Es war einmal ein kleines Mädchen ...

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„Ich habe sie nie als Tochter im Stich gelassen, aber jedes Mal, wenn sie trinkt und mir wehtut, lässt sie mich als Mutter im Stich. So war es schon mein ganzes Leben lang.“

– aus Brookes Tagebuch


Meine Mutter hatte nie irgendwelche konkreten Karrierepläne für ihre Tochter. Wir ließen uns irgendwie einfach treiben und ließen alles auf uns zukommen. An einem Tag stand ich für eine Aufklärungskampagne bezüglich Teenager-Schwangerschaften Modell und am nächsten schon für eine unglaubliche Werbeanzeige in einem Magazin wie etwa Life, wofür ich in einem Badeanzug neben Lisanne, selbst Model und eine gute Freundin von mir, posierte. Es wurden ein paar Werbespots mit mir gedreht und ich war bereits in drei Filmen aufgetreten, aber wir hatten keine Ahnung, ob ich nun eigentlich Model, Schauspielerin oder Sprecherin für gute Zwecke wäre. So nebenbei bemerkt, denke ich, dass dieser facettenreiche Ansatz stets sowohl Fluch als auch Segen war. Ich arbeite in einer Branche, die es liebt, Talente in Kategorien einzuteilen und zu schubladisieren. Vielseitig zu sein, bedeutet für manche, dass man zwar vieles ganz gut kann, nichts davon aber wirklich beherrscht. Das führte in meinem Fall zu einer äußerst vielschichtigen Karriere, aber manchmal wirkte es sich auch auf seltsame und frustrierende Weise beschränkend aus.

Aber damals, als wir gerade am Anfang standen, war jeder Job gleichbedeutend damit, dass Mom und ich uns etwas kaufen konnten. Als ich so arbeitete und verdiente, waren wir beide langsam dazu in der Lage, uns Dinge wie Autos, Eigenheime, Schmuck und Urlaube leisten zu können. Wir hantelten uns von Angebot zu Angebot und dachten nie groß darüber nach, wie sich jedes Projekt auf meine Karriere als Ganzes oder mein Image auswirken würde. Mom hatte auch nie konkrete Ziele, die wir verfolgten. Die Kriterien, nach denen ich ein Angebot annahm oder nicht, lauteten im Prinzip: Lässt es sich mit der Schule vereinbaren? Wird es eine lustige Erfahrung und vielleicht mal etwas anderes? Bringt es gutes Geld ein?

Ich erinnere mich nicht daran, dass es jemals darum ging, was für eine Art Film eigentlich gedreht würde, was für Leute mit von der Partie wären oder ob ein spezifischer Film oder irgendein Projekt mich als Darstellerin in eine bestimmte Kategorie befördern würde. Mom und ich wogen niemals ab, ob ein Angebot Sinn im Kontext meiner weiteren Karriere machen würde. Sie dachte nie wirklich daran, mein Talent zu fördern oder mich anzuspornen, Schauspielerei zu studieren. Viel eher schien es, als würde Erfolg einfach in Besitztümern und Popularität gemessen werden.

Schon früh wurde klar, dass es nicht viele Schauspielerinnen gab, die wie ich aussahen. Die Leute sagten immer, dass ich über einen einzigartigen Look verfügte. So viel ich auch im Bereich der Printmedien arbeitete, ich sah immer noch nicht „amerikanisch“ genug aus, was im Fernsehen und beim Film gefragt war. Ich wurde regelmäßig abgewiesen, weil ich nicht wie ein sommersprossiges Kind aus einer ländlichen Gegend aussah. Ich war immer noch zu „europäisch“.

Wie eigenartig ist da eigentlich, dass man mich einst „Amerikas Liebling“ nennen sollte? Gab sich Mom bewusst Mühe, diese frühen Eindrücke zu korrigieren? Das glaube ich nun wirklich nicht. Ich war ganz sicher nicht Shirley Temple und obwohl man mich immer gerne mit Elizabeth Taylor verglich, bot sich mir kein filmisches Vehikel wie in ihrem Fall Kleines Mädchen, großes Herz, um mich als typisches Mädchen von Nebenan zu zeigen.

Als mich schließlich ein renommierter französischer Filmemacher anrief, um mich wegen einer Hauptrolle in seinem ersten amerikanischen Film zu treffen, räumte mir Mom immerhin eine Außenseiterchance ein.

Warum auch nicht? Mom liebte europäische Filme und Regisseure und sie hatte mir bereits Werke von Fellini und anderen vorgeführt. Sie schien die künstlerische Ebene, die sie repräsentierten, zu begreifen. Auch betonte sie immer gerne, dass sie Frauen wie Catherine Deneuve, Ingrid Bergman und Sofia Loren für die stilvollsten, schönsten und talentiertesten Schauspielerinnen überhaupt hielt. Ich glaube auch, dass sie sich wünschte, sie würde ihnen in puncto Eleganz, Format und Aussehen etwas ähnlich sein. Persönlich hielt ich Mom für schöner als jede einzelne von ihnen.

Es wurde ein Treffen vereinbart und zum Glück war Louis Malle nicht an einem „typisch amerikanischen“ Look interessiert.

Der Film sollte den Titel Pretty Baby tragen und die Geschichte des Fotografen E. J. Bellocq erzählen, der im frühen 20. Jahrhundert für seine Porträtbilder von Frauen, die in den Bordellen des Rotlichtbezirks von New Orleans arbeiteten, berühmt wurde. In diesem Film, der auf echten Menschen und wahren Begebenheiten beruhte, verliebt er sich in eine junge Prostituierte namens Violet, die in einem dieser verruchten Häuser geboren und aufgewachsen war.

Der Termin mit Louis Malle war kein klassisches Vorsprechen. Wir arbeiteten ohne Script. Ich spazierte irgendwo inmitten von Manhattan in ein Büro und quatschte mit Louis Malle und der Produzentin des Films, Polly Platt. Polly fungierte außerdem gemeinsam mit einem Typen namens Tony Wade als Produktionsleiterin. Sie war einst mit Regisseur Peter Bogdanovich liiert gewesen und war gegenwärtig in einer Beziehung mit Tony.

Ich kann mich nicht mehr an allzu viel bezüglich des „Vorsprechens“ erinnern. Meine Mom nahm jedenfalls nicht an der Unterredung teil. Sie war nicht einmal im Raum. Ich hatte immer den Eindruck, dass Mom nie im Verdacht stehen wollte, eine typische Bühnenmutter zu sein, die sich ständig einmischte. Sie versuchte, so ziemlich das Gegenteil davon zu sein und sich in das Team einzugliedern. In Wirklichkeit beeinflusste Mom mich eher auf einer unterschwellig-emotionalen Ebene.

Jedoch begreife ich heute, dass meine Mutter höchstwahrscheinlich von Vorkommnissen, die sich viel früher am selben Tag ereignet hatten, abgelenkt war. In der Nacht zuvor hatte Mom mich und meine Freundin Lisanne, die ja auch modelte, mit in eine Bar genommen. Lisanne und ich waren sehr gute Freundinnen und Mom hielt sie immer für eines der hübschesten Mädchen in der Branche. Nicht nur blieben wir an diesem Abend besonders lange aus, nein, Mom war außerdem ziemlich betrunken. Lisanne übernachtete bei uns, musste allerdings am Morgen zur Penn Station begleitet werden, von wo aus sie den Zug nachhause nehmen würde. Als dann der Morgen angebrochen war, schob uns Mom, die immer noch ein wenig angeheitert vom Vorabend war, in den schwarzen Jeep und fuhr uns nach Downtown, wo ich mein großes Filmgespräch führen sollte. Nachdem sie mich praktisch in den Händen von Fremden zurückgelassen hatte, brach Mom auf, um Lisanne zum Bahnhof zu bringen. Offenbar verursachte sie gleich zwei Blechschäden auf dem Weg dorthin, aber Lisanne erreichte trotzdem noch rechtzeitig ihren Zug. Mom kam schließlich zurück, um mich abzuholen. Sie sagte aber kein Wort über die Unfälle. Ich erfuhr überhaupt erst davon, als Lisanne mir Jahre später davon erzählte.

Ich selbst hatte mit den Filmleuten eine wunderbare Zeit. Das Team zeigte mir Fotos, die als Inspiration für den Film dienten, und ich verliebte mich in die Kleidung und die Kultur dieser Ära. Das alles wirkte so schön auf mich. Wie eine altertümliche Fantasiewelt.

Die Welt durch die Fotolinse von E. J. Bellocq zu sehen, erinnerte mich an Gemälde, die ich aus Museen kannte, in die Mom mich mitgenommen hatte. Wir unterhielten uns auch über die Handlung des Films. Sie fragten mich, was ich von einer Liebesgeschichte hielt, die im Milieu der Prostitution spielen würde. Ich weiß nicht mehr, ob sie es so umschrieben oder mehr wie mit einer Erwachsenen zu mir sprachen, aber ich verstand schon, was hinter der Frage steckte.

Ich erklärte ihnen, dass mich meine Mutter bereits über die Rolle aufgeklärt habe und ich über Prostitution vom Leben in Manhattan Bescheid wisse. Mom und ich unterhielten uns oft über die unterschiedlichen Entscheidungen, die die Menschen trafen. Ich fügte auch noch hinzu, dass ich es traurig fände, wenn die Prostituierten, die ich in der Forty-Second Street sah, bei jedem nur denkbaren Wetter auf der Straße stehen müssten und keine netten Wohnungen hätten. Meine Mom sagte immer, dass wir für sie beten sollten. Ich nahm an, dass wir das tun sollten, weil sie kein sicheres Zuhause hatten. Im Film wohnten die Prostituierten aber alle in einem Haus, was ein viel geschützteres Umfeld zu sein schien.

Ich weiß nicht, ob das Thema Nacktheit während dieses Meetings zur Sprache kam, aber später kam es mir so vor, als hätten meine Mom und die Produzenten diesbezüglich diskutiert und vereinbart, dass es keine expliziten Nacktszenen geben würde. Offenbar wurde ihr das sogar versprochen. Ich verschwendete ehrlich gesagt keinen Gedanken daran. Ich nehme an, dass ich dachte, alles würde okay sein. Ich war erst elf und ging noch auf die Toilette, ohne dabei die Türe zuzumachen, und führte dabei ganz normal ein Gespräch. Ich machte mir in Bezug auf meinen Körper noch keine Gedanken.

Obwohl ich ein so junges Mädchen war, wirkte mein Aussehen schon recht reif und sinnlich. Ich war aber alles andere als frühreif und das war das, wonach Louis Malle gesucht hatte. Eine Lolita im Sinne des Schriftstellers Nabokovs war ich jedenfalls nicht. Das war auch nicht das, was sich Louis Malle für seine Violet vorgestellt hatte. Er glaubte vielmehr, dass ihre Macht in ihrer weisen Unschuld lag. Louis wünschte sich für seine Hauptdarstellerin eine gewisse Dualität und Widersprüchlichkeit. Er sah diese Kindfrau als jemanden an, die echte Naivität und Unschuld mit Intelligenz und emotionaler Reife kombinierte. Er war nicht auf gewiefte Provokation aus. Ich war, was er wollte – gleichzeitig ein kleines Mädchen und eine emotional reife Erwachsene, gleichzeitig jedoch bar jeder Durchtriebenheit.

 

Das Vorsprechen – oder besser gesagt: das Meeting – dauerte nicht sehr lange. Ich war überrascht, dass es so einfach und schnell verlaufen war. Auch machte ich mir Sorgen, ob ich vielleicht mehr tun hätte sollen. Danach holte mich meine Mutter ab. So wie ich mich daran erinnere, erhielten wir später am selben Tag einen Anruf und mir wurde die Rolle angeboten. Mom fragte mich, ob ich den Film machen wolle, und ich sagte, dass es sich so anhöre, als würde es Spaß machen, ihn zu drehen. Wir würden für die nächsten paar Monate nach New Orleans umziehen – wir nahmen an, dass das während der Sommerferien sein würde – und ich dürfte mich in den Kostümen jener Epoche kleiden dürfen. Es würde ein ganz neues Abenteuer werden. Wir sagten also zu.

Ein weiterer Grund für Louis, sich für mich zu entscheiden, war, dass ich keine ausgebildete Schauspielerin war. Ich hatte nie Schauspielunterricht gehabt und er hatte das Gefühl, dass ich einfach auf die jeweilige Situation reagieren würde, sobald ich eine Szene verstanden hätte. Das erschien mir seither immer die klügste Herangehensweise an mich zu sein.

Die Produktion wurde verschoben und die Dreharbeiten, die ursprünglich im Sommer hätten stattfinden sollen, begannen schlussendlich erst Mitte Februar. Es war das erste Mal, dass ich wegen eines Jobs die Schule verpasste, aber wir hatten schon unterschrieben und das Geld war auch nicht schlecht. Außerdem durfte ich mit einem berühmten Regisseur arbeiten. Es handelte sich um eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen durfte. Mom und ich glaubten, dass wir das mithilfe eines Privatlehrers und eines Stapels Hausaufgaben für den betreffenden Zeitraum schon hinbekämen. Abgesehen davon wusste ich ja schon im Voraus, was auf mich zukommen würde, weshalb ich schon vor unserem Aufbruch nach New Orleans versuchte, voranzukommen, was mir auch tatsächlich gelang.

Der Film wurde vollständig in und um New Orleans gedreht. Für alle Szenen gab es ein Storyboard und es war anscheinend alles akribisch durchgeplant worden. Der Großteil wurde in einem riesigen, weißen Haus in der Saint Charles Avenue gedreht, das seit damals in das Columns Hotel umgewandelt worden ist. Das Haus hatte eine große Veranda, eine schöne Wendeltreppe und Fenster aus Buntglas. Sowohl innen als auch außen erweckte das Filmteam die Welt aus der Zeit E. J. Bellocqs wieder zum Leben.

Aber sofort nach unserer Ankunft gestaltete sich alles viel chaotischer, als ich mir das vorgestellt hatte. Das Ensemble und die Crew waren ein wilder Haufen. Sie machten sich schon bald einen Namen für ihre lauten Partys und ihren Drogenkonsum. Jede Nacht belagerten Mitglieder der Crew entweder die Bar, oder sie verlagerten die Party in ihre Zimmer. Es gab zwar Beschwerden von anderen Hotelgästen, was aber nie irgendwelche Konsequenzen nach sich zu ziehen schien. Es ging ganz schön rund und auf dem Set ergaben sich zahlreiche Romanzen, wovon eine sogar eine Schwangerschaft zur Folge hatte (es war schlussendlich meine Mom, die das arme Mädchen begleitete, als sie eine Abtreibung vornehmen ließ). Wir hatten alle unsere realen Leben hinter uns zuhause gelassen und ein auf gewisse Weise verändertes Universum betreten.

Mir gefiel das Leben am Set, aber es konnte auch sehr schwierig und angespannt sein. Louis strahlte eine gewisse Mystik aus. Er drehte seinen ersten amerikanischen Film und auf der Produktion lastete ein großer Druck. Er war kein Mann vieler Worte. Er sah eigentlich mehr zu, als dass er sprach. Auch war er keiner, der seine Schauspieler mit Lob überhäufte. Zuerst schüchterte mich das ein, da ich eher wie ein junger Hund war, der einem am Bein hochspringt und um Anerkennung bettelte: „Wie gefalle ich dir? Wie gefalle ich dir?“ Ich hätte alles getan für ein Lob oder auch nur ein anerkennendes Nicken. Louis’ Verschlossenheit machte mich nervös, aber ich hielt ihn immer für nett.

Er konnte zwar schwierig im Umgang mit mir sein, doch war er nie gemein oder zu fordernd. Ich lernte schließlich seine oft distanzierte Art zu deuten. Auch wenn es so wirkte, als wäre er entrückt, konnte ich mich darauf verlassen, dass keine Worte in diesem Fall schon Lob genug waren. Letzten Endes erfuhr ich nie, ob er gänzlich glücklich mit der Darstellung der Hauptfigur war, aber ich musste einfach glauben, dass er von mir bekam, was er sich gewünscht hatte.

Manchmal sehnte ich mich nach mehr Vorgaben seitens der Regie und fühlte mich komisch, da mir nicht dauernd gesagt wurde, was zu tun wäre, wie ich zu spielen hätte oder manchmal sogar wie ich mich fühlen sollte. Zu Beginn der Dreharbeiten stellte ich ein paar Fragen, etwa, ob ich gut war, aber mit der Zeit wurde ich immer stiller und verließ mich etwas mehr auf meine Instinkte. Leider sollte dies für längere Zeit einer der letzten Filme bleiben, bei denen ich mein schauspielerisches Können schärfte und Anflüge von Selbstvertrauen erfuhr. Ich denke, dass dies mit der Qualität und dem künstlerischen Kaliber des Regisseurs zu tun hatte. Er verfügte über Weitblick, drückte sich ohne großes Getue aus und verzichtete auf überflüssiges Geplapper. Er sagte etwa: „Sei einfach trotzig.“ Ich wusste dann genau, was das für Violet bedeutete.

Der Kameramann, Sven Nykvist, war ein Genie. Er war eine sanftmütige, wunderbare Seele, deren Kunst durch seine Augen und sein Herz zum Ausdruck gebracht wurde. Er war unglaublich liebenswürdig und lachte schüchtern, wenn ich etwas Lustiges tat oder sagte. Ich erinnere mich noch daran, wie still er arbeitete und wie gründlich er dabei war. Wenn Louis derjenige war, der „ein Stück vom Leben“ inszenierte, dann war es Sven, der gleichzeitig die Fassade abkratzte und die nackte Wahrheit beleuchtete.

Wir arbeiteten jeden Tag viele Stunden lang an dem Film und Schlaf wurde zu einer Sache, nach der ich mich am meisten sehnte. Der Arbeitsumfang, der mir abverlangt wurde, war überwältigend. Die Drehtage dauerten zwischen zwölf und 15 Stunden und umfassten sowohl zeitigen Drehbeginn als auch späten Drehschluss und mitunter auch nächtliche Sessions, die um fünf Uhr Nachmittag anfingen und sich bis fünf Uhr in der Früh hinzogen. Manchmal herrschte unerträgliche Hitze und wenn wir in der Nähe von Flüssen drehten, fraßen uns die Moskitos bei lebendigem Leib. Es konnte schon mal richtig elendig zugehen, aber keiner von uns beschwerte sich.

Da es sich um ein Historiendrama handelte (nichts auf der Welt ist mir lieber), stammten alle Kostüme aus jener Zeit und waren somit authentisch. Heutzutage werden große Teile der Unterbekleidung mit neuen Materialien extra angefertigt und auch Schuhe werden einfach im erforderlichen Stil und mithilfe moderner Technik hergestellt. Aber bei diesem Film arbeiteten wir mit der legendären Kostümdesignerin Mina Mittelman, die ein ganzes Lagerhaus mit Kleidern aus dieser Zeit zur Verfügung hatte. Ihr Inventar war überaus reichhaltig und sie bestand darauf, dass auch alle Unterröcke aus der betreffenden Epoche zu stammen hätten.

Ich war begeistert angesichts der Kleidung, allerdings stellten die Schuhe ein echtes Problem für mich dar. Sie waren alt und trocken. Ich bekam von ihnen einen scheußlichen, ekzemartigen Ausschlag, der meine Füße rissig machte und bluten ließ. Zuerst hatte ich mich noch zurückgehalten damit, meiner Mom davon zu erzählen, da ich hoffte, dass es von selber besser würde. Ich war nie jemand, der gerne auf sein eigenes Unbehagen hinwies, und wollte keine Umstände machen. Es gab schließlich noch Arbeit zu erledigen und ich kam mit den Schmerzen schon zurecht.

Bei den betreffenden Schuhen handelte es sich um jenes Paar, das ich am öftesten tragen musste, und wenn ich es gerade nicht trug, dann lief ich zumeist barfuß über zerbrochene Muschelschalen. Beide Varianten kamen mir nicht unbedingt entgegen. Die Schalen wurden verwendet, um hinter dem Haus eine Art Einfahrt zu schaffen, weshalb die Garderobiere mir Maulwurfsfelle an die Füße klebte, damit ich mir keine schlimmen Schnitte zuzog. Das half tatsächlich und kitzelte jedes Mal, wenn ich die Felle abzog.

Ich bat meine Mutter nie darum, mit mir zusammen am Abend den Text für den nächsten Tag durchzugehen. Es machte mir nichts aus, mir meine Zeilen selbst einzuprägen. Es gefiel mir, meinen Text zuerst in meinem Kopf zu hören, bevor mir irgendjemand anderer seinen Input beisteuerte. Dies hatte zur Folge, dass ich einen großen Teil der Dreharbeiten auf mich selbst gestellt und innerhalb meiner Beziehungen zu den anderen Schauspielern und dem kreativen Team am Set erlebte. Ich liebte es, diese gesonderte Familie, dieses separate Leben abseits von jenem, das ich mit Mom teilte, zu haben. Ich fühlte mich sicher und hatte Spaß, und alle teilten wir ein gemeinsames Ziel.

Aber schließlich begann alles schwierig zu werden und ich wurde schlapp und müde. Der Drehplan wurde verlängert und überzog das Budget. Es lag Spannung in der Luft. Mom, die mittlerweile gemerkt hatte, dass ich Probleme mit meinen Füßen hatte, intervenierte schließlich und bestand darauf, dass jedes Mal, wenn meine Füße in einer Szene nicht sichtbar wären, ich andere Schuhe tragen oder barfuß sein dürfe. Sie ließ außerdem einen Arzt kommen, der mir eine Salbe verschrieb, die ich über Nacht auftragen sollte. Mom cremte mir damit die Füße ein und umgab sie schließlich mit Bandagen oder zog mir Sportsocken über. Jeden Morgen war es eine Erleichterung, sie wieder ein wenig weicher und weniger rissig vorzufinden. So verheilten meine Füße schließlich wieder. Aber Mom war immer noch unzufrieden damit, wie lange das so gegangen war, und auch darüber, dass sich niemand am Set die Mühe gemacht hatte, sich um dieses Problem zu kümmern. Ich hatte nie irgendjemand anderem von meinen Füßen und davon, wie schlimm es wirklich war, berichtet. Zwar versuchte ich, ihr das klarzumachen, aber sie meinte, dass man dennoch ein wenig umsichtiger sein könnte, wenn man alte Kostüme verwendete.

Bis dahin war es in meinem Arbeitsumfeld immer sehr kontrolliert zugegangen. Wir wussten, was uns erwartete, und Mom hatte kein Problem damit, mir ein wenig Distanz zuzugestehen, damit ich mich einem spezifischen Job widmen konnte. Auf diesem Set war sie präsenter als sonst, aber entgegen der landläufigen Meinung mischte sie sich nicht ständig ein. Ich sah jedenfalls nie, dass sie dem Regisseur Ratschläge erteilt hätte. Sie wusste darüber Bescheid, wann und wo gedreht wurde, doch hatte ich den Eindruck, dass sie sich nicht in den kreativen Prozess einmischen wollte.

Die Spannungen zwischen Polly Platt und Mom nahmen trotzdem ständig zu und wenn es nach Polly gegangen wäre, dann hätte Mom New Orleans am besten erst gar nicht betreten. Jeder schaute, dass er oder sie seinen jeweiligen Geltungsbereich so gut es ging unter Kontrolle behielt. Wenn es um mich ging, war Mom jedenfalls nicht bereit, nachzugeben. Ich war elf Jahre alt.

Mir war es recht, zu wissen, dass Mom in der Nähe war, und ich war froh, dass sie für mich intervenierte, wenn es notwendig war.

Allerdings wollte ich nicht, dass sie mir zu nahe kam, wenn ich schauspielerte. Ich hasste es etwa, wenn sie mir zuschaute. Es lenkte mich zu sehr ab, wenn ich sie aus dem Augenwinkel sehen konnte. Ich hielt mich nie für gut genug und wenn sie mir zuschaute, wurde ich nervös und erstarrte förmlich. Ich hielt mich zwar für gut genug, um vor einfachen Fremden zu bestehen, hatte aber Angst, dass ich meine Mutter irgendwie enttäuschen könnte. Ich genierte mich und fürchtete mich davor, in ihren Augen nicht perfekt zu sein. Mir war wichtig, dass sie mich gut fand, und ich zitterte, dass dem nicht so sein würde.

Es war seltsam, dass Mom immer sagte, sie sei stolz auf mich dass und ich in ihren Augen perfekt sei, sie aber auch immer kurze Kommentare abgab, die wie Scherze wirkten, mir aber das Gefühl gaben, nicht viel wert zu sein. Es gelang mir nicht, die Selbstzweifel und die Unsicherheit zu überwinden, die ich in Bezug darauf fühlte, immer die Beste für sie zu sein.

Ich bin mir sicher, dass es sie traurig machte und sie sich ausgeschlossen fühlte, als ich ihr mitteilte, dass ich sie nicht als Zuschauerin am Set wollte, doch fand sie andere Wege und Mittel, wie sie sich gebraucht und wichtig fühlten konnte. Auch bin ich überzeugt, dass Mom zu dieser Zeit weite Strecken des Tages damit verbrachte, zu trinken. Sie hatte eine Lieblingsbar, die sie tags und nachts aufsuchte und die sich nicht unweit des St. Charles Hotel befand. Wenn ich nach einem Drehtag beim Hotel abgeliefert wurde und Mom nicht auffindbar war, fand ich sie üblicherweise in Igor’s Lounge. Teri Terrific fühlte sich zu zwielichtigen Spelunken hingezogen, egal, wo wir gerade waren. Sie hatte immer ihre präferierten Kneipen und liebte es, dort Stammgast zu sein. Oft traf sie sich mit unserem Tonassistenten, einem etwas zerzausten Hippie, in der Bar, die sie beide „IIIIIIIJJJJOOOOORRRSS“ nannten. Er hieß Ringo und verfügte über ein leicht struppiges Sexappeal. Er war groß und hatte muskulöse Arme, da er den ganzen Tag das Mikrofon in die Höhe halten musste. Außerdem war er sehr nett und passte auf mich auf. Ich weiß auch, dass Mom in ihn verknallt war. Allerdings weiß ich nicht, ob sich zwischen ihnen jemals irgendetwas ergab. Um ehrlich zu sein, wollte ich das auch gar nicht wissen. Nur daran zu denken, machte mich eifersüchtig und zornig.

 

Pretty Baby basierte auf einer wahren Geschichte und Violet basierte auf einer realen Person. Der echte Bellocq war in Wirklichkeit eher unansehnlich und es hieß, dass er einen leichten Wasserkopf gehabt hätte. Bei uns wurde er natürlich vom überaus attraktiven Keith Carradine dargestellt. Vielleicht lag es gerade an Bellocqs Deformierung, dass ihm die Mädchen aus dem Bordell vertrauten. Sie glaubten ihm, dass seine Absichten integer waren. Er war ein Künstler ohne Hintergedanken, der die Mädchen nur in ihrer Schönheit sowie ihrer individuellen Persönlichkeit festhalten wollte.

Die Standfotos, die wir von den Schauspielerinnen schossen, waren bemerkenswert exakte Duplikate der Bellocq-Originale. Da gab es eine Szene, die sich an einem tatsächlichen historischen Foto orientierte, in der Violet abgelichtet wurde, während sie nackt auf einer Chaiselongue lag. Ich hätte zwar einen G-String tragen können, doch wir alle einigten uns darauf, dass er nicht unbedingt nötig wäre. Meine Beine waren leicht gekreuzt und Louis wollte auch gar nicht, dass es irgendwie zu pornografisch würde. Die Szene war rasch im Kasten und zeigte das Schnappen von Bellocqs Linse kurz bevor meine Figur aufsprang, um zickig ein paar Fotoplatten zu zerstören.

Wir kopierten das berühmte Foto und ich war unbefangen und unbeeindruckt angesichts dieser extrem kurzen Szene. Ich erinnere mich nur daran, dass ich etwas enttäuscht war, weil ich noch keinen echten Busen hatte, aber das traf ja auch auf das Mädchen auf dem Foto zu. Ich fühlte mich keinesfalls vergewaltigt oder kompromittiert. Sobald ich aufstand, schlüpfte ich in den G-String und wurde außerdem nur von den Schultern aufwärts gefilmt. Ich hatte noch nicht gelernt, meine Sexualität als ein Werkzeug einzusetzen, und war deshalb in der Lage, diese Szene mit jener Ruhe zu spielen, welche sie voraussetzte.

Mom war während der Arbeit an dieser Szene nicht dabei und niemanden schien das zu kümmern. Ich war noch jung und unschuldig, und es ging alles ganz schnell. Mom wurde dann aber praktisch gekreuzigt dafür, dass sie es zugelassen hatte. In vielerlei Hinsicht verstehe ich die Kritik auch, vor allem, da ich nun selbst eine Mutter bin. Aber die Welt und die Filmbranche waren damals sehr anders als heute.

Ich bin von der Presse immer wieder dazu befragt worden, aber ich habe immer gesagt, dass ich während der Dreharbeiten und auch danach nie darunter gelitten hätte oder mich irgendwie erniedrigt gefühlt habe. Als der Film ein Jahr später in den Kinos anlief, empörte sich die Presse nach allen Regeln der Kunst darüber. Es herrschte Aufruhr und es wurde angenommen, dass ich eine Art Opfer sei. Die Presse wollte von mir, dass ich mich schämte und bereute, und konnte nicht damit umgehen, dass ich mir meiner selbst bewusst war und mich unter Kontrolle hatte. Eine Feuersbrunst brach über uns herein und meine Mutter musste den Kopf hinhalten. Meine Gelassenheit – angeboren oder erlernt – ermöglichte mir einen erwachsenen Blickwinkel, und ich stand weiterhin hinter der Szene beziehungsweise dem Film als Ganzem.

Als Mutter einer heute Elfjährigen bin ich mir darüber im Klaren, dass ich meiner Tochter nicht erlauben würde, sich „oben ohne“ fotografieren zu lassen. Allerdings war das damals eine andere Zeit und nicht nur glaubte meine Mutter daran, dass wir Kunst schufen, sondern dass der Film etwas ganz Besonderes sein würde – und die Szene gehörte zu den kürzesten im ganzen Film.

Ich war noch kein sexuelles Wesen – und das war auch das, was Louis Malle wollte. Er interessierte sich mehr dafür, mich in meiner aufkeimenden Sexualität durch meine Attitüde, nicht durch willkürliche Nacktheit zu porträtieren. Wir machten schlicht keine große Sache daraus. Ich war niemals und in keinster Weise traumatisiert worden, wie die Presse spekulierte.

Jedoch gab es eine viel unverfänglichere Szene, die mir schwere Sorgen bereitete. Etwas später im Film, nachdem sich Violet und Bellocq etwas besser kennengelernt hatten, spielten sie ein Spiel, das sie „Sardinen“ nannten, wobei sie sich alleine auf einem Dachboden wiederfanden und sich zum ersten Mal küssten. Während der Dreharbeiten verzog ich jedes Mal kurz vor diesem ersten Kuss mein Gesicht. Louis rief dann immer „Schnitt“ und ich konnte spüren, dass er langsam ein wenig genervt war. Er wollte, dass die Sache zärtlich und schön wirkte – und nicht so, als hätte ich gerade in eine Zitrone gebissen. Plötzlich flüsterte mir Keith Carradine zu: „Du weißt, dass es nicht zählt, oder?“

„Tut es nicht?“

„Natürlich nicht, ist alles nur vorgetäuscht.“

Das war das erste Mal, dass ich jemanden auf die Lippen küsste – abgesehen von meiner Mutter – und ich war total erleichtert, dass es nicht als mein erster Kuss zählen würde. Ich entspannte mich total und die Szene ging ohne weitere Probleme über die Bühne. Rückblickend denke ich aber, dass der Regisseur oder meine Mutter diese Einsicht mit mir geteilt hätten, bevor es schließlich Keith war, der es tat. Ich hatte großes Glück, dass Keith so freundlich war. Er war ein solcher Gentleman und absolut liebenswert mir und meiner Mutter gegenüber. Ich bin mir sicher, dass es auch nicht leicht für ihn war, Liebesszenen mit einem jungen Mädchen zu filmen, aber er brachte mir einen solchen Respekt entgegen, wodurch alles erleichtert wurde.

Leider hatte ich nicht dasselbe Glück mit Susan Sarandon, die meine Mutter, Hattie, spielte. Hattie und Violet hatten eine schwierige Beziehung zueinander und die Szenen, die ich mit Susan drehte, waren sehr anspruchsvoll. Ihre Haltung mir gegenüber deckte sämtliche Spektren ab und obwohl sie abseits der Kamera sehr nett zu mir sein konnte, ging sie mich während der Dreharbeiten auf eine Art an, die eine Grenze zu übertreten schien. Zwar tat sie das unter dem Vorwand, ