

Carberry schlug ihm grinsend auf die Schulter. Der Kutscher war ebenfalls am Grinsen.

„Das wird sie sicher sehr grämen“, meinte er. „Das wird sie aber auch gleichzeitig aktiv werden lassen und zwingen, etwas zu unternehmen, einen Angriff nämlich.“

„Das hast du sehr richtig erkannt“, lobte Old O’Flynn. „Erst werden sie sich schwarz und grün ärgern, dann werden ihnen sämtliche Gäule durchgehen, und dann greifen sie nachts unüberlegt an, weil sie sonst von dem vermeintlichen Gold nie wieder etwas zu sehen kriegen. Aber wir werden mit der Karavelle auf sie lauern und ihnen entgegensegeln, sobald sie diese Insel verlassen. Dann gibt’s Zunder, und wir haben die Kerle endgültig vom Hals.“

„Dann verholen wir doch am besten gleich“, schlug der Profos vor. „In einer Stunde können wir auf der anderen Insel sein.“

„Das tun wir auch“, versicherte Old O’Flynn. „Holt den Anker ein und setzt die Segel. Ich möchte zu gern die Gesichter der Kerle sehen, wenn sie uns beim Buddeln beobachten. Und wenn sie dann noch erfahren würden, daß das Gold doch auf dieser Insel und alles andere nur eine Finte ist, dann möchte ich die Visagen noch lieber sehen.“

Sie verloren keine Zeit mehr. Sie wußten, daß sie beobachtet wurden, holten den Anker ein und setzten die Segel.

„Na denn, Amigos“, sagte Old O’Flynn händereibend, „jetzt könnt ihr mal die Klüsen aufreißen.“

Die „Empress“ nahm Kurs auf die Insel, wo die „Viento Este“ aufgelaufen war. Die Insel lag nördlich vor der jetzigen. Die Kerle konnten also die südliche Westküste gut beobachten.

Eine knappe Stunde später lag die „Empress“ an der gewünschten Stelle und ging vor Anker. Die Segel wurden weggenommen.

„Jetzt holen wir leere Kisten aus dem Laderaum und ein paar Schaufeln“, sagte Old O’Flynn. „Und dann buddeln wir den Strand ein bißchen um. Dort vorn, zwischen den Palmen, ist ein guter Platz. Die Kerle werden nicht feststellen können, ob wir wirklich Gold in die Kisten laden.“

Gleich darauf waren sie eifrig bei der Sache. Ein paar leere Kisten wurden in die Jolle geladen, ebenso ein paar Schaufeln.

Dann pullten sie zum Strand hinüber und taten sehr geheimnisvoll.

Zwischen den Palmen wurde emsig gebuddelt. Der Profos bückte sich grinsend, hob einen Stein aus dem Sand und legte ihn neben die leere Kiste.

Von weitem mußte das eine Menge Eindruck schinden.

Die anderen gruben auch eifrig den Sand um und verschreckten ein paar Krabben, die sich dort eingebuddelt hatten und nun verstört zum Wasser dwarsteten.

„Wahrhaftig, ein toller Spaß“, sagte Carberry.

Immer eifriger bückten sie sich. Dann waren die ersten Kisten „voll“ und wurden von jeweils zwei Mann zur Jolle transportiert, wobei die Kerle so taten, als hätten sie schwer zu schleppen.

Der erste Pendelverkehr zwischen „Empress“ und Strand begann. Auf der Karavelle wurden die leeren Kisten übernommen, nach unten in den Laderaum geschafft und ebenso leer wieder nach oben gereicht. Die Jolle pullte wieder zurück.

Old O’Flynn hatte ein Dauergrinsen im Gesicht und geizte nicht mit der Rumbuddel. Bei jeder Fahrt gab es einen kleinen Schluck.

Prado und seinen fünf Kerlen war es entgangen, daß ein Boot die Insel gerundet hatte. Sie hatten sich etwas weiter ins Innere zurückgezogen, um dem krakeelenden Papagei zu entwischen, der ihren Standort verraten konnte.

