Seewölfe Paket 23

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

6.

„Señores“, sagte Hasard freundlich und mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit, „es besteht kein Grund zur Panik, und ich schätze – ja, ich bin sogar davon überzeugt, daß wir sehr gut miteinander auskommen werden, wenn Sie die Befehle Ihres ehrenwerten Señor Gouverneur so befolgen, wie Sie das immer getan haben. Allerdings“, und hier lächelte Hasard so richtig von Herzen, „kann ich für sein Leben nicht garantieren, wenn Sie seinen Befehlen zuwiderhandeln oder sie zu sabotieren versuchen.“

Die Señores lauschten wie Buben, die zum ersten Male in ihrem Leben von einem Lehrer oder Schulmeister angesprochen werden, der die Absicht hat, sie in die Kunst des Schreibens und Lesens einzuweisen.

Da waren keine Rebellen oder Feuerköpfe, denen die Tat wichtiger erschien als die Folgen. Hasards Blick musterte jeden einzelnen Mann, und jeder senkte den Blick, als könne er diese aufmerksamen scharfen Augen nicht ertragen. Sie waren auch sehr verwirrt, diese ehrenwerten Señores, die hier in Potosi bisher ein so schönes, geruhsames, gefahrloses und vor allen Dingen einträgliches Leben geführt hatten – einträglich, was den Griff nach dem Silber betraf.

Natürlich war die Ausbeute je nach Stand verschieden und nicht an dem zu messen, was der Señor Gouverneur in seinem Landhaus gehortet hatte. Aber es war nicht übertrieben, wenn man die ehrenwerten Señores als Millionäre bezeichnete. Der Vorsteher der Münze hatte die dreckigsten Pfoten. Dafür war er jetzt so weiß wie ein Leichentuch – und er schwitzte.

Das alles registrierte Hasard, und er verriet nicht den Ekel, der in ihm aufstieg.

Im lässigen Plauderton fuhr er fort: „Meine Truppen, Señores, haben die Stadt umstellt, jedoch die Straße nach Sucre offengelassen. Es würde sich also nicht lohnen, gegen uns hier Gewalt anzuwenden, die sie dann alle zu büßen hätten. Im übrigen haben meine Einsatzkommandos heute nacht den Pulverturm gesprengt – vorsorglich natürlich, um Sie nicht in Versuchung zu führen, ein Massaker anzurichten, dem ja doch immer nur die Unschuldigen zum Opfer fallen. Da wir ferner etwas gegen Bluthunde haben, die auf Menschen gehetzt werden, haben wir uns erlaubt, auch diese Bestien zu beseitigen.“

Die Stadt umstellt? Den Pulverturm gesprengt? Die Bluthunde beseitigt? Die Señores zogen die Köpfe ein und krochen in sich zusammen. Am liebsten wären sie in Mauselöchern verschwunden.

Nicht einmal der winzigste Funke eines Gedankens tauchte in ihren Köpfen auf, hier einem riesigen Bluff aufzusitzen. Das mochte allerdings auch an der Persönlichkeit des schwarzhaarigen Riesen liegen, der einen bezwingenden Charme ausstrahlte und gleichzeitig von einer granitenen Härte war. Nein, einem solchen Mann waren sie noch nicht begegnet, einem Mann, der es im Handumdrehen fertigbrachte, ihnen seinen Willen aufzuzwingen.

Hasard nickte dem Dicken ermunternd zu, wiederum freundlich lächelnd.

