Seewölfe Paket 23

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

2.

Als die Fremden das Kommando in Potosi übernommen hatten, waren die Bürger in ihre Häuser „verfügt“ worden. Dennoch hatten eben diese Bürger verfolgen können, was sich weiter zugetragen hatte. Der Trupp der Fremden – soweit war das durch die Bleiglasfenster der Häuser zu beobachten gewesen – war bei beginnender Dunkelheit mit zwanzig Maultieren nach Westen abgezogen.

Männer wie Casablanca, Garcia Marquez und deren Familien hatten sich einige Gedanken darüber gemacht, welcher Herkunft diese Fremden wohl sein mochten. Sie waren tief braun gebrannt gewesen und hatten zum Teil wilde Bärte gehabt. Einer hatte eine Eisenhakenprothese. Ein anderer sah wie ein wüstes Ungeheuer aus, ein Monstrum mit lauter Narben im Gesicht und einem gewaltigen Rammkinn. Blonde waren auch dabeigewesen.

Wer sie aber waren, wußte niemand. Piraten? Seit wann wagten die sich derart weit ins Landesinnere vor? Nein, das konnte nicht sein. Piraten brachten Schiffe auf und kaperten sie, sie raubten, brandschatzten und plünderten an den Küsten, aber nie im Inneren des Landes. Das wagten sie nicht, und sie fühlten sich hier sozusagen wie Fische auf dem Trockenen. Niemals hätten sie es fertiggebracht, einen tolldreisten Bubenstreich wie diesen durchzuführen.

Sie mußten schon einer ganz besonderen Kategorie angehören, diese Männer. Spanier schienen sie nicht zu sein, obwohl sie die spanische Sprache hervorragend beherrschten. Woher kamen sie dann? Aus einem nördlichen Land der Alten Welt – Frankreich, Holland oder England? Oder gar aus einem anderen Kontinent, aus Cathay beispielsweise?

Niemand erriet es. Es gab weiterhin großes Kopfzerbrechen und Grübeln über diesen Punkt, und die Bürger waren immer noch sehr verstört.

Casablanca und Garcia Marquez hatten sich erboten, gewissermaßen als „Vorhut“ nach dem Rechten zu schauen und die Lage zu erkunden. Was tat sich in Potosi? Man konnte meinen, in eine Geisterstadt geraten zu sein. Totenstille herrschte, der Wind, der vom Altiplano herüberfächelte, schien ein höhnisches Lied zu wispern.

Aber da war der heranpolternde Karren – und da waren die drei Kerle, die zum übelsten Gesindel von Potosi zu zählen schienen.

Casablanca musterte sie und fragte, als sie verharrten: „Wer seid ihr? Was treibt ihr hier?“

Salimbene war geistesgegenwärtig genug, nicht sofort auf die Frage einzugehen.

„Ach, wir kennen uns doch“, sagte er fröhlich grinsend. „Irre ich mich, oder sind wir uns gelegentlich mal im Hurenhaus der roten Dolores begegnet?“

Casablanca hatte die Hände sinken lassen.

„Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagte er frostig.

Salimbene ließ die Deichsel los und rieb sich die Hände. „Ich schon. Das waren noch Zeiten, was? Aber das alles ist vorbei. Potosi ist ’ne tote und kaputte Stadt geworden, Señor, hier wird keiner mehr sein Vergnügen haben. Was uns betrifft, mich und meine Kameraden hier, wir hauen ab. Wir haben die Nase voll. Wir haben unsere Siebensachen auf den Karren hier gepackt und ziehen davon. Klar?“

„Sehr gut“, erwiderte Casablanca und gab den Weg wieder frei. „Das kann ich euch auch nur empfehlen.“

Salimbene trat dicht vor ihn hin. „Behalte deine klugen Sprüche für dich, Kerl. Empfehlungen brauchen wir nicht. Verstanden?“

Casablanca wich vor ihm zu Garcia Marquez zurück. Salimbene, El Moreno und Rubirosa zerrten den Karren weiter, ihre Gestalten und die Umrisse des Karrens verschmolzen wieder mit der Dunkelheit.

Andere Bürger waren aufgetaucht, nach und nach wagten sich immer mehr hinaus. Sie wollten wissen, was geschah. Lopez Garcia Marquez war es, der durch seine Worte die Volksseele erst richtig zum Kochen brachte.

„Keiner kann mir erzählen, daß diese Lumpen nur ihr Gerümpel auf dem Karren haben“, sagte er. „Sie besitzen doch überhaupt nichts. Sie pennen mal hier und mal da und haben nichts als die Fetzen, die sie auf dem Leib tragen. Und der Karren – den kenne ich. Der gehört zur Casa dela Moneda!“

Casablanca war ziemlich unwohl zumute. Denn wenn seine Frau davon erfuhr, daß er im Hurenhaus zu Gast gewesen war, dann hatte er verspielt. Er war aber auch froh, daß Garcia Marquez die Initiative übernahm. Allmählich zog er sich zurück und lief ins Haus, setzte sich auf einen Stuhl und atmete erst einmal tief durch.

„Was ist los?“ fragte ihn seine Frau, und seine Kinder scharten sich mit bangen Mienen um sie.

„Das Gesindel ist unterwegs“, sagte Casablanca. „Überall wird geplündert, wie es scheint. Dieses Pack stiehlt alles, was ihm in die Finger fällt, und keine Frau ist vor ihnen sicher. Geht ja nicht auf die Straße.“

Er erhob sich wieder und begann, die Fensterläden zuzurammen. Es war wirklich besser, sich vorläufig nicht hinauszuwagen. Erst am Morgen durfte man seinen Fuß wieder über die Schwelle der Haustor setzen, wenn die Galgenstricke und Gauner das Licht scheuten und verschwanden.

Männer wie Garcia Marquez dachten in diesem Punkt jedoch anders. Viele Bürger hatten sich inzwischen auf den Straßen eingefunden und lauschten dem, was Garcia Marquez ihnen mitzuteilen hatte.

„Diese Lumpenhunde“, sagte er. „Sie haben viel schneller als wir gespitzt, was die Glocke geschlagen hat. Sie haben getan, was keiner von uns sich jemals getraut hätte – sie haben die Münze ausgehoben!“

Empörte Stimmen wurden laut, die Männer murrten und fluchten.

„Nach Abzug der Feinde sind diese Banditen in die jetzt unbewachte Casa gehuscht und haben kräftig zugelangt!“ rief Garcia Marquez. „Sie haben die Silberbarren, die von den Fremden nicht entwendet wurden!“

„Andere sind zur Residenz des Gouverneurs unterwegs!“ schrie ein Mann.

„Sie sacken alles ein, was irgendwie von Wert ist!“ rief Garcia Marquez.

Wieder gab es einen Zwischenruf. „Das müssen wir verhindern!“

„Diese Elemente nutzen die Gunst der Stunde und plündern alles aus“, sagte Garcia Marquez aufgebracht. „Dieser Aderlaß ist noch gewaltiger als das, was die Fremden angerichtet haben. Wir müssen etwas dagegen unternehmen!“

„Dann los!“ schrie ein junger Mann. „Packen wir diese Hunde! Bewaffnet euch mit Knüppeln! Schlagt sie tot!“

Die Bürger setzten sich in Bewegung. Inzwischen gab es keinen mehr, der nicht wußte, was sich abspielte. Der Pöbel hielt sich schadlos – das mußte unterbunden werden! Ein Teil der Bürger – wie Casablanca – zog es vor, in den Häusern zu bleiben. Aber die Zahl derer, die zornig gegen den Pöbel ins Feld zogen, war größer. Es herrschte plötzlich Aufruhr in den Straßen und Gassen von Potosi. Gruppen von Bürgern liefen zur Casa de la Moneda, andere hielten auf die Residenz des Gouverneurs zu.

Salimbene, El Moreno und Rubirosa waren in der Residenz und hasteten auf der Suche nach Wertvollem durch die Räume. Sie hörten aber auch den Lärm, der sich draußen entwickelte.

„Es gibt Krawall“, sagte Salimbene. „Das hab’ ich mir gleich gedacht. Rubirosa, geh du raus und paß auf den Karren auf.“

Der Karren mit den Silberbarren stand in einer Gasse unmittelbar neben der Residenz. Sie hatten ohnehin ein ungutes Gefühl gehabt, ihn ohne Aufsicht zurückzulassen. Rubirosa kehrte in die Gasse zurück und hielt Wache – und er sah die Gestalten, die sich mit Knüppeln über die Plaza bewegten.

„Hunde, elende“, murmelte er. „Glaubt ihr, ihr könnt uns aufhalten? Da habt ihr euch aber getäuscht.“

Noch hatten sie ihn und den Karren nicht entdeckt. Aber er hielt das Messer bereit. Den ersten, der mich anfaßt, steche ich ab wie ein Schwein, dachte er grimmig.