Erst viel später kehrten sie wieder an den Ausgangspunkt ihrer Beobachtung zurück.

Da sahen sie, wie auf dem Dreimaster gerade der Anker gehievt und die Segel gesetzt wurden.

Prado schluckte hart, als er sah, daß die Karavelle Kurs auf die südliche Westküste der nördlich gelegenen Insel nahm.

„Was hat das denn zu bedeuten?“ fragte er verblüfft. „Die Kerle hauen einfach ab und kümmern sich nicht um das Gold? In meinen Schädel geht das jedenfalls nicht hinein.“

Er sah in fünf verblüffte und verdatterte Gesichter. Keiner konnte sich einen Reim auf den plötzlichen „Umzug“ bilden.

Sie starrten dem Schiffchen nach, bis es auf der anderen Insel erneut vor Anker ging.

Prado sah alles deutlich durch den Kieker. Erstaunt registrierte er, daß drüben Kisten und Schaufeln ausgeladen und in die Jolle verfrachtet wurden. Ein paar Kerle pullten zum Strand hinüber und begannen gleich darauf eifrig im Sand zu buddeln.

Erst da ging Prado und seinen Kerlen das Licht der Erkenntnis auf. Sie gewannen eine völlig neue „Einsicht“.

„Verflucht!“ brüllte Prado. „Die graben da drüben unser Gold aus und verladen es auf die Karavelle. Das darf nicht wahr sein!“

Er stöhnte laut auf und gab den Kieker an seine Kerle weiter, die alle reihum hindurchstarrten.

„Was heißt das?“ fragte Normando verständnislos. „Wieso buddeln die da drüben nach dem Gold, wenn es doch auf dieser Insel vergraben liegt?“

 

Ein wüster Fluch war zuerst die Antwort. Dann schlug sich Prado mit der Hand klatschend an die Stirn.

„Scheiß, verdammter!“ schrie er außer sich vor Wut und Enttäuschung. „Wir hocken auf der falschen Insel, wir Idioten. Natürlich – die Kerle werden ja auch nicht so dämlich sein und das Gold erst zu dieser Insel bringen. Sie haben das Gold genau da vergraben, wo die ‚Viento Este‘ aufgebrummt ist, und jetzt holen sie es. O du lieber Himmel, was sind wir doch für Idioten!“

„Die Einsicht kommt reichlich spät“, sagte Morro kalt. „Acosta hätte ich das ja zugetraut, aber dir nicht. Jetzt liegt das Gold für uns auf dem Mond.“

Prado steckte den Vorwurf zähneknirschend ein.

„Ihr anderen hättet ja auch mal nachdenken können“, sagte er. „Aber diese Bastarde haben sich immer so benommen, als würden die Goldbarren auf dieser Insel liegen.“

Jetzt ging auch dem Dämlichsten von ihnen ein Licht auf. Ein paar jaulten ihre Enttäuschung hinaus. Einer warf sich in den Sand und trommelte mit den Fäusten so lange darin herum, bis er das Zeug zwischen den Zähnen hatte und es wütend und knirschend ausspie.

„Wir sind allesamt Blödmänner“, sagte Morro in vortrefflicher Selbsterkenntnis. „Das hätten wir uns denken können.“

Er riß Santos das Spektiv aus der Hand. Dann stieß er einen grimmigen Fluch aus.

„Die ersten drei Kisten voller Gold werden gerade zur Jolle geschleppt“, jaulte er. „Jetzt pullen diese Bastarde hinüber und laden es aus. Der Alte hat eine Buddel in der Hand und gibt einen aus. Klar, die saufen jetzt einen vor Freude. Und was tun wir? Wir haben nicht mal mehr was zum Saufen, und das Gold können wir nur aus der Ferne betrachten.“

So fluchten, brüllten und schrien sie sich vor Wut die Kehlen heiser, bis Prado eingriff.