„Jetzt sind Sie dran, Señor Gouverneur“, sagte er. „Die Señores warten auf Ihre Befehle.“

Der Dicke richtete seinen Blick auf den Stadtkommandanten, einen knebelbärtigen, hageren Menschen, und sagte: „Don Alfonso! Ich befehle, daß die gesamte Truppe der Potosi-Garnison einschließlich der Polizeikräfte und Stadtgardisten innerhalb einer halben Stunde auf der Plaza anzutreten hat, bereit zum Abmarsch nach Sucre, wo weitere Weisungen von mir abzuwarten sind. Schuß-, Hieb- und Stichwaffen bleiben in der Garnison. Sie, Don Alfonso, bürgen mir für die exakte Ausführung meines Befehls und werden auch die Truppe nach Sucre begleiten. Die Straße dorthin ist frei. Sollten Sie jedoch die Straße verlassen – entgegen meiner Order –, dann haben Sie damit zu rechnen, daß Sie unter Feuer genommen werden. Ist das klar?“

„Jawohl, Señor Gouverneur“, erwiderte der Stadtkommandant und wiederholte brav den Befehl des Dicken.

Dann verließ er die Runde und marschierte auf die Tür zu, wo der Profos stand und ihm aus grauen Augen grimmig entgegensah.

„Waffen ablegen!“ knurrte er.

„Jawohl“, sagte der Knebelbärtige gehorsam und entledigte sich seines Wehrgehänges samt einer prächtigen Pistole.

Carberry nahm es in Empfang und betrachtete die Pistole, deren Griff aus Nußbaumholz mit Silber eingelegt war. Kopfschüttelnd schaute er sich die Einlegearbeit an. Auf beide Griffseiten war je ein nacktes Liebespaar eingearbeitet, das sich umarmte. Es war eine erotische Szene, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrigließ. Vielleicht brauchte der ehrenwerte Don Alfonso solche Bildchen zur Aufmunterung, bevor er den Liebespfad beschritt.

„Ihr seid vielleicht Ferkel“, sagte der Profos ein bißchen erschüttert, obwohl ihm im Grunde nichts fremd war. Aber so etwas Obszönes öffentlich mit sich herumzuschleppen, das fand er nicht sehr geschmackvoll.

„Jawohl“, sagte Don Alfonso und schaffte es, rote Ohren zu haben.

„Hinaus!“ grollte Carberry und fletschte die Zähne. „Du alter Lustmolch!“

Der „Lustmolch“ mit dem Knebelbart entschwand. Die Tür krachte wieder zu.

Der Dicke stach den Zeigefinger auf den Vorsteher der Münze zu, den Schwitzemann mit dem teigigen Gesicht.

„Sie, Don José“, sagte er, „sorgen dafür, daß sofort sämtliche Silbermünzen aus der königlichen Schatzkammer und der Münze sack- und kistenweise in den Hof der Residenz gebracht werden, da ich die Absicht habe, die Münzen einem guten Zweck zuzuführen. Haben Sie verstanden?“

„Oje-oje!“ jammerte der Schwitzemann. „Alle Münzen?“

„Ich sagte es!“ donnerte Don Ramón. „Haben Sie Dreck in den Ohren? Und ich bitte mir aus, daß nicht eine einzige Münze beim Transport in den Hof verschwindet!“

„Jawohl, Señor Gouverneur.“ Der Schwitzemann erhob sich und wankte zur Tür. Weit gelangte er nicht, weil das Männchen Zeremonienmeister wieder bei Bewußtsein war und ihm wie ein schnüffelndes Hundchen vierbeinig in den Weg kroch. Das Männchen wußte wohl noch nicht so recht, wo es sich befand.

„Wau-wau!“ bellte Carberry von der Tür her.

Das Männchen sprang mit einem schrillen Schrei auf, prallte auf den Schwitzemann mit dem teigigen Gesicht und umarmte ihn. Jetzt wankten sie beide und hielten sich gegenseitig fest, als müßten sie sich trösten.

Don Ramón trommelte mit seinen Wurstfingern auf der Tischplatte und war gereizt.

„Hinaus!“ schrie er. „Und vergessen Sie meinen Befehl nicht, Don José, sonst soll Sie der Teufel holen! Es geht um mein Leben, falls Sie das noch nicht begriffen haben!“

Erschrocken trennten sich die beiden und eilten zur Tür, wo Carberry sie hungrig anstarrte, als habe er die Absicht, sie roh zu verspeisen.

Langsam öffnete er die Tür, fixierte das Männchen und sagte dumpf: „Du hast den Philipp vom Sockel gestoßen, du Wüstling! Das wird noch Folgen haben, denn das ist eine Beleidigung Seiner Majestät!“

„Er-erbarmen“, stotterte das Männchen mit flatternden Augen und käsigem Gesicht, dessen linke Seite von der Pranke Carberrys erheblich geschwollen und gezeichnet war.

„Das wird Seine Majestät entscheiden“, sagte Carberry grollend, „und ich weiß sehr genau, daß er Sockelumstoßern, wie du einer bist, die Ohren abbeißt und die Haare ausreißt! Und wenn du hier noch mal am Schlüsselloch hängst, du Schnüffler, dann ziehe ich dir den Hals lang und knüpf ihn dir um die Beine!“

Das Männchen schoß davon, als sei es von Carberry mit einer Nadel in das Hinterteil gepiekt worden. Der Schwitzemann war schon auf und davon. Wieder knallte die Tür zu.

Jetzt war der Bürgermeister dran, ein Mann mit einem dicken Schmerbauch, Doppelkinn und einer Warze auf der rechten Wange. Die schwarze Lockenperücke verjüngte ihn zwar, aber mit den Tränensäcken unter den Augen und dem aufgedunsenen Gesicht sah er reichlich verlebt aus. Wie Don Ramón war er das, was man die Made im Speck nennt.

Hasard hatte für solche Typen einen sicheren Blick. Ganz abgesehen davon sah der Kerl verschlagen aus. Aber zur Zeit überwog die Angst, das war nicht zu verkennen. Er blickte immer wieder zu Carberry, der als grimmiger Wächter an der Tür stand, ein wüster Koloß mit der Kraft von ein paar Ochsen. Keine Frage, der Profos verschreckte die ehrenwerten Señores, insbesondere den dickbäuchigen Bürgermeister.

Don Ramón wandte sich dem Mann zu und sagte: „Sie, Don Carlos, sorgen dafür, daß im Hof der Residenz Tische aufgestellt werden – und natürlich Stühle. Die Tische sind reichlich zu decken – mit allen verfügbaren Lebensmitteln: Obst, Brot, Braten, Käse, Wurst und so weiter. Der Señor Küchenmeister, den ich zu Ihrer Verfügung befehle, möge eine kräftige Hühnersuppe kochen und im Hof bereitstellen, dazu das notwendige Geschirr und Besteck …“

„Ah, die Señores wünschen im Hof zu speisen, nicht wahr?“ unterbrach ihn der Bürgermeister und schmatzte mit den dicken Lippen.

„Irrtum“, sagte Don Ramón frostig. „Nicht die Señores werden dort speisen, sondern die Indios aus dem Berg.“

„Äh!“ Der Bürgermeister wirkte, als habe ihm jemand einen Scheuerlappen um die Ohren gehauen. „Die – die Indios?“

„Die Indios!“ brüllte der Dicke und regte sich fürchterlich auf. „Ist das so absonderlich? Sie sollen sich satt essen, bevor sie entlassen werden. Und es muß genug da sein, daß sie auch noch Lebensmittel mitnehmen können.“

Der Bürgermeister schien kurz vor einem Schlaganfall zu stehen, auch die Señores des Stadtrates wurden unruhig und begannen zu tuscheln.

Carberry rückte wuchtig ein paar Schritte vor, in seiner Rechten schlenkerte das Entermesser. Sein wilder Blick streifte die ehrenwerten Señores.

Er sagte – und seine Stimme war fast leise und zufrieden: „Ist hier einer, dem das nicht paßt? Das würde mich freuen, denn dann könnte ich einmal ausprobieren, ob dieses Messerchen scharf genug für eine Rasur ist. Ich habe es heute morgen extra für diesen Zweck noch einmal geschliffen. Aber ich werde die Rasur an der Kehle ansetzen – hier!“ Und er setzte das Messer an seine bärtige Gurgel, zog es scharf nach unten und rasierte sich mit einem einzigen sauberen Schnitt den Hals frei. Wie abgehackt sah die Stelle aus, wo er das Messer angesetzt hatte. Wenn er ein bißchen geblutet hätte, wäre die Demonstration noch fürchterlicher gewesen.

 

Aber sie reichte auch so. Da waren nicht wenige Señores, deren Gesichter die gewisse grünliche Verfärbung angenommen hatten. Einige hatten unwillkürlich an ihre Hälse gegriffen, als müßten sie sich überzeugen, ob die noch heil und ohne Schnitt waren. Der Bürgermeister röchelte und preßte die Hand aufs Herz.

Hasard beobachtete scharf. Carberrys Spiel mit dem Entermesser war hervorragend. Schon im Ansatz hatte er mit seiner Darstellung und Redeweise das erstickt, was wie der schwache Versuch einer Entrüstung ausgesehen hatte. Die Señores kuschten. Ein Schnitt durch den Hals – die Vorstellung davon – erstickte jegliches Aufbegehren.

Und Don Ramón? Hätte er die Situation nicht nutzen können?

Don Ramón fixierte den würgenden Bürgermeister aus kalten Augen und sagte höhnisch: „Wenn Ihnen etwas fehlt, Don Carlos, dann ist es mir nur recht, auf Ihre Mitarbeit zu verzichten und unserem Zweiten Bürgermeister Ihre Aufgaben zu übertragen.“ Er ruckte mit dem Kopf nach links, wo der Zweite Bürgermeister saß, ein Mann mit einem knochigen Gesicht, das zwar mürrisch wirkte, jetzt jedoch eine freudige Erwartung auszudrücken schien.

„Señor Gouverneur?“ fragte er ein bißchen ölig.

„Sind Sie“, sagte Don Ramón, „bereit, das Amt des offenbar kranken Bürgermeisters zu übernehmen und meine Befehle auszuführen?“

„Es ist mir eine Ehre, Señor Gouverneur“, sagte der Zweite Bürgermeister und verbeugte sich im Sitzen.

Er war kaum wieder mit dem Kopf hoch, da sprang Don Carlos, der erste, auf und schrie: „Nein! Ich bin nicht krank! Ich war schon immer dafür, die – äh – Indios im Berg besser zu verköstigen, um ihnen die schwere Arbeit zu erleichtern. Nur …“

„… nur zweigten Sie von den königlich festgesetzten Rationen ganze drei Viertel ab, kassierten sie für Ihre eigene Haushaltsführung oder verteilten sie an Ihre Günstlinge“, ergänzte Don Ramón mit einem niederträchtigen Grinsen.

Siehe da! dachte Hasard. Hier wird jetzt schmutzige Wäsche gewaschen! Und der Dicke scheint dem Bürgermeister spinnefeind zu sein. Sicher, ein Bürgermeister kann zum Provinzgouverneur aufrücken, und vielleicht hatte dieser Don Carlos das begehrte und einträgliche Amt schon lange angepeilt – zum Mißbehagen des Don Ramón.

Warf der Bürgermeister jetzt dem Dicken vor, daß dieser ihm – was die Bereicherung betraf – immer ein gutes Vorbild gewesen sei?

Nein, er zog den Schwanz ein, bangend darum, vom zweiten Bürgermeister ersetzt zu werden, und sagte mit bebender Stimme: „Ich führe Ihre Befehle selbstverständlich aus, Señor Gouverneur. Das ist mir eine Ehrenpflicht, denn ich stehe loyal zu Ihnen und zu unserer verehrten Majestät dem König!“ Und sein Kopf bewegte sich ruckartig zu der Stelle, wo er gewohnt war, den Allerkatholischsten zu sehen, der aus Alabaster melancholisch seit über zehn Jahren in den Saal blickte. Nur war dessen Büste jetzt ja weg, und der Alabasterkopf hatte einen Platz im Kamin gefunden.

„Äh!“ sagte der Bürgermeister irritiert.

Don Ramón nickte ihm zu und wedelte mit der rechten Hand.

„Dann sputen Sie sich, Don Carlos“, sagte er kalt, „und seien Sie versichert, daß ich geheime Dossiers über Sie habe, die Ihnen das Genick brechen werden, sollten Sie es wagen, meinen Befehlen zuwiderzuhandeln.“

Auch dieser Mensch wankte zur Tür, verfolgt von den Blicken der Runde. Über das Froschgesicht des Don Ramón geisterte ein verstecktes triumphierendes Grinsen.

Don Carlos’ Schritte wurden langsamer, je näher er Carberry rückte.

Der ruckelte mit dem rechten Zeigefinger und sagte: „Hol mal die Pistole raus, die du unter deinem Bauch versteckt hast, mein Dickerchen!“

Don Carlos fischte mit spitzen Fingern nach der Waffe, die vom über den Bauch hängenden Wams fast verdeckt wurde, und reichte sie mit dem Griff voran Carberry.

„Bitte sehr, Señor“, sagte er mit schon fast ersterbender Stimme. „Wirklich, ich hätte nie gewagt, damit zu schießen – äh –, und ich verabscheue auch den lauten Knall.“

„Soso“, sagte Carberry und besichtigte den Pistolengriff von beiden Seiten.

Hier war wohl derselbe Silberschmied am Werk gewesen – nur auf andere Weise, denn auf den beiden Griffschalen verlustierten sich lediglich weibliche Wesen, und dies wiederum sehr eindeutig.

Carberry blickte auf und ließ die Pistole achtlos fallen. Als sie auf den Mosaikboden klirrte, versetzte er der Waffe einen Tritt, und sie schepperte in Richtung des Kamins.

In seinen grauen Augen glitzerte Wut, als er quer durch den Saal hinüber zu Hasard schaute.

„Großmeister“, sagte er wild, „diese Ferkel und Säue kotzen mich allmählich an. Die lassen sich silberne Schweinereien in ihre Pistölchen einarbeiten, und dafür müssen die armen Kerle im Berg verrecken, sich schinden, peitschen oder von Bestien zerfleischen lassen. Das mußt du dir mal vorstellen! Dieses perverse Vieh hier sollte aufgehängt werden – oben an die Kirchturmspitze, damit es alle sehen!“

Carberry hatte die englische Sprache benutzt, und in derselben Sprache erwiderte Hasard: „Dreh jetzt nicht durch, Ed! Sie sind alle einander wert, der eine wie der andere. Aber wir sind hier wegen der Indios, nicht um Selbstjustiz zu üben. Wir sind nicht deren Richter.“

„Verstanden“, sagte Carberry mühsam und brüllte den Bürgermeister an: „Hau ab, du Strolch!“ Gleichzeitig riß er die Tür auf.

Don Carlos entfloh – gewissermaßen auf qualmenden Socken. Carberry stand in der Tür und starrte hinter ihm her. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und zuckten etwas.

Dir hätte ich das Genick umdrehen können, Bürgermeister, dachte er, aber nicht nur dir!

Er trat zurück und verschloß die Tür.

Die Befehlsausgabe war noch nicht beendet. Don Ramón richtete das Wort an den Polizeipräfekten und sagte: „Ihre Aufgabe ist es, sofort zu veranlassen, daß sich die Bürger in ihre Häuser zurückzuziehen haben. Türen und Fensterläden sind zu verschließen – bis diese Verfügung von mir aufgehoben wird. Ich betone: ich wünsche keinen Bürger auf den Straßen zu sehen! Wer es wagen sollte, aus einem Fenster zu schauen, wird erschossen.“

„Habe Order verstanden“, schnarrte der Polizeipräfekt, stand auf, verbeugte sich und marschierte zur Tür.

„Die Waffe!“ fuhr ihn Carberry an.

Sie wurde ihm überreicht – eine doppelläufige Pistole. Carberry nahm sie entgegen und betrachtete die Griffstücke. Sie waren „nur“ mit silbernen Girlanden eingelegt. Fast hätte Carberry dem Polizeipräfekten die Waffe zurückgegeben.

Der starrte ihm in die Augen und schnarrte: „Habe auch was gegen – äh – Schweinereien auf Waffen! Kolossale Schweinerei! Entehrt die Waffe – ähem! Skandalös! Wenn das der König wüßte!“

„Na ja“, sagte der Profos lahm und ein bißchen erschüttert.

Der Polizeipräfekt zirkelte einen eckigen Gruß, Handfläche ausgestreckt, an seine Perücke, auf der jetzt ein Helm hätte sitzen müssen. Aber so ging’s auch.

„Bitte mich verabschieden zu dürfen!“ schnarrte er.

„Genehmigt!“ rasselte Carberry und salutierte mit der Präfektenpistole wie mit einem Marschallstab.

Der Polizeipräfekt knickte vor, schlug gleichzeitig die Hacken zusammen und verbeugte sich.

Carberry runzelte die Stirn, öffnete die Tür und winkte jovial mit der Pistole, die den Marschallstab ersetzte.

„Es war mir eine Ehre, Señor Polizeipräfekt“, sagte er.

Der Polizeipräfekt marschierte hinaus, das Kinn an den Kragen gedrückt, den Blick geradeausgerichtet, ein sehr zackiger Mann, eifrig, pflichtbewußt und kantig. Nur diente er eben in einer lausigen Stadt – und einem System, das genauso lausig war.

Hier gibt’s Sachen, die gibt’s gar nicht, dachte Carberry und steckte sich nachdenklich die Pistole des Präfekten in den Gurt. Diesem Nußknacker hätte er zum Beispiel nicht das Genick umgedreht. Merkwürdig war das schon.

Was hatte er gesagt? Wenn das der König wüßte! Ha! Und wenn er’s wüßte? Würde das was ändern? Überhaupt nichts! Carberry schloß die Tür und schüttelte den Kopf.

Die letzte Befehlsausgabe: sie würde den Lebensnerv der Stadt treffen – das Silber. Der Bergwerksdirektor war dran, ein Mann, der über alles das herrschte und waltete, was den Cerro Rico betraf. Er machte sich nicht die Hände schmutzig, o nein! Er mordete vom Schreibtisch aus.

Er verfügte: soundso viele hundert Sklaven – oder Indio-Affen – zum Abbau des Silbers in den Stollen XYZ, soundso viele in den Stollen daneben, darunter oder darüber.

Aber der Stollen darunter ist bereits einsturzgefährdet, Señor Direktor!

Spielt keine Rolle!

Jawohl, er verwaltete den Tod, dargestellt in Strichlisten mit Zehnergruppen – zehn Striche gleich zehn Sklaven. Durchgestrichen wurde mit dem Lineal. Es bedeutete, daß wieder zehn Strichmännchen weniger für das Silber arbeiteten. In letzter Zeit war das Lineal immer häufiger benutzt worden.

Unerhört, wie diese Affen einfach wegstarben!

Wegstarben? Na ja, über die Art ihres Todes wurde nicht Buch geführt.

Bitte sehr, Señor, es ist doch völlig gleichgültig, an was diese Dingsda – äh – diese Wilden krepieren. Weil sie faul sind, müssen sie gezüchtigt werden. Hunger? Die fressen sowieso zuviel! Krankheiten? Mit denen müssen wir auch rechnen. Was sagten Sie – man müsse die Stollen besser absichern? Aber ich bitte Sie! Wir sind knapp an Holz! Das wäre reinste Verschwendung!

Der Señor Bergwerksdirektor setzte die täglichen Fördermengen fest, prüfte die Qualität des abgebauten Silbers, brütete über schematische Darstellungen des Berges, der kreuz und quer von Gängen zerfressen wurde, beutete die fetten Adern aus – und mochten sie auch noch so tief in den Berg führen oder gefährdet sein, trieb die Aufseher an, verlangte Sollerfüllung, drohte mit drakonischen Strafen, Verhängte für die Indios Trinkwasserentzug, kürzte Rationen, verweigerte ärztliche Hilfe bei Krankheiten oder Verletzungen – und sah selbst zu, sich die Taschen zu füllen.

Er war ein Mann mit einem spitzen Kinn, einem messerscharfen Mund, einer Geiernase und bösen kalten Augen. Jetzt waren diese Augen unstet und unruhig. Er ahnte wohl, daß noch einiges auf ihn zukam.

„Señor Jimeno“, sagte Don Ramón zu dem Geiernasigen, „Sie erhalten den Befehl, sämtliche Indios aus dem Berg holen und mit den Aufsehern hier in den Hof der Residenz bringen zu lassen.“

Der Geiernasige stand steif auf, zögerte und sagte dann: „Das – das bedeutet das Ende des Silberabbaus, Señor Gouverneur. Ich – ich bin verpflichtet, der Krone halbjährlich die festgesetzte Menge Silber zu liefern …“

„Geht es hier um die Einhaltung von Terminen – oder um mein Leben?“ fauchte der Dicke aufgebracht.

„Dieser Mann bleibt hier“, sagte Hasard scharf. „Er ist der unmittelbare Vorgesetzte des Luis Carrero, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte der Dicke.

„Legen Sie Ihre Waffen ab, Señor“, sagte Hasard kühl und richtete die Pistole auf den Geiernasigen.

Der Geiernasige zischte: „Und wenn ich mich weigere?“

Hasard zuckte mit den Schultern und sagte ironisch: „Das wäre dumm von Ihnen, denn Sie würden mich zwingen, Ihr Leben mit einer Kugel zu beenden. Ich könnte nicht behaupten, daß mir der Tod eines Massenmörders besonders nahegehen würde.“

„Ich bin kein Massenmörder!“ schrie der Geiernasige. „Das ist ja geradezu absurd!“

Carberry war fängst herangeschlichen und stand jetzt hinter dem Buchhalter des Todes. Er tippte ihm auf die Schulter. Der Geiernasige ruckte herum.

„Hier wird nicht geschrien“, sagte Carberry, griff zu, zog den Geiernasigen aus der Stuhlreihe, drückte ihn einarmig hoch in die Luft – und ließ ihn fallen, einfach so.

Der Geiernasige stauchte sich das Kreuz auf dem Mosaikboden, denn er prallte mit dem verlängerten Rückgrat auf, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, er sprang auf, seine Rechte zuckte zum Degen und riß ihn heraus.

Carberry sagte sanft: „Ich warne dich, Freundchen. Laß deinen Piekser fallen und sei friedlich. Du hast hier keinen wehrlosen Indio vor dir …“

 

Der Geiernasige stürmte auf Carberry zu. Der Profos glitt zur Seite und stellte den Fuß vor. Als der Fuß hakte, riß er ihn hoch. Im Schrägsturz landete der Kerl mit dem Kopf voran auf dem steinernen Boden, schrammte über ihn weg und sauste gewissermaßen auf seiner Geiernase und dem Spitzkinn über die spiegelnde Fläche, die nur von den Mörtelfugen unterbrochen war.

Diese Fugen waren es, die ihm die Haut auf Spitzkinn und Geiernase wegraspelten.

Spiegel, an der richtigen Stelle angebracht, haben die Eigenschaft, einen Raum zu vergrößern. Das hatte der Innenausstatter dieses Residenzsaales wohl auch im Auge gehabt, als er links und rechts der hübschen Kassettentür je einen Wandspiegel hatte aufstellen lassen, die bis zum Boden reichten. Zwei gleiche Spiegel standen gegenüber an der anderen Saalfront und noch je zwei an den beiden anderen Saalseiten.

Diese Spiegelorgie zwang die beleibten Señores bei Empfängen oder Lustbarkeiten, die hier des öfteren stattfanden, die Bäuche einzuziehen, während die Señoras und Señoritas von den Spiegeln verlockt wurden, ihre Oberweiten prangen zu lassen.

In den Spiegel links der Tür krachte der Geiernasige, durchbrach ihn und blieb stecken. Es regnete Spiegelscherben, die lustig funkelten und glitzerten – wie Silber.

„Der schöne Spiegel“, murmelte Carberry kopfschüttelnd. „Alles müssen diese Affenärsche kaputtmachen – erst die teure Marmorsäule mit der Büste unserer verehrten Majestät und jetzt dies! Man muß meinen, unter die Barbaren geraten zu sein. Und ich habe diesen Kerl noch gewarnt!“

Er zog den Geiernasigen an den Stiefeln aus dem zerborstenen Spiegel. Pater David umwickelte den Kopf des Kerls mit einer langen weißen Binde, bis er wie eine Mumie aussah, wie Carberry mißbilligend feststellte. Seit ihrer Nilreise hatte er etwas gegen Mumien. Die Mumie durfte weiter den Fußboden abhorchen.

„Ich schlage vor“, sagte Hasard zu Don Ramón, „Sie delegieren diese letzte Aufgabe an den Zweiten Bürgermeister, der mir dafür geeigneter erscheint als dieser Señor Jimeno.“

Der Zweite Bürgermeister sprang sofort auf, verbeugte sich vor Hasard und sagte: „Es wird mir eine Ehre sein, diese Order zu übernehmen.“

„Ich habe nichts dagegen“, sagte Don Ramón und nickte dem Zweiten zu. „Aber beeilen Sie sich.“

„Sehr wohl, Señor Gouverneur.“ Der Zweite Bürgermeister eilte hinaus.

Hasard winkte den wie Salzsäulen dastehenden Lakaien zu und sagte freundlich: „Ich habe nichts dagegen, wenn Sie den ehrenwerten Señores dieser Ratsversammlung ein Gläschen Wein einschenken, zumal ich die Absicht habe, auf Ihrer aller Wohl zu trinken!“

Die Lakaien flitzten und spielten Mundschenk. Das leise Klingen von Gläsern tönte durch den Saal und stimmte friedlich. Es gluckerte aus Kristallkaraffen, roter Wein floß in die funkelnden Gläser.

Als alle versorgt waren, hob Hasard sein Glas und sagte: „Señores, der elfte Vers im zweiundsechzigsten Psalm lautet: ‚Verlasset euch nicht auf Unrecht und Frevel, haltet euch nicht zu solchem, das eitel ist; fällt euch Reichtum zu, so hänget das Herz nicht dran.‘ Über diese Worte sollten Sie nachdenken. Ich trinke auf Ihr Wohl!“

Hasard trank, und sie taten ihm Bescheid. Pater David und Pater Aloysius lächelten versteckt. Die ehrenwerten Señores waren sehr verwirrt, betroffen oder gar nachdenklich.

Es wurde geklopft, und Carberry öffnete.

Der Stadtkommandant erschien, salutierte und meldete: „Truppe wie befohlen abmarschbereit auf der Plaza angetreten.“

„Danke, Don Alfonso“, sagte Don Ramón zu dem knebelbärtigen Mann. Er drehte sich zu Hasard. „Möchten Sie eine Musterung vornehmen, Señor Großadmiral?“

„Genau das“, erwiderte Hasard. „Die Señores der Ratsversammlung mögen sich nach Hause verfügen und ruhig verhalten. Der Señor Jimeno wird bei uns bleiben.“

Damit war die Ratsversammlung aufgelöst.