Seewölfe Paket 15

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2.

Auf dem staubigen Absackboden der alten Mühle, weit draußen vor der Stadt herrschte stickige, dumpfe Hitze. Die Sonne heizte die alte Mühle wie einen Backofen auf.

Hesekiel Ramsgate lag auf dem Absackboden, in Schweiß gebadet, nach Luft schnappend.

Der alte Schiffbaumeister war zäh, hart und ausgemergelt, und in seinen langen Jahren hatte er so manches erdulden müssen. Aber das hier schaffte ihn fast. Die staubige Hitze, der Durst, der Hunger und dann die vielen Schläge und Tritte der üblen Kerle, die es darauf anlegten, die Pläne der neuen „Isabella“ in ihren Besitz zu bringen.

Die Mühle war nicht mehr in Betrieb, schon lange nicht mehr. Innen hatten sich Schaben und Mäuse eingenistet und fraßen die letzten Reste Kleie aus den Ritzen. In einer der Schütten raschelte es wieder, obwohl da kaum noch etwas zu holen war.

Ramsgate war an einen Eichenbalken gekettet und konnte sich nur ein wenig bewegen.

Immer wieder sah er sich in seinem Gefängnis um, obwohl er es nun schon zur Genüge kannte. Er war noch nie hier gewesen, auch dann nicht, als die Mühle noch in Betrieb war. Weil ihn die Langeweile plagte, sah er sich jedoch immer wieder um. Staub, Spreu und verpappte Kleie bedeckten den Absackboden bis zur Schroterei. Die geriffelten Schrotwalzen waren verkleistert. Der Sichter war zusammengebrochen oder zerstört worden, und auch der Teil, wo der Grieß einstmals durch die Glattwalzen gelaufen war, war nur noch Schrott.

Sein Blick wanderte weiter über den Absackboden zur Sichterei und Putzerei mit dem Separator, wo Dreck und Spreu entfernt worden waren, wenn das Getreide hier eintraf. Nein, nirgendwo lag etwas herum, womit er sich aus seiner üblen Lage befreien konnte. Schon gar nicht in seiner Nähe.

Er lehnte sich wieder zurück und schloß die Augen. Durch das Binsendach fiel Sonnenlicht herein. Mäuse raschelten, und ein leichter Wind ließ die alte Mühle leise ächzen und stöhnen, als besänne sie sich auf alte, bessere Zeiten, wo sich das Mühlrad noch im Wind gedreht und die schweren Mahlsteine in Bewegung gesetzt hatte. Mitunter knarrte auch das alte Holz, dann hörten die Mäuse auf zu rascheln, und minutenlang kehrte absolute Stille ein.

Nach einer endlos langen Zeit hörte er ferne Stimmen und schrak hoch.

Die Halunken kehrten wieder zurück, um ihn zu piesacken, um ihn auszuhorchen, denn bisher hatte er sein Geheimnis noch nicht preisgegeben. Er schätzte den Seewolf und seine Männer und wollte nicht, daß ihnen Schaden entstand. Es war schon bedauerlich genug, daß die Arbeiten an dem neuen Schiff nicht vorangingen.

Er versuchte, auch die Stimmen zu unterscheiden, doch er vernahm nichts weiter als ein undeutliches Murmeln und Raunen, das aus allen Ecken zu ertönen schien.

Draußen unterhielten sich tatsächlich zwei Männer. Sie hatten sich lange und ausgiebig umgesehen, ob ihnen auch niemand gefolgt war.

Der eine der beiden Kerle war Samuel Taylor Burton, ein Todfeind des Seewolfs, der vor zwölf Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte. Burton war ehemals Friedensrichter von Plymouth gewesen, bis Hasard seine Machenschaften aufgedeckt hatte. Er hatte sich an dem Kronschatz bereichern wollen, an der unermeßlichen Beute der Seewölfe, und war gescheitert. Lange Jahre siechte er dahin, doch er genas wieder, ging nach Plymouth zurück und nahm ein undurchsichtiges Leben auf. Man sagte ihm nach, daß er die Hände in allerlei dunklen Geschäften habe und auf irgendwelchen miesen Wegen Rüstungsgüter und Ausrüstungen der britischen Flotte verschiebe. Wie, das war ihm nicht nachzuweisen, Burton hing jedenfalls in dem Geschäft mit drin.

Der andere war der ehemalige Tower-Hauptmann Mark Bromley, der damals ebenfalls klebrige Finger gehabt hatte. Er wurde erwischt und zu zehn Jahren schweren Kerkers verurteilt. Bis auf den letzten Tag hatte er sie absitzen müssen.