Die anderen Bürger hatten inzwischen die Casa de la Moneda erreicht und drangen durch die Tür, die nur angelehnt war, ins Innere ein. Sie erwischten die Plünderer, die gerade die letzten Barren verteilten, und stürzten sich wutentbrannt auf sie.

Palmiro wurde von einem Knüppelhieb getroffen und stürzte schwer auf den Fußboden. Er stöhnte auf. Jemand trat ihm in die Seite. Er sah rot, warf sich herum, packte den ersten Knüppel, den er erwischen konnte, und riß seinen Besitzer um. Dann stieß er diesem das Knüppelende in den Bauch, rappelte sich wieder auf und drosch wild um sich.

Der Kampf tobte durch alle Räume. Die Bürger waren in der Überzahl, aber die Galgenstricke hatten Messer, die sie jetzt einsetzten. Ein Bürger sank getroffen zu Boden, ein anderer sank über einem Tisch zusammen. Schreie gellten, Flüche ertönten.

Salimbene und El Moreno waren in der Residenz des Gouverneurs noch ungestört, aber sie gaben sich keinen Illusionen hin. Die Bürger rückten an und würden über sie herfallen, wenn sie ihnen nicht wie durch ein Wunder entgingen.

Lopez Garcia Marquez führte seinen Trupp von wütenden, knüppelschwingenden Männern über die Plaza. Noch mehr Männer hatten sich zu ihnen gesellt, und alle wollten den Plünderern an den Kragen. Die einen handelten aus Neid, die anderen aus Empörung, daß sich diese Strolche am königlichen Eigentum vergriffen.

El Moreno entdeckte in einem der vielen Räume einen reich verzierten Schrank. Er öffnete ihn – und prallte zurück. In dem Schrank hielt sich ein Mensch verborgen: ein Indiomädchen, nur spärlich bekleidet.

Er grinste. „Hallo, so eine Überraschung! Was treibst du denn hier?“

„Tu mir nichts“, sagte sie, und er sah, daß sie zitterte.

Salimbene trat ein. „Was ist los, Moreno?“

„Sieh mal, was wir hier haben.“ El Moreno musterte das Mädchen ungeniert von oben bis unten. Sie war sehr jung, sehr zart und sehr hübsch.

Salimbene war neben ihm und schaute sich das Mädchen ebenfalls an.

„Warum bist du nicht abgehauen?“ fragte er. „Alle Sklaven sind freigelassen worden.“

 

„Ich – habe Angst gehabt“, stammelte sie. „Angst. Vielleicht ist alles nur ein Spiel. Ein Trick. Don Ramón hat sich immer neue Spiele einfallen lassen.“

„So ein perverses Schwein, dieser Don Ramón“, sagte El Moreno. Er grinste immer noch und schien das Mädchen mit seinem Blick auf der Stelle festnageln zu wollen.

„Verstehe schon“, brummte Salimbene. „Aber nein, es ist kein Trick. Lauf jetzt weg. Keiner wird dich aufhalten.“

„Wir könnten sie aber auch mitnehmen“, schlug El Moreno vor.

„Schlag dir das aus dem Kopf.“

„Als Kurzweil für unterwegs, meine ich.“

„Ich weiß schon, was du meinst“, sagte Salimbene zu seinem Kumpan. „Aber daraus wird nichts. Klar?“ Er ließ das Indiomädchen aus dem Schrank klettern und wollte ihr den Weg zeigen, wie sie am besten aus dem Palast entkam. Aber sie kannte sich besser aus und schlüpfte durch eine Hintertür ins Freie – während von vorn die lärmenden, fluchenden Bürger hereinstürmten.

Salimbene und El Moreno hatten inzwischen festgestellt, daß sie nicht die einzigen waren, die sich in der Residenz umsahen. Eine andere Gruppe von Dieben war hier – acht Kerle, die im oberen Stockwerk plünderten.

„Haut ab!“ zischte ihr Anführer Salimbene zu, als er diesen auftauchen sah. „Zeigt die Hacken! Ihr habt hier nichts verloren!“

„Halt mal die Luft an“, sagte Salimbene und wies nach unten. „Da kommen die Bürger. Wenn wir uns nicht gegen sie zusammentun, sind wir geliefert.“

Das sah der Anführer der Bande ein. Gemeinsam stürmten sie über die breite Treppe nach unten und warfen sich den Angreifern entgegen. El Moreno lieferte sich mit einigen Bürgern bereits ein hitziges Knüppel-Messer-Gefecht. Es endete damit, daß zwei der Bürger tot zu Boden sanken. Und dann ging der Kampf erst richtig los.

Rubirosa sah, wie einer der Bürger – er schien sich offenbar verirrt zu haben – plötzlich vor dem Eingang der Gasse auftauchte. Rubirosa drückte den Zeigefinger gegen die Lippen und zischte: „Pst!“

Aber das nutzte herzlich wenig. Der Bürger stieß einen Schrei aus.

„Hier ist einer!“ brüllte er.

Rubirosas Messer flog, wie durch Zauberei gelenkt, durch die Luft und traf den Mann mitten in die Brust. Der Mann fiel auf den Rücken und rührte sich nicht mehr.

Rubirosa trat zu ihm, nahm das Messer wieder an sich, spuckte neben ihm aus und brummte: „Verfluchter Narr.“

Der Schrei des Mannes hatte jedoch andere Bürger angelockt. Sie stürzten heran. Rubirosa packte die Deichsel des Karrens und zerrte ihn durch die Gasse davon. Sie hetzten hinter ihm her und holten rasch auf. Er begann zu laufen und wollte um eine Ecke lenken, aber der Karren kippte um, und die Silberbarren verteilten sich auf dem Katzenkopf-Pflaster.

„Auf ihn!“ brüllte ein Bürger. „Das ist einer der Silberdiebe!“

Mit dicken Knüppeln warfen sie sich auf Rubirosa, doch sie hatten nicht mit seiner Schnelligkeit gerechnet. Ehe sie richtig auf ihn einhauen konnten, hatte er zwei von ihnen bereits mit seinem Messer verletzt. Sie prallten gegen die Mauern der Häuser und krümmten sich vor Schmerzen. Die anderen schienen irritiert zu sein. Es waren sechs oder sieben, wie Rubirosa mit einem Blick feststellte.

Er stürzte sich auf sie, sein Messer tanzte wie ein Irrlicht. Ganz allein warf er sie zurück, und schließlich flüchteten jene, die noch nicht getroffen waren, zur Plaza.

Aber auch Rubirosa hatte einige kräftige Hiebe einstecken müssen. Er stöhnte, bückte sich und versuchte, den Karren wieder aufzurichten. Es war kein leichtes Stück Arbeit. Der Karren war schwerer, als er gedacht hatte.

Völlig unverhofft stießen jetzt jedoch Salimbene und El Moreno zu ihm. Sie halfen ihm, den Karren auf die Räder zu stellen und erneut zu beladen.

„Hier ist der Teufel los“, sagte Salimbene. „Wir sollten das Durcheinander ausnutzen und erst mal mit dem Karren verschwinden.“

Sie hatten einen günstigen Moment genutzt und sich aus der Residenz – wo es ohnehin nicht mehr viel zu holen gab – zurückgezogen. Während der Kampf weiterging, entfernte sich das Trio nun mit dem Karren zum südlichen Ausgang der Stadt.

So entwickelte sich in Potosi eine geradezu chaotische Situation – zumal die Polizeikräfte der Stadt mit der an die hundert Mann starken Garnisonstruppe nach Sucre abmarschiert waren. Die Spitzbuben, Langfinger und Gauner indessen ließen sich noch lange nicht ins Bockshorn jagen – wohl wissend, daß es zur Zeit keine Ordnungsgewalt, keine Büttel und keine Obrigkeit gab.

Sie zeigten den Bürgern die Zähne, und da Gewalt ihr Metier war und sie keinerlei Hemmungen hatten, schlugen sie auch weiterhin brutal zu und bedienten sich ihrer Messer. In dieser Nacht vom 29. auf den 30. Dezember regierte der Mob die Stadt. Es gab fast ein Dutzend Tote und mehr als doppelt so viele Verletzte – darunter auch Lopez Garcia Marquez, der geglaubt hatte, mit seinem Trupp die Gouverneursresidenz „reinigen und leerfegen“ zu können.

Garcia Marquez mußte kapitulieren und mit seinen Männern flüchten. Blutend und hinkend kehrte er in sein Haus zurück. Er war am linken Oberschenkel verletzt. Er hatte sich zum Anführer der Bürger von Potosi erhoben, mußte aber einsehen, daß er sich verkalkuliert hatte. Keiner konnte diesem Pöbel trotzen.

So sollten es Männer wie Romano Casablanca sein, die in ihrer Furcht instinktiv doch den richtigeren Weg gewählt hatten. Sie blieben unversehrt, während die „heldenhaften“ Kämpfer angeschlagen in ihre Häuser flohen und Türen und Fenster verrammelten.

Salimbene, El Moreno, Rubirosa und all die anderen Galgenstricke, die weiterhin durch die Stadt strolchten, brachten ihre Beute in Sicherheit. Selbst Palmiro, der schwerfälligste von allen, hatte etwas erbeutet und zählte in einem sicheren Versteck noch einmal die Silbermünzen, die er gefunden hatte.

Im Gefängnis tobten derweil die Eingeschlossenen – an die dreißig Aufseher der Silbermine, achtundzwanzig Soldaten, die von dem Seewolf und dessen Männern gefangengesetzt worden waren, ein Teniente sowie die Señores vom Stadtrat einschließlich des Bürgermeisters und des Polizeipräfekten.

Alvaro Gomez – so hieß der Teniente – hatte nicht vergessen, wie übel der Gegner ihm mitgespielt hatte. Wütend rüttelte er an den Eisenstäben der Gittertür. Daß es keinen Sinn hatte und zu keinerlei Ergebnis führte, wußte er selbst. Aber er mußte etwas unternehmen – um seinen Zorn abzureagieren.

Keuchend fuhr er herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Gitter. Er lauschte dem Krawall und sagte: „Hören Sie das, Señores? Da draußen scheinen alle verrückt geworden zu sein.“

„Das Gesindel holt sich das letzte Silber“, sagte der Polizeipräfekt. „Es wird nichts übrigbleiben.“

„Wir müssen etwas unternehmen!“ schrie der Teniente.

„Was?“ brüllte der Bürgermeister ihn an. „Wie kommen wir hier raus?“

„Wir müssen jemanden rufen“, erwiderte Gomez. „Jemanden, der den Schmied holt. Verflucht, warum denkt denn keiner an uns?“

„Zur Hölle mit diesen verdammten Gittern!“ wetterte der Polizeipräfekt, dann sprang er auf und eilte an eins der winzigen Fenster. Nie hätte er sich träumen lassen, daß er die soliden Eisengitter der Zellen und Kerkerräume, die von den fremden Bastarden sogar noch zusätzlich mit Ketten abgesichert worden waren, eines Tages verfluchen würde. Er klammerte sich am Fenstergitter fest, spähte zu den vorbeihuschenden Gestalten und brüllte: „Heda! Hört mich keiner? Bürger – hierher!“

Auch der Bürgermeister und die Señores des Stadtrates beteiligten sich an dem Geschrei. Doch es sollte sich als ebenso sinnlos wie Gomez’ Rütteln an der Tür herausstellen. Keiner der Bürger, der wutentbrannt gegen das Lumpenpack und Gesindel vorging, verfiel auf den Gedanken, die ehrenwerten Señores von ihrem Schicksal zu erlösen, zumal der Teniente, die Soldaten und die Aufseher zweifellos mehr Talent gehabt hätten, die Diebe und Plünderer zu verjagen.

Es lief eben alles fehl. Alles schien verhext zu sein, die Welt hing schief in ihren Angeln. Alvaro Gomez ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte damit gegen die Gitter. Er fluchte und stöhnte, aber all das war nutzlos, er vergeudete nur seine Energien.

Was niemals hätte eintreten dürfen, war geschehen: Das blühende, reiche Potosi war dem Pöbel freigegeben. Und er, Gomez, hatte dabei die größte Schande erlitten, als er sich von dem Riesen mit dem entsetzlichen Narbengesicht hatte niederschlagen lassen. Der Hund hatte ihn in den Plaza-Brunnen geworfen und ihn anschließend in das Gefängnis gesteckt – und das alles nur, weil er die kleine Pistole bei ihm gefunden hatte.

Dennoch, er würde sich an diesem Monstrum rächen, furchtbar rächen. Noch wußte er nicht, wie es geschehen würde, aber er spürte, daß es noch eine Chance für ihn gab, spätestens beim Heraufziehen des neuen Tages, wenn das große Plündern vorbei war. Dies war die einzige Hoffnung, an die Alvaro Gomez sich noch klammerte, und er betete zum Himmel, daß sein Wunsch in Erfüllung gehen möge.

3.

Als in Potosi der Morgen graute, vollzog sich die erwartete Wandlung. Die Ratten, die wie toll gehaust hatten, huschten in ihre Löcher zurück. Sie wollten nicht erkannt und entlarvt werden, außerdem hatten sie sich alles geholt, was es zu holen gab.

Salimbene, El Moreno, Rubirosa und auch die anderen hatten sich die Taschen gefüllt. Die Zukunft sah silbern aus, die Vorsehung hatte es gut gemeint mit ihnen.

Alles in allem fanden sie es gar nicht so schlecht, daß diese tolldreisten Fremden in die Stadt eingedrungen waren. Und geschah es den durchlauchten und eingebildeten Señores nicht ganz recht, daß sie im Stadtgefängnis schmorten? So lernten sie das Leben mal von einer anderen, weniger bequemen Seite kennen.

„Recht so“, sagte Salimbene und nagte an dem Schenkel eines gebratenen Hühnchens, das sie aus einem der Häuser hatten mitgehen lassen. „Was weiter passiert, geht uns nichts an.“

„Sie werden uns suchen“, entgegnete Rubirosa.

„Die haben was anderes zu tun“, sagte Salimbene. „Wir bleiben erst mal hier, in unserem Versteck. Hier vermuten sie uns am allerwenigsten.“

El Moreno lachte leise und trank einen tüchtigen Schluck Rotwein. Sie hatten ein Faß aufgetrieben und es zu den Silberbarren auf den Karren gepackt.

„Es war eine gute Idee von dir, hierher zurückzukehren“, sagte er, nachdem er sich mit dem Handrücken den Mund abgewischt hatte. „Hier sind wir sicher. Ob wir noch ganz abhauen oder nicht, können wir ja in den nächsten Tagen entscheiden.“

„Ja“, sagte Salimbene mit bedächtigem Nicken. „Erst mal ruhen wir uns aus. Das haben wir wohl verdient.“

Romano Casablanca trat zum selben Zeitpunkt in das milchige Licht des jungen Morgens und überlegte sich, was zu tun sei. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß niemand mehr in den Gassen lauerte, vor dem man Angst haben mußte, begab er sich zum Haus des Schmiedes.

Er klopfte an die Tür und sagte zu der Frau des Schmiedes, die mit vor Schreck geweiteten Augen aus dem Fenster blickte: „Wir brauchen Ihren Mann, Señora. Es befinden sich noch Señores im Kerker, die befreit werden müssen.“

„Mein Mann – ist verletzt“, stotterte sie. Doch dann erschien der Schmied selbst. Sein Gesicht war verschrammt und von Beulen und blauen Flecken gezeichnet, seine Schulter verbunden. Geringschätzig musterte er den Besucher.

„Ich habe heute nacht gegen das Gesindel gekämpft“, sagte er mit dunkler, drohender Stimme. „Wo waren Sie, Señor Casablanca?“

„Ich habe meine Familie beschützt.“

„Hinter verschlossenen Türen und Fenstern?“

„Das geht Sie nichts an.“

„Was wollen Sie?“

„Die Männer im Stadtgefängnis – der Bürgermeister, der Rat, der Präfekt, die Soldaten und Aufseher. Wir haben sie vergessen“, entgegnete Casablanca.

Der Schmied schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Das ist wahr! Aber wer kriegt sie dort wieder raus?“

„Nur Sie können es schaffen“, sagte Casablanca, dann schritt er davon.

Kurze Zeit darauf suchte der Schmied mit einigen Helfern die Plaza auf, an der das Gefängnisgebäude stand. Dann begann ein hartes Stück Arbeit: Zunächst mußte das Portal aufgebrochen werden, das von dem „Monstrum“ sorgsam verschlossen worden war. Carberry hatte wirklich für alles gesorgt, und so schnell sollten die ehrenwerten Señores, die von den winzigen Fenstern aus die Bemühungen der Männer verfolgten, die ersehnte Freiheit nicht wiedererlangen.

 

Was jetzt geschah, war eine schweißtreibende Schufterei für den Schmied und seine vier Gesellen, die mit schweren Hämmern die Schlösser der Ketten und dann der Gittertüren zertrümmern mußten. Stunden dauerte das – und manch einer der Señores vom Rat glaubte bereits, daß es nicht mehr gelingen würde.

„Wir sitzen hier ewig fest“, jammerte einer von ihnen.

„Hier kommen wir nicht mehr raus“, sagte ein anderer und verdrehte die Augen.

„Wir verhungern“, sagte ein dritter. „Oder die Ratten fallen über uns her. Wir verrecken elend. Und das alles haben wir nur Don Ramón de Cubillo zu verdanken.“

„Ja, das stimmt“, pflichtete der Präfekt ihm bei. „Wenn er sich den Forderungen dieser Kerle nicht so bereitwillig gebeugt hätte, wäre das alles nicht passiert.“

Schließlich zerbrachen aber auch die letzten Schlösser, und die Ketten rasselten zu Boden. Die Gittertüren wurden aufgerissen, und sofort eilten die Señores des Stadtrates ins Rathaus, um entsprechende und der Situation angemessene Entschlüsse zu fassen.

„Es ist alles die Schuld des Provinzgouverneurs!“ rief wieder der Mann, der schon vorher Don Ramón de Cubillo belastet hatte.

„Nein!“ widersprach der Bürgermeister. „Schuld haben wir alle!“

„Sie ganz besonders, Señor!“ entgegnete ein Ratsmitglied.

„Das ist eine infame Lüge!“ brüllte der Bürgermeister ihn an. „Nehmen Sie das sofort zurück, Señor!“

„Den Teufel werde ich tun!“

„Ruhe!“ schrie der Präfekt. „Nehmen Sie endlich Vernunft an! So kommen wir nicht weiter!“

Aber es ging auch weiterhin bissig und hitzig zu, weil einer dem anderen die Schuld zuschob. Schließlich war es jedoch der Bürgermeister, der einen heroischen Entschluß faßte.

„Señores“, sagte er, als wieder etwas Ruhe eintrat. „Sie sehen in mir nunmehr den Stellvertreter des Provinzgouverneurs, da dieser nicht mehr zugegen ist. Ich ersuche Sie in aller Form, die Ruhe zu bewahren und auf mein Wort zu hören.“

„Sehr richtig“, sagte der Präfekt. „Alles hört auf den Señor Bürgermeister!“

„Vielleicht können wir die Feinde der Krone doch noch packen“, sagte der Bürgermeister. „Zumindest können wir einiges unternehmen, um wenigstens Arica zu warnen. Folgendes also: Ein Bote begibt sich sofort nach Sucre und holt unseren Stadtkommandanten und die Truppe zurück.“

„Jawohl!“ rief ein Ratsherr.

„Gut so!“ fügte ein anderer hinzu.

„Ich verbitte mir jeden Zwischenruf“, sagte der Bürgermeister. Er fühlte sich in seinem Amt bestätigt, das Selbstvertrauen kehrte in ihn zurück. „Weitere zwei Boten setzen sich unverzüglich nach Arica in Marsch, um den dortigen Bürgermeister und Stadtkommandanten erstens zu warnen und zweitens, um sie um Unterstützung zu bitten.“

„Das halte auch ich für das allerbeste“, sagte der Präfekt, verstummte aber sofort wieder, als der Bürgermeister weitersprach.

Der Bürgermeister warf sich ein wenig in die Brust und hob das Kinn. Erst blickte er die Versammlung an, dann fuhr er fort: „Arica muß versuchen, die fremden Banditen, die Don Ramón entführt haben, aufzugreifen und festzusetzen, denn es ist so gut wie sicher, daß sie sich nach Arica gewandt haben, von wo aus sie aller Wahrscheinlichkeit nach mit Schiffen verschwinden werden.“

Die Ratsmitglieder klatschten Beifall. Der Bürgermeister sah dies als den besten Beweis dafür an, daß man ihm wieder den erforderlichen Respekt zollte. Und es war ja auch nicht seine Schuld, daß sich alles derart fatal entwickelt hatte. Wenn jemand die Schuld daran trug, daß die Banditen Potosi überhaupt hatten überfallen können, dann war es Don Ramón de Cubillo, dem es aus diesem Grund eigentlich recht geschah, daß er sich in der Gewalt der Übeltäter befand.

Und wenn er niemals nach Potosi zurückkehrte? Nun – dann gab es eben bereits einen Nachfolger für ihn.

Die Boten, die sich von Potosi auf den Weg nach Arica begeben sollten, würden mit vier Maultieren reisen, um schneller voranzukommen. Sie würden den Banditentrupp überholen müssen – unbemerkt natürlich, das verstand sich von selbst. Eine knifflige Aufgabe, die nicht leicht zu bewältigen war. Man mußte die richtigen Männer dafür aussuchen, sie durften auf keinen Fall Hasenfüße sein. Entscheidend war nur, daß sie um jeden Preis vor dem Banditengesindel in Arica eintrafen.

Der Bürgermeister von Potosi setzte für seinen Amtskollegen in Arica ein entsprechendes Schreiben auf, in dem er auch ausführte, wie viele Banditen es waren, wie sie aussahen und daß sie sich in Begleitung von zwei Padres befanden, die aber genausogut auch ganz gewöhnliche Galgenstricke sein mochten. Gott allein wußte, wo sie die Kutten entwendet hatten, die sie trugen.

Der Polizeipräfekt suchte von den dreißig Aufsehern die beiden härtesten Burschen heraus. Sie hießen Delon und Ventura und standen an Brutalität und Rücksichtslosigkeit dem inzwischen spurlos verschwundenen und vermißten Luis Carrero in nichts nach.

„Ihr erhaltet jeder eine angemessene Belohnung“, sagte der Präfekt. „Vorausgesetzt, ihr erreicht vor den Hundesöhnen Arica.“

„Wir schaffen das“, versicherte ihm Delon. „Ganz sicher sogar. Wieviel erhalten wir?“

„Jeder fünfzig Dukaten.“

„Sehr gut“, sagte Ventura. „Aber wir brauchen eine gute Ausrüstung. Vor allem auch Waffen, falls wir mit diesem Dreckspack zusammenstoßen sollten.“

„Es ist bereits für alles gesorgt“, sagte der Präfekt.

Und so wurden die beiden Männer über alles informiert, was sie für ihren Auftrag wissen mußten. Sie erhielten das Schreiben, wurden ausgerüstet und zogen noch am Vormittag des 30. Dezember westwärts.

Als sie mit den vier Maultieren eine Anhöhe erreicht hatten, blieben sie stehen und drehten sich noch einmal um.

„Bald kehren wir zurück und bauen hier etwas auf“, sagte Delon. „Ich bin die längste Zeit Aufseher gewesen. Entweder eröffne ich eine Spielhölle oder ein Hurenhaus.“

„Ich bin mit dabei.“

„Und wenn wir es nicht schaffen?“

„Wir schaffen es“, sagte Ventura. „Und wir kassieren unsere Belohnung, das schwöre ich dir.“

Sie gingen weiter, Potosi blieb hinter ihnen zurück. Sie rechneten sich aus, daß sie den Banditentrupp auf dem Altiplano überholen konnten, was dann nachts geschehen mußte, wenn die „Bastarde“ und „Hurensöhne“ irgendwo campierten.

Auch der Bote nach Sucre war unterdessen mit zwei Maultieren aufgebrochen. Die Soldaten sollten so schnell wie möglich die Verfolgung der Flüchtigen aufnehmen.

Der Bürgermeister von Potosi war der festen Meinung, mit dem Trupp, der sich aus Arica in Bewegung setzen würde, und den Soldaten aus Potosi könne man die Bande von Fremden gewissermaßen von zwei Seiten packen. Der Trupp aus Potosi würde sie dem Trupp von Arica praktisch vor die Musketen treiben.

Aber es wurde auch noch ein dritter Bote in Marsch gesetzt. Er trug ebenfalls ein Schreiben bei sich, wieder vom Bürgermeister verfaßt. Es war an den Vizekönig in Lima gerichtet.

In diesem Schreiben, das von dem gesamten Stadtrat aufgesetzt worden war, wuschen die Señores ihre Hände in reiner Unschuld. Die Schuld für das, was in Potosi passiert war, schoben sie dem hochwohlgeborenen Señor Provinzgouverneur in die Schuhe, der ja nun leider entführt worden war.

Die Señores mußten zwar bekennen, daß der gesamte Minenbetrieb im Cerro Rico auf unabsehbare Zeit lahmgelegt war, zogen sich aber aus der Affäre, indem sie in dem Schreiben erklärten, sie hätten sich den Befehlen des Provinzgouverneurs Don Ramón de Cubillo beugen müssen. Im übrigen sei das Leben aller bedroht gewesen, denn die Banditen seien mit unerhörter Brutalität vorgegangen.

Natürlich mußte der Vizekönig in Lima entscheiden, was im Fall Potosi zu tun war. Don Ramón de Cubillo hatte man somit bereits abgeschrieben. Es mußte ein neuer Provinzgouverneur ernannt und eingesetzt werden, denn Don Ramón hatte eindeutig versagt. Vielleicht würde es der jetzige Bürgermeister sein? Der Bürgermeister hegte in dieser Beziehung einige Zuversicht. Schließlich war er derjenige, der im entscheidenden Moment wieder einen klaren Kopf gezeigt und die richtigen Beschlüsse gefaßt hatte.