„Haltet jetzt eure Schnauzen“, knurrte er. „Ich bin genauso enttäuscht wie ihr. Oder glaubt ihr, mir gefällt es, daß die Bastarde das Gold abräumen? Wir werden es uns schon noch holen.“

„Und wie stellst du dir das vor?“

„Die Kerle wissen nichts von uns und nehmen an, daß wir längst abgehauen sind. Daher werden sie auch nicht besonders aufmerksam sein. Noch vor Mitternacht segeln wir hinüber und holen uns das, was uns zusteht. Dann wird angegriffen, und zwar blitzartig.“

Die Worte Prados richteten die Kerle zwar noch nicht auf – dafür war ihre Enttäuschung zu stark, aber sie waren sich zumindest darüber einig, daß es höchste Zeit wurde, die Karavelle anzugreifen, zu entern und sich in den Besitz des Goldes zu bringen.

Tagsüber hatte das natürlich keinen Zweck, da hatten sie keine Chance gegen die Drehbassen. Aber wenn der Angriff nachts erfolgte, würde die Überraschung um so größer sein.

Der Kieker ging wieder reihum. Sie starrten sich die Augen aus und zählten die Kisten mit, die an Bord gebracht wurden. Mit leeren Kisten kehrte die Jolle jedesmal zum Strand zurück.

Der Anblick der Kisten reizte die Kerle bis zur Weißglut, aber Prado verstand es, sie auch in dieser Hinsicht zu beruhigen.

„Das spart uns doch nur die mühsame Buddelei“, sagte er. „Wenn wir den Kahn entern, haben sie bereits alles schön sauber verpackt, und wir brauchen nur noch loszusegeln. Diesmal schaffen wir es ganz bestimmt.“

Der Tag verging für die Meute quälend langsam und wollte kein Ende nehmen. Sie konnten nicht einmal schlafen oder dösen, denn das, was sie auf der anderen Insel sahen, beschäftigte sie pausenlos und ließ ihnen keine Ruhe.

Unterdessen pausierten die Kerle auf der Nordinsel einmal in aller Ruhe und schlugen sich die Bäuche voll. Danach gingen sie wieder an die Arbeit, und eine Kiste nach der anderen verschwand auf dem kleinen Dreimaster.

Dann wurde es langsam dunkel. Sie sahen, daß am Strand der anderen Inseln Fackeln entzündet wurden. Aber die Gestalten waren nur sehr schlecht bei der Dunkelheit zu erkennen.

Immer noch verging die Zeit quälend langsam. Dann gab Prado endlich den erlösenden Befehl.

„Schiebt das Floß ins Wasser – und dann nichts wie hinüber.“

Das taten sie nur allzu gern. Das Floß wurde ins Wasser geschoben und das kleine Segel gesetzt. Die sechs Kerle hielten ihre Musketen schußbereit.

„Dann segeln wir jetzt los und fangen sie gleich hinter der Insel ab, sobald sie gerundet haben“, sagte Old O’Flynn.

Am Strand brannten immer noch Fackeln, und es hatte ganz den Anschein, als würde dort immer noch gebuddelt. So sollte es für die anderen ja auch aussehen.

Etwas später lag die „Empress“ feuerbereit auf der Lauer im Sichtschutz der Insel.

Dann tauchte das Floß auf. Es segelte langsam und schwerfällig, hielt aber stur Kurs auf die nördliche Insel, wo am Strand die Fackeln brannten.

Die Karavelle rauschte dem Floß entgegen. Die vorderen Drehbassen waren ausgerichtet.

„Feuer frei!“ rief Old O’Flynn. „Zeigt es den Halunken!“

Zwei Drehbassenschüsse fetzten in das Floß und rissen es auseinander. Holz splitterte, Kerle stürzten ins Wasser.

Ein dritter Schuß folgte und zerriß brüllend die Nacht. Der Blei- und Eisenhagel fetzte noch einmal hinein. Vom Floß blieben nur noch Trümmer, von den Kerlen war keiner mehr zu sehen.

Prado und seine Meute waren ein bißchen klüger gewesen als Acosta mit seiner Horde, aber für Old Donegal und seine Crew eben doch nicht klug genug.

Jetzt hatten auch die letzten sechs Kerle ausgespielt. Auf den Inseln herrschte wieder Ruhe …

ENDE


1.

Es war eine sonderbare Stimmung, die die ganze Stadt erfaßt zu haben schien. Etliche Einwohner Havannas schoben es auf das Wetter, das für sie, die sie in einer Hafenstadt lebten, besondere Bedeutung hatte. Da sie ausnahmslos ziemlich abergläubisch waren, werteten sie das Aussehen des Himmels als ein eindeutiges Zeichen.

Der Himmel über Havanna wollte nicht mehr aufklaren. Diesen Anschein hatte es jedenfalls. Dabei gab es nicht das winzigste Zeichen, das auf einen bevorstehenden Sturm hingedeutet hätte. Im Gegenteil, es wehte fortwährend ein derart laues Lüftchen durch die Gassen der kubanischen Hauptstadt, daß ältere Leute über Schweißausbrüche und Herzjagen klagten.

Die Hafendirnen stellten hingegen fest, daß ihre Dienste häufiger in Anspruch genommen wurden als gewöhnlich. Die Vergnügungssucht der männlichen Schenkenbesucher steigerte sich von Tag zu Tag. Das war beileibe nicht nur auf die längere Liegezeit der Schiffe zurückzuführen, die aus den ungünstigen Winden resultierte.

Es waren keineswegs nur Seeleute, die in diesen warmen Nächten dafür sorgten, daß viel Geld den Besitzer wechselte und Rum und Wein faßweise flossen. Auch jener Teil der Bevölkerung Havannas, der bei Tageslicht seltener anzutreffen war, ging verschwenderisch mit jenen Münzen um, die meist auf nicht ganz saubere Weise erworben worden waren.

Wüste Gelage in Bodegas und Cantinas, aber auch in Gassen und Hinterhöfen, waren die Folge.

Die Nächte in Havanna gehörten dem zwielichtigen Teil der Einwohner und den Seeleuten, die zu eben jener Kategorie paßten.

Den ehrbaren Bürgern der großen Stadt bereiteten all die absonderlichen Umstände dieser letzten Junitage des Jahres 1595 Unbehagen.

Sie registrierten eine gewisse aufmüpfige Stimmung unter dem gemeinen Volk, wie sie es zu nennen pflegten. Das mochte einerseits vom Alkohol herrühren, der ja bekanntlich in ungewöhnlichen Mengen genossen wurde. Hochwohlgeborenen Señoras geschah es, daß sie aus Hauseingängen oder Torwegen mit unflätigen Bemerkungen bedacht wurden, sofern sie sich in offenen Kutschen zur Schneiderin oder zu einem Nachmittagskränzchen fahren ließen.

Nach Einbruch der Dunkelheit wagten sich die Señoras nicht mehr aus dem Haus. Und in den Gesprächsrunden der Señores wurde immer häufiger der Ruf nach einer eisernen Hand laut, die in Havanna einmal gründlich aufräumen müsse.

Zusammengefaßt hatte die Stimmung des Pöbels etwas von einer frechen bis unverschämten Aufgekratztheit.

Der Alkohol mochte vordergründig dafür verantwortlich sein, und das Wetter mochte als Ursache herangezogen werden. Den Bürgern lief dennoch mancher Schauer über den Rücken. Denn deutlicher als sonst wurde ihnen in diesen Tagen bewußt, daß sie auf einem Pulverfaß lebten.

Das Pulverfaß war besagter Pöbel.

Die Lunte glomm nur nachts.

Doch wann würde diese Lunte auch bei Tage nicht mehr erlöschen?

Das Verhängnis für Havanna nahm seinen Anfang in den späten Vormittagsstunden des 20. Juni 1595.

Auf dem weiten Platz vor der Residenz herrschte die gewohnte Geschäftigkeit. Bauern aus der Umgebung und Händler aus der Stadt hatten schon früh ihre Plätze bezogen. Auf Tischen und Bänken boten sie ihre Waren an, die sie mit Handkarren, Pferdefuhrwerken oder auch nur auf dem gebeugten Rücken herbeigeschafft hatten.

Die Fruchtbarkeit des Landes zeigte sich in dem vielfältigen Angebot an frischen Früchten und köstlichem Gemüse. Welch gute Verbindungen eine Hafenstadt wie Havanna zu den übrigen Teilen der Welt hatte, bewiesen die Kleinhändler mit einer üppigen Pracht an Waren. Da dufteten Gewürze aus der Karibik und aus dem Fernen Osten. Da ließ Seide aus China die Augen der Señoras vor Entzücken leuchten, und kräftiges Leinen von den Webstühlen Spaniens mußte den eher sachlich prüfenden Handgriffen standhalten.

Von der Haarspange bis zum eleganten Schuhwerk, von den grünen Bohnen bis zu den Passionsfrüchten und von der fangfrischen Garnele bis zum soeben geschlachteten Ochsen gab es buchstäblich alles, was das Alltagsleben in den Bürger- und Adelshäusern angenehm machte.

Wie an jedem Markttag begannen Cisca Duarte und Graciela Bonardo um zehn Uhr mit ihren Vorbereitungen. Ihr mit Segeltuch überdachter Stand war von den Gehilfen der Señora Zinguala bereits aufgebaut worden. Señora Zinguala betrieb ein Speisehaus in der Nähe des Hafens. Mit ihrer Küche versorgte sie sowohl die Angestellten der Handelshäuser, Lagereien und Schiffsausrüster als auch jene Seeleute, die vom Essen aus der Kombüse genug hatten und einmal abwechslungsreiche spanische Kost an Land genießen wollten.

Der Stand auf dem Platz vor der Residenz war gewissermaßen ein Zweigbetrieb der klugen Señora. Denn sie hatte sehr genau erkannt, daß sie in der frühen Mittagsstunde einen Bedarf decken konnte, der sich in knurrenden Mägen von Marktleuten und ihren Helfern äußerte. Da sich der Stand mit den Kochfeuern in der Nähe des Tors zur Residenz befand, zahlten aber auch Besucher des Gouverneurspalastes zu den Kunden der beiden adrett gekleideten Mädchen.

In den großen Kübeln hatten sie an diesem Tag einen scharf gewürzten Eintopf aus roten Bohnen, Zwiebeln, Pfefferschoten, Tomaten, Speck und Ochsenfleisch zubereitet. Cisca überwachte die Kochfeuer und den Inhalt der Kübel, während Graciela die Näpfe füllte, austeilte, das Geld kassierte und darauf achtete, daß die Näpfe wieder zurückgebracht wurden.

Ihre Arbeit begann, als das Gedränge auf der Plaza nachließ und die meisten Marktstände ihr Warenangebot geräumt hatten. Eine gute Stunde lang hatten Cisca und Graciela alle Hände voll zu tun, und nur nach und nach wurde der Ansturm der Kunden geringer.

Es war bereits ein Uhr, als Graciela ihre Kollegin anstieß und mit einer verstohlenen Kopfbewegung aufforderte, einmal zum Portal des Gouverneurspalastes zu blicken.

Zwei Reiter schwangen sich dort von ihren Pferden. Das Fell der großrahmigen Tiere glänzte naß, Schaumflocken fielen von den Nüstern. Die Männer trugen Gardistenuniform und waren mit Säbeln und Pistolen bewaffnet. Zwei hochgewachsene, stattliche Burschen.

„Die sind nicht aus Havanna“, flüsterte Cisca, damit es keiner von denen mitkriegte, die den Stand umlagerten und den Eintopf aus den Näpfen löffelten.

„Natürlich nicht“, entgegnete Graciela und schüttelte den Kopf über die Einfalt ihrer Kollegin. „Erstens haben wir hier nicht solche Uniformen, und zweitens wären ihre Pferde nicht so abgehetzt, wenn sie aus unserer Stadt stammten.“

Cisca nickte und biß sich auf die Unterlippe. Auch Graciela schwieg jetzt. Beide Mädchen beobachteten voller Spannung, was sich beim Portal abspielte. Unter dem wolkenverhangenen Himmel wirkten der Palast und die Parkanlagen, von denen nur ein Teil durch das Tor zu sehen war, weniger prachtvoll als sonst.

 

Einer der beiden fremden Reiter ging auf die Palastwache zu. Er entfaltete ein Dokument, das der Posten aufmerksam studierte. Gleich darauf war ein militärisch barscher Ruf des Postens zu hören. Die Pforte im rechten Torflügel wurde geöffnet, und zwei einfache Soldaten erschienen, die die Pferde der Fremden übernahmen.

Der Mann, der das Dokument vorgezeigt hatte, gab seinem Gefährten einen Wink und betrat dann das Gelände der Residenz. Gleich hinter der Pforte wurde er von einem Offizier in Empfang genommen, der ihn auf dem Weg zum Palast begleitete.

Der zweite Reiter sah sich bedächtig um. Im nächsten Moment verspürten Cisca und Graciela Herzklopfen, als sie sahen, wie er in ihre Richtung blickte und sich seine Miene erhellte. Lächelnd und mit federnden Schritten, als hätte er plötzlich neue Energie gewonnen, bewegte er sich auf den Küchenstand der Señora Zinguala zu.

Die beiden Mädchen gerieten in Bewegung und hatten auf einmal große Eile, die schon zurückgegebenen Näpfe zu stapeln und mit dem Abspülen anzufangen. Dabei taten sie, als sähen sie den Fremden nicht.

Minutenlang stand er vor ihrem Verkaufstresen und beobachtete sie mit amüsiertem Lächeln. Dabei kümmerte er sich nicht um die neugierigen Blicke derer, die ringsherum im Stehen aßen oder sich auf leeren Kisten oder umgedrehten Bottichen niedergelassen hatten. Schließlich nahm der fremde Gardist seinen Helm ab und legte ihn mit vernehmlichem Poltern auf den Tresen.

Cisca und Graciela, beide dunkelhaarig und mit den rechten Rundungen am richtigen Fleck, konnten nun nicht anders, sie mußten aufblicken. Daß sich dabei ihr Herzschlag noch mehr beschleunigte, konnte der Fremde leicht erkennen, denn ihre Gesichtshaut nahm ein kräftiges Rot an. Die Ursache lag auch darin, daß der Fremde ein ausgesprochen gut aussehender Bursche war – groß, breitschultrig, schwarzhaarig, mit gepflegtem Oberlippenbart und markanten Gesichtszügen.

„Wenn die Señoritas einen Augenblick Zeit hätten, sich um ihre Kunden zu kümmern“, sagte er lächelnd und veranlaßte sie, sich den Rest zu denken, indem er lediglich die Stimme anhob und nicht weitersprach.

„Oh, Verzeihung, Señor“, sagte Cisca hastig und schlug sich mit den Fingerkuppen vor den Mund.

„Was darf es denn sein, Señor?“ fragte Graciela.

Er zog die Brauen hoch, und in seine Mundwinkel kerbte sich ein Anflug von Spott.

„Ich hätte nicht gedacht, daß Sie eine große Auswahl zu bieten haben. Nun, Señoritas, dann lassen Sie einmal hören, womit Sie einem müden Reiter zu neuem Mumm in den Knochen verhelfen können.“

Einige der Leute ganz in der Nähe lachten leise. Cisca und Graciela wurden diesmal puterrot. Graciela hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.

Doch der fremde Gardist half ihnen aus der Verlegenheit, indem er auf einen der großen Kochkübel deutete und vernehmlich sagte: „Geben Sie mir das da. Das sieht besonders gut aus.“

Die Mädchen beeilten sich, ihn zu bedienen, und sie verzichteten darauf, ihm zu erklären, daß sich in allen Kübeln das gleiche Essen befand. Wahrscheinlich hatte er es ohnehin bemerkt. Nach und nach brachten die Leute ihre Näpfe zurück, und der fremde Gardist blieb als einziger am Stand der beiden Mädchen übrig.

„Mein Kamerad und ich“, sagte er gedehnt, „sind fremd in der Stadt. Und wir sind zum ersten Male in Havanna. Da würden wir uns natürlich freuen, wenn wir für heute abend jemanden hätten, der uns ein bißchen die Stadt zeigt.“

Er sah sie eindringlich lächelnd an, und beide Mädchen schlugen verlegen den Blick nieder.

„Wir haben eine Menge Gardisten in Havanna“, sagte Cisca nach einer Weile. „Da werden Sie doch einen Gefährten finden, der …“

„Nicht doch, nicht doch!“ rief der Fremde in gespielter Empörung. „Weder mein Kamerad noch ich haben vor, diesen Abend in Männergesellschaft zu verbringen.“ Er stellte seinen Eßnapf ab, stützte seine gebräunten Fäuste auf den Tresen und beugte sich vor. „Ich will Ihre und meine Zeit nicht mit Wortgeplänkel verschwenden, Señoritas. Deshalb frage ich Sie rundheraus: Hätten Sie beide Lust, uns heute abend Gesellschaft zu leisten?“

Um ein Haar hätten Cisca und Graciela sich zugezwinkert und angefangen zu kichern. Doch sie besannen sich, daß sie sich immerhin schon im heiratsfähigen Alter befanden und nicht mehr wie alberne Gänse zu gackern hatten.

„Da müssen wir aber erst Señora Zinguala fragen“, sagte Cisca vorsichtig.

„Wenn es weiter nichts ist!“ rief der Gardist und richtete sich wieder zu seiner stattlichen Größe auf. „Selbstverständlich werden mein Kamerad und ich ordnungsgemäß bei Ihrer Dienstherrin um Erlaubnis bitten. Einverstanden?“

Die beiden Mädchen wechselten nun doch einen Blick, und dabei lasen sie gegenseitig die freudige Aufregung in ihren Augen.

„Einverstanden“, sagte Graciela rasch.

Der Gardist strahlte vor Freude.

„Von wo kommen Sie?“ fragte Cisca, um ihn nicht vorzeitig zudringlich werden zu lassen.

„Aus Santiago de Cuba“, erwiderte er. „Wir haben den Weg ohne eine längere Pause zurückgelegt. Ohne Nachtruhe, Señoritas. Wegen der wichtigen Nachricht.“

„Eine wichtige Nachricht?“ fragte Graciela. „Etwas Geheimes?“

Er zog die Schultern hoch.

„Das weiß ich nicht. Wir dürfen die Nachricht nicht an Dritte weitergeben, nur an den zuständigen Beamten in der Residenz. Aber soviel kann ich sagen“, er beugte sich vor und senkte die Stimme zum Flüsterton, „es handelt sich um eine wichtige Nachricht über den stellvertretenden Gouverneur.“

„Don Diego de Campos“, hauchte Cisca ehrfürchtig, „der Generalkapitän?“

„Genau der“, erwiderte der Gardist.

„Was hat er denn mitzuteilen?“ fragte Graciela. „Es heißt, daß er im Einsatz gegen englisches Piratengesindel sei. War er erfolgreich?“

Der Gardist hob den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei er sich das erhabene Äußere eines Mannes gab, der mehr wußte als andere.

„Ich sagte, eine Nachricht über den stellvertretenden Gouverneur, nicht von ihm.“

Die beiden Mädchen sahen ihn mit großen Augen an.

„Was bedeutet denn das?“ fragte Cisca.

Er schüttelte den Kopf.

„Vielleicht verrate ich es euch heute abend, zu späterer Stunde. Aber wahrscheinlich wird es sich sowieso sehr schnell herumsprechen.“