Seitdem hatte der ehrenwerte Exhauptmann einen leichten Knacks weg, denn die zehn Jahre Tower hatten sein Leben geprägt. Er sah ständig Gespenster, hörte Ratten in seiner Nähe umherhuschen und litt ewig unter Hunger, selbst wenn er übersättigt war. Das war auch so eine Marotte von ihm, sich ständig vollzufressen, bis nichts mehr in ihn hineinging. Doch selbst dann noch plagte ihn die Vorstellung eines leeren Magens. Er nahm auch nicht zu, er blieb so dürr und mager wie eh und je.

Mark Bromley hatte auch noch einen anderen Fimmel, ebenfalls eine Auswirkung von damals. In seinem Haus in Falmouth hortete er Lebensmittel, und zwar in solchen Mengen, daß er damit eine ganze Kriegsgaleone hätte ausrüsten können. Vieles von dem gehorteten Proviant war verschimmelt und stank entsetzlich, doch das störte Bromley nicht. Die Hauptsache, das Zeug war da und er brauchte nie mehr Hunger zu leiden, denn das war eine seiner übelsten Erfahrungen im Tower gewesen.

Seit er vor zwei Jahren entlassen worden war, hegte er nur noch fiebrige und wirre Rachegedanken gegen die Seewölfe. Jahrelang hatte er sich ausgemalt, was er alles mit jedem einzelnen tun würde, sollte er ihnen jemals wieder begegnen. Bromley war also ein Wirrkopf, vom Haß zerfressen, von unglaublichen Vorstellungen geplagt und gepeinigt und von Gespenstern erschreckt, die ständig hämisch kichernd um ihn herum waren. Er hatte unsägliche Angst vor totaler Finsternis, und er scheute andererseits aber auch das grelle Sonnenlicht, das er so lange vermißt hatte.

Die beiden Halunken hatten sich gesucht und gefunden, obwohl sie sich nicht richtig ergänzten, und Burton mußte den Übereifer und die Phantasie des ehemaligen Hauptmanns manchmal gewaltsam zügeln, denn der rückte mit den unglaublichsten Vorschlägen heraus.

Burton hatte ihn auch vor einer sehr „grandiosen“ Idee bewahrt. Bromley hatte vor, das Schiff der Seewölfe nachts anzubohren, alle Ausgänge schnell mit Brettern zu vernageln, damit keiner mehr herauskonnte, und dann zuzusehen, wie sie absoffen. Das war nur einer seiner merkwürdigen Einfälle. Ein anderer war der, in Plymsons Kneipe Löcher in die Wände bohren zu lassen, Musketen hindurchzustecken und die Seewölfe durch eine Handvoll ausgebildeter, guter Schützen abzuknallen. Samuel Taylor Burton hatte ziemlich lange gebraucht, um ihm diesen Unsinn auszureden.

Auch die Idee mit den tausend halbverhungerten Ratten, die er auf das Schiff schmuggeln wollte, hatte er abgelehnt.

„Wenn er heute nicht redet“, sagte Bromley eifrig, „dann erkläre ich ihm, wir hätten seine Frau geschnappt und würden sie umbringen.“

„Er hat doch gar keine Frau, Mark.“

„Ach ja, richtig. Er hatte aber mal eine.“

„Das nützt uns doch jetzt nichts mehr, sie ist längst tot“, sagte Burton geduldig und kratzte seinen grauen Bart.

„Ich weiß gar nicht, warum du auf die Pläne so versessen bist, Sam. Wir könnten ganz anders vorgehen, das dauert alles viel zu lange.“

„Es geht nicht nur um die Pläne, Mark, das habe ich schon hundertmal gesagt. Es geht auch um die Beute, die die Kerle mitgebracht haben. Sie besitzen Gold, Silber und Edelsteine, das ist sicher, sonst wären sie gar nicht in der Lage, ein solch großes Schiff zu finanzieren. Also sind sie reich. Und ich will nicht nur meine Rache, ich möchte mir für meine restlichen Tage in diesem Jammertal etwas zurücklegen, um nicht zu hungern. Du willst doch auch nicht hungern, oder? Mit dem Gold hättest du für alle Zeiten ausgesorgt.“

Damit hatte er Bromleys empfindlichsten Punkt getroffen.

„Hungern?“ sagte der entsetzt und mit flackerndem Blick. „Nein, ich will nie mehr hungern. Zwanzig Jahre habe ich gehungert.“

„Zehn waren es genau.“

„Mir kam es länger vor. Nein, du hast ganz recht, Sam. Ich habe mir soeben überlegt, daß ich mir mit dem Geld einen riesigen Bunker bauen könnte, in dem ich Lebensmittel einlagere, so viel, daß es bis an mein Lebensende reicht.“

Burton kannte diesen Spleen und konnte ihn Bromley nicht einmal verübeln. In gewisser Weise verstand er das.

„Die Pläne sind ebenso wertvoll“, erklärte er dem spinnerten Exhauptmann geduldig. „Einen Gegner, den man genau kennt, besiegt man besser als einen anderen. So ist es auch mit dem neuen Schiff, wenn es ihnen gelingt, es zu bauen. Dieses Schiff wird viele unbekannte Verstecke haben, aber sicher auch einige schwache Stellen, und es wird nach seiner Rückkehr wieder mit Gold und Edelsteinen beladen sein. Kennt man aber alle geheimen Gänge, Kammern oder Fallen, so kann man eine andere wohlüberlegte Strategie entwikkeln. Das ist so wie bei dem Einäugigen, der unter den Blinden König ist. Auf einem Schiff aber, das wir nur von außen sehen, können wir nichts ausrichten. Schon gar nicht bei dieser Mannschaft von lebenden Feuerteufeln.“

„Ja, Feuerteufel, das sind sie“, sagte Bromley voller Haß. „Denen habe ich das alles zu verdanken. Den Hunger, die Krankheiten, die Ratten, das schlechte Wasser. Sie sind an allem schuld.“

Auch das war Bromleys Philosophie. Natürlich waren die anderen schuld. Hätten sie ihn mit der Beute ziehen lassen, wäre seiner Meinung nach alles in Ordnung gewesen. Weshalb waren sie auch so knickrig, sie hatten ja genug von dem Zeug. Also trugen sie die Schuld an seinem Unglück.

„Gehen wir“, sagte Burton jetzt ungeduldig.

Diesen letzten Satz hörte auch Ramsgate, und die Angst stieg wieder in ihm hoch. Dann befanden sich die beiden Kerle vor ihm und glichen Riesen, die auf ihn niederschauten.

„Hoffentlich hast du heute deine Sprache wiedergefunden, Alter“, sagte Burton anstelle einer Begrüßung. Er ging in die Hocke und sah Ramsgate in die Augen. Bromley stand mit verkniffenem Gesicht daneben und wartete ungeduldig.

„Durst“, sagte der alte Schiffbauer mit schwacher Stimme, und diesmal brauchte er sich wirklich nicht zu verstellen, denn er hatte Durst.

 

„Durst“, wiederholte Burton höhnisch. „Du wirst noch viel mehr Durst haben, viel mehr. Der Durst wird dich auffressen und in deinen Eingeweiden wühlen. Aber ich kann dir frisches Wasser bringen, kühles, gutes Brunnenwasser. Du brauchst nur das zu erzählen, was wir gern wissen möchten. Willst du klares, kaltes Wasser?“

Ramsgate wußte, daß er wirklich nur dann etwas zu trinken erhielt, wenn er den Kerlen alles verriet. Er fragte sich nur, was dann anschließend wohl mit ihm geschehen würde.

Vor seinem geistigen Auge tauchte die sehnige Gestalt des Seewolfs auf, der Mann mit den langen schwarzen Haaren, der Narbe über der Stirn, den weißen Zähnen, dem verwegenen Lächeln. Ein Mann, der weiträumig dachte, grundanständig und ehrlich war, nicht wie diese abgetakelten Halunken, gar kein Vergleich. Den sollte er wegen einer Muck voll Brunnenwasser verraten?

Er lächelte abwesend, schloß die Augen und lehnte sich an den Eichenbalken zurück.

„Wo bin ich eigentlich?“ fragte er heiser. „Seid ihr die Teufel aus der Hölle? Und wer ist die alte Frau dort?“ Er kicherte laut und öffnete die Augen. „Satans Großmutter!“ schrie er, so daß Bromley entsetzt zurückzuckte.

„Der ist ja verrückt“, sagte Bromley gepreßt. „Der hat wirklich nicht mehr alle da oben drin.“

„Oder er tut nur so“, meinte Burton und gab dem Alten einen Tritt.

Ramsgate ließ auch das über sich ergehen. Er hatte schon so viele Tritte erhalten, daß er sie nicht mehr zählen konnte.

„Die Teufel aus der Hölle piesakken mich!“ rief er laut mit schriller Stimme und begann hämisch zu lachen.

Diesmal zuckte auch Burton zurück und betrachtete Ramsgate voller Entsetzen. Vielleicht hat sich doch der Geist des Alten verwirrt, dachte er. Ein Schlag zuviel nur, das brachte mitunter einiges im Oberstübchen durcheinander.

„Hör zu, Alter!“ brüllte er den Gefangenen an. „Überlege dir das alles lieber genau. Du kannst hier krepieren, und du bleibst so lange in dieser – äh – Ecke, bis dich die Ratten fressen. Und nachher schicke ich deinen rothaarigen Freund, der wird dich ein bißchen mit einer glühenden Zange zwicken, bis dein Geist wieder klar wird.“

„Lieber Gott, steh mir bei!“ kreischte Ramsgate. „Ich habe viel gesündigt in meinem Leben, aber nimm diese Teufel weg. Und fort mit dem alten, fürchterlichen Weib da!“

Sein Gekreische fuhr Mark Bromley so in die Knochen, daß er sich zitternd an einen Balken lehnte und Ramsgate aus weit aufgerissenen Augen voller Entsetzen anstarrte.

Vor Leuten, deren Geist umnebelt war, fürchtete er sich auch, denn alle, die nicht ganz richtig im Kopf waren, standen auf geheimnisvolle Weise mit dem Satan im Bunde. So jedenfalls hatte er es damals im Kerker immer gehört. Diese Leute verstanden es auch, sich mitunter in Luft aufzulösen oder durch die Luft zu fliegen.

Burton war zwar auch durch das Geschrei etwas beeindruckt, aber er behielt wenigstens die Übersicht.

„Kreisch nur, du alter Kerl“, drohte er, „das wird dir bald vergehen. Spätestens morgen wirst du winseln und dir wünschen, nie geboren zu sein.“

Dann wandte er sich verärgert an Bromley.

„Aus dem kriegen wir heute nichts mehr heraus. Das soll John übernehmen. Gehen wir.“

„Er – er hat den bösen Blick“, stammelte Bromley. „Vielleicht verhext uns der Kerl.“

„Quatsch!“ sagte Burton grob, aber so ganz sicher war er sich seiner Sache auch nicht. Er warf einen Blick auf Ramsgate und schluckte. Zum Fürchten sieht der Kerl wirklich aus, dachte er. Unrasiert, schmal, mit verkniffenem Gesicht und keifender Stimme saß der Mann vor dem Balken und rollte mit den Augen. Dazwischen lachte er schrill, daß es Burton kalt über den Rücken rann.

„Wo sind die Pläne?“ brüllte er noch einmal wütend. „Und wo hat der Hundesohn von einem Killigrew das Gold versteckt?“

Hesekiel Ramsgate begann nun schrecklich zu lachen. Er klirrte mit seinen Fesseln und rollte mit den Augen.

„Hölle, Teufel!“ kreischte er. „Der Satan ist los. Er holt uns jetzt mit Feuer und Schwefel!“

„Der ist tatsächlich verrückt“, murmelte Burton betroffen und tastete sich, langsam rückwärts gehend, an den Balken vorbei, bis er die große Tür erreichte. Bromley schlich neben ihm her, den Blick starr und voller Furcht auf Ramsgate gerichtet.

Als sie draußen waren, begann Bromley zu rennen, denn aus der Mühle drang immer noch das keifende Gelächter des Mannes, von dem sie annahmen, sein Geist sei umnachtet.

Ramsgate aber lehnte sich erschöpft und keuchend zurück, als die beiden Halunken verschwunden waren. Er litt entsetzlich unter dem Durst, und das Spektakel hatte ihn ebenfalls angestrengt. Aber es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Schweiß stand in dicken Tropfen auf seiner Stirn. Er überlegte immer, noch angestrengt, ob er die beiden nicht schon einmal gesehen hatte. Der Kerl mit dem grauen Bart war ihm irgendwie bekannt, aber er konnte ihn nicht einordnen. Den anderen kannte er nicht, außer von den gestrigen Besuchen, aber er entsann sich nicht, ihm vorher schon mal begegnet zu sein. Sie faselten ständig von irgendwelchen Schätzen, von denen er selbst nichts wußte, und dann waren sie aus einem ihm ebenfalls unbekannten Grund hinter den Bauplänen des neuen Schiffes her.

Nein, dachte er, er würde das Geheimnis nicht preisgeben, und wenn sie ihn erschlugen. Er war ein alter Mann und hatte den größten Teil des Lebens hinter sich. Verriet er den Halunken die Pläne, dann mußten jüngere sterben, der Seewolf und einige seiner Männer vielleicht. Und an denen hing er wie ein Vater an seinen Söhnen.

Er versank wieder in Grübeleien. Dann, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, hörte er erneut Schritte. Einer seiner Bewacher war da, einer der Kerle, die aufpaßten, daß er nicht verlorenging.

Hesekiel Ramsgate spielte seine Rolle weiter als alter Mann, dem die Schläge auf den Kopf leicht geschadet hatten und dessen Geist ein wenig verwirrt war. Vor Verrückten hatten fast alle ein bißchen Angst, ganz besonders aber jene, die so abergläubisch waren.

3.

Immer noch gab es trotz der hohen Belohnung keinen einzigen Hinweis auf Hesekiel Ramsgate. Beim dicken Plymson, dem Wirt der „Bloody Mary“, war ebenfalls noch kein Tip eingegangen.

In der Kneipe stand nur ein mürrischer Sargtischler, der zwar auf die Belohnung scharf war, aber leider auch nichts wußte oder gehört hatte.

Philip Hasard Killigrew und Dan O’Flynn verließen den Laden wieder. Auf ein Getränk hatten sie verzichtet.

„Jetzt weiß ich mir bald keinen Rat mehr“, sagte Hasard, als sie wieder draußen im Sonnenschein an der Ekke Millbay Road standen. „Fast glaube ich, man hat den armen alten Mann umgebracht.“

„Aber wer, zum Teufel, hat denn ein Interesse daran?“ fragte Dan.

Hasard zuckte mit den Achseln.

„Ich weiß es nicht, Dan. Es ist nur so ein Gedanke.“

„Ob das mit der Belohnung schon in ganz Plymouth durch ist?“ fragte Dan.

„Sicher, ganz bestimmt. Fünfzig Golddublonen sprechen sich herum. Da wird jeder Augen und Ohren offenhalten.“

„Trotzdem sollten wir uns noch ein wenig in weiteren Kneipen umhören“, meinte Dan. „Wir haben ja Zeit und können eine nach der anderen abklappern.“

„Kein schlechter Gedanke“, sagte der Seewolf. Er blieb noch einen Augenblick stehen, sah die Millbay Road entlang und blickte dann in die St. Mary Street. Ein kleines Lächeln erschien zuerst in seinen Augenfalten, dann setzte es sich fort und erreichte die schmalen Lippen.

Dan O’Flynn war dem Blick Hasards gefolgt, sah das leicht wehmütige Grinsen und grinste dann auch.

Beide blickten sich erst wortlos an, dann lachten sie.

„Junge, Junge“, sagte Dan fast andächtig. „Hier hat alles einmal angefangen, hier haben wir uns bei einer Mordsprügelei kennengelernt und sind bei Francis Drake auf der ‚Marygold‘ gelandet.“

„Fünfzehnhundertsechsundsiebzig war das“, sagte Hasard.

„Im Oktober“, setzte Dan gedankenverloren hinzu. „In einer kalten, rauhen Nacht. Da bin ich von zu Hause ausgekniffen, weil ich Sargtischler werden sollte. Und da oben hinein“, sagte er lachend, „hast du einen Mann in ein Schlafzimmer gefeuert. Du hieltest ihn bei den Stiefeln und hast ihn rumgeschlenkert. Und auf einmal war er weg und landete genau in jenem Zimmer dort.“

Ja, damals hatte es einigen Aufruhr gegeben. Der Kerl, der ihm aus den Stiefeln gerutscht war, landete bei einer Witwe im Schlafzimmer, und von dieser Nacht sprachen die Leute von Plymouth sogar noch heute und konnten sich eines leichten Schauers nicht erwehren.

Allerdings waren Hasard und Dan anschließend kämpfend untergegangen und auf der „Marygold“ gelandet, als Gepreßte! Ein Witz war das gewesen, denn dort wollten sie freiwillig hin.

Hasard nickte lächelnd.

„Eine lange Zeit ist das her“, sagte er. „Gut, sehen wir uns einmal in Plymouth um, vielleicht haben wir Glück.“

Hinter ihnen blieb der Hafen zurück. Die Masten der „Pride of Galway“ wurden kleiner, dann winzig, schließlich verschwanden sie in dem Gewirr der Häuser. Die beiden Männer gingen weiter.

Es war heller Vormittag, die Sonne schien, Pferdefuhrwerke begegneten ihnen auf dem Katzenkopfpflaster. Die Bauern waren längst auf den Feldern. Die Atmosphäre war friedlich und beschaulich.

Hinter dem Marktplatz kamen sie an dem dreibalkigen Galgen vorbei, den man schon vor über dreißig Jahren errichtet und hin und wieder auch benutzt hatte. Aber heute hing niemand daran.

In der ersten Schenke hielt sich niemand auf. Den Wirt fanden sie draußen auf dem Hof, wo er kraftvoll Holz hackte.

„Das mit den Golddublonen hab ich schon gehört“, sagte er auf Hasards Frage. „Ich weiß auch, wer Sie sind, Sir. In Plymouth erzählt man ja laufend von Ihnen. Aber wenn ich was wüßte, dann hätte ich mir schon die Hacken abgerannt, können Sie mir glauben, Sir.“

Die nächste Kneipe war ebenfalls nicht ergiebig. Alle beteuerten, daß sie von der Belohnung wußten und die Augen offenhalten würden, aber leider – leider.

Auch in einer Fuhrmannskneipe konnte man ihnen nicht helfen, obwohl die Augen vor Gier glänzten, wenn von der Belohnung gesprochen wurde.

Das nützte ihnen alles nichts, so gelangten sie nicht weiter. Es war zum Verzweifeln, und es schien, als sei Hesekiel Ramsgate spurlos im Erdboden versunken.

Eine Kneipe nach der anderen klapperten sie ab, bis es langsam Mittag und damit Essenszeit wurde. Aus den Küchen der Schenken roch es nach Kohl und Gemüse, hin und wieder auch nach Fisch, ganz selten jedoch nach gebratenem Fleisch.

„Damit hätten wir den größten Teil der Kneipen durch“, sagte Dan. „Ich kenne nur noch zwei oder drei. Vielleicht wäre es abends doch ergiebiger gewesen.“

Hasard gab keine Antwort. Er zeigte auf eine roh zusammengehauene Bank, die im Schatten unter zwei mächtig ausladenden Lindenbäumen stand. In dem Baum zwitscherten Vögel, eine Katze hockte schläfrig auf dem Boden und blinzelte.

Hinter ihnen befand sich der Schuldturm von Plymouth, das Gefängnis für Leute, die nicht in der Lage waren, ihre Schulden zu bezahlen. Konnten sie das nicht, dann wanderten sie in das Gefängnis. Dort konnten sie ihre Schulden erst recht nicht bezahlen, weil sie dazu keine Möglichkeit mehr hatten.

Der Schuldturm war ein verwittertes Backsteingebäude mit einem trockenen, staubigen Hof. Alles war durch Schmiedeeisen abgegittert, selbst über den Hof war ein Gitter gespannt.

Wer hier einmal drinsaß, dessen Schulden vermehrten sich laufend durch die anfallenden Zinsen, und es wurde immer unwahrscheinlicher, daß er jemals wieder in die Freiheit zurückkehrte. Hier war das Essen schlecht, im Winter wurde kaum geheizt, und viele Leute waren hier schon elend gestorben.

Aus den Augenwinkeln blickte Hasard einmal kurz in den kaum einzusehenden Hof. Ausgemergelte, apathische Gestalten in zerfetzter Kleidung hockten teilnahmslos auf dem staubigen Boden und dämmerten dem nächsten für sie genauso hoffnungslosen Tag entgegen.

Ein unangenehmes Gefühl überlief den Seewolf wie immer, wenn er Menschen sah, denen man die Freiheit genommen hatte. Leute, die keine Aussicht hatten, das geschuldete Geld abzuarbeiten. Viele von ihnen waren schuldlos in Not geraten, und jetzt hockten sie hier und warteten, warteten. Die meisten waren so abgestumpft, daß sie gar nicht mehr bemerkten, was um sie herum vorging. Sie hockten nur einfach auf dem Boden, warteten und starrten in den Staub und Schmutz.

 

„Ein Scheißleben ist das“, sagte Dan, dem Hasards schneller Blick nicht entgangen war. „Ein Nachbar von uns hat zwei Jahre lang im Schuldturm von Falmouth gesessen, wegen einer lausigen Handvoll Copper, die er nicht bezahlen konnte. Daheim hungerten seine Kinder, und im Laufe der zwei Jahre wurden aus der Handvoll Copper mehrere Goldstücke. Die konnte er erst recht nicht bezahlen, und so blieb er noch ein halbes Jahr drin. Dann starb er, und als seine Frau davon erfuhr, hängte sie sich auf dem Dachboden auf. Damit war dann allen gedient, die Schulden wurden nie bezahlt, und es gab zwei Tote.“

„So ist das Gesetz“, meinte Hasard. „Wir werden nichts daran ändern. Hier sitzen aber auch Säufer, Schnapphähne und solche, die sich das Geld auf recht üble Weise erschlichen haben.“

Zwei junge Sperlinge flatterten aus der einen Linde und hockten sich in den Staub, um darin zu baden. Die Katze richtete sich auf, schlich auf Samtpfoten näher und belauerte die jungen Spatzen.

Dan O’Flynn zog sie ein bißchen am Schwanz, und damit war die Idylle beendet. Die Katze fauchte, die Sperlinge zogen ab.

„Vielleicht war das ihr Mittagessen“, sagte Hasard lächelnd.

„Na, wenn schon! Die soll sich um Mäuse kümmern, von dem Viehzeug gibt es noch viel mehr.“

Da war irgendwo ein Stimmchen, schwach und verwehend.

„Killigrew!“ tönte es jetzt etwas deutlicher.

„Ramsgate“, sagte Hasard spontan und stand auf. Er blickte zu dem schmiedeeisernen Gitter des Schuldgefängnisses hinüber und kniff die Augen zusammen, um gegen das Sonnenlicht besser sehen zu können. Auch Dan war aufgestanden und blinzelte zu dem Tor.

Ein Mann stand dort, dem das Sonnenlicht in den Rücken fiel. Er hatte beide Hände um das Gitter geklammert und blickte zu ihnen. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, die Sonne zauberte lediglich einen grellen Reflex um seinen Schädel.

Nein, natürlich war es nicht Ramsgate, der da stand. Wie hätte er auch hier im Schuldgefängnis landen sollen?

„Hasard!“ rief die Stimme des Mageren jetzt. „Killigrew. Bist du nicht der Mann, den sie den Seewolf nennen?“

„Jetzt packt’s mich aber“, sagte Hasard. „Wer ist das denn?“

„Keine Ahnung“, sagte Dan kopfschüttelnd.

Hasard hatte nicht die geringste Vorstellung, wer ihn da rufen konnte. Hier, im Schuldgefängnis von Plymouth, da war er sich ganz sicher, kannte er ganz bestimmt keinen Menschen. Aber jetzt hatte ihn doch die Neugier gepackt, und er trat näher an das Gitter heran, das den dahinterliegenden Hof abtrennte.

Alle beide blickten dem fremden Mann ins Gesicht. Jetzt, als er den Kopf leicht zur Seite wandte, sahen sie ihn deutlich.

Da stand er in all seiner Traurigkeit, mit einem griesgrämigen Gesicht und einem Ausdruck in den Augen, als müsse er alle seine Freunde persönlich beerdigen. Wie ein Leichenbitter stand er da, und nun trat in seine Augen ein Ausdruck der Freude. Aber es war eine Freude, wie sie ein Sargträger empfinden und ausdrücken mochte, wenn er die schwere Kiste endlich absetzen konnte.

Mac Pellew!

Mac Pellew, Schiffskoch, Feldscher und Bader der „Marygold“ unter Sir Francis Drake, der Mann, der Zähne zog, Knochen flickte, Schweine abstach und doch auf seine Art ein Genie war.

Sein Gesicht war etwas faltiger geworden, aber es war immer noch so grämlich verzogen wie in alten Zeiten.

„Hasard“, sagte er leise und tief bewegt. Sein Blick huschte schnell über Dan, dann kehrte er zu Hasard zurück.

Der Seewolf war so verdutzt, daß es ihm sekundenlang glatt die Sprache verschlug. Er konnte es einfach nicht glauben, doch die Tatsachen bewiesen es nur allzu deutlich: Da stand Mac Pellew, daran biß keine Maus einen Faden ab, der gute alte Mac Pellew.

„Mann, Mac Pellew!“ sagte Hasard kopfschüttelnd.

Der alte Griesgram schniefte tief bewegt. Dann griff er durch das Gitter und schüttelte dem Seewolf zaghaft die Hand. Er war so gerührt, der gute Mac, daß er nur sehr mühsam Worte fand. Trotzdem ging sein Blick immer wieder zwischen den beiden Männern hin und her.

Dan O’Flynn hatte ihn ebenfalls längst erkannt, aber bei Mac dauerte das noch ein Weilchen.

„Das ist Dan O’Flynn“, sagte Hasard.

„Das Bürschchen?“ fragte Mac und fuhr zurück, als hätte ihn eine Natter gebissen. „Waaas – du bist der junge O’Flynn?“ fragte er gerührt. „Der mit der Kodderschnauze, der immer soviel fraß?“

„Genau der“, sagte Dan grinsend. „Nur etwas größer und älter geworden, Mac.“

Pellew schüttelte den Kopf, wandte sich halb zur Seite und begann wieder zu schniefen.

Und dann sagte der mit der „Kodderschnauze“: „Weißt du noch, wie ich dich immer beklaut habe, Mac“, und das rührte Mac noch mehr, und er schniefte noch lauter.

Sie ließen ihm Zeit, sich zu beruhigen, denn sie selbst brauchten auch eine ganze Weile, so unverhofft hatte das Wiedersehen nach vielen langen Jahren stattgefunden.

Dann, zum erstenmal, setzte sich ganz scheu und zaghaft ein Lächeln in dem Gesicht des Mannes fest, der sonst immer so aussah, als hätte er gerade an der Essigkruke genascht.

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, stammelte er. „Wenn ich euch hier vor mir sehe, dann steigt bei mir schlagartig die ganze Erinnerung auf. Plymouth, die ‚Marygold‘, Drake, der Profos, Gordon Brown, den sie damals an die Rah gehängt haben. Was ist aus diesen Leuten und vor allem aus euch geworden?“

„Das ist eine lange Geschichte“, sagte Hasard. „Man kann sie nicht mit ein paar Sätzen schildern. Aber die Kerle sind alle noch am Leben, bis auf Buck Buchanan, den hat es damals erwischt. Allen anderen geht es gut, sie sind hier in Plymouth.“

„Und Hasard ist von der Königin zum Ritter geschlagen worden“, erklärte Dan grinsend. „Das hat sich auch geändert.“

Mac Pellew wich einen Schritt zurück.

„Oh, das …, Verzeihung, Sir, das konnte ich nicht wissen, Sir.“

„Nun brech dir mal nichts ab“, sagte Hasard gemütlich, „das galt der ganzen Mannschaft und nicht nur mir allein.“

Ganz unbewußt blickte er dabei auf Mac Pellews Kleidung. Die Leinenhose, die er trug, hatte vor Jahren auch schon mal bessere Tage gesehen. Das Hemd war löchrig, verdreckt und so dünn, daß er wohl kaum noch wagen konnte, es auszuziehen, sonst wäre es vermutlich in tausend Fetzen zerfallen. Seinen Bartstoppeln nach hatte er sich seit mindestens zehn Tagen nicht mehr rasiert, aber das besorgte hier anscheinend ein Bader, der nur alle zwei Wochen erschien.

Alles in allem sah Mac abgerissen, verhärmt, etwas dürr und unendlich griesgrämig aus. Aber in seinen Augen leuchtete ein Feuer. Nein, es war keineswegs die Hoffnung, hier herauszukommen, es war lediglich die unverhoffte Freude, alte Bekannte wiederzusehen. Daß ihn hier jemand herausholte, damit rechnete Mac im ganzen Leben nicht.

Hasard hatte seinen Entschluß jedoch schnell gefaßt. Die Crew war größer geworden, und voraussichtlich würde sie sich noch weiter vergrößern. Der Kutscher konnte das alles allein nicht mehr schaffen, und so war sein Entschluß spontan gefaßt.

„Warum bist du hier, Mac?“ fragte er.

Mac klammerte sich noch fester an die Gitterstäbe. Jetzt sah er wieder wie ein Sargträger aus, der ein paar Freunde zu Grabe trägt.

„Das ist schnell erzählt“, erwiderte er mit Leichenbittermiene. „Ich wollte selbständig werden und mir eine kleine Kneipe kaufen, aber dazu reichte mein Geld nicht. Vier Goldstücke fehlten mir, und die borgte ich mir von einem Wucherer. Ich wußte nicht, daß der Kerl ein Betrüger war. Er verlangte recht hohe Zinsen, doch ich war sicher, das Geld auch bald zurückzahlen zu können. So ging ich vor Freude mit dem Wucherer in meine künftige Kneipe hier in Plymouth und lud ihn zu einem Glas ein. Doch dann setzten sich ein paar andere Kerle dazu und gossen mir etwas in den Wein. Danach erging es mir so ähnlich wie den Seeleuten bei Plymson. Ich fiel um, war aber nicht auf ein Schiff gepreßt, sondern wachte mit einem Brummschädel in der Gosse auf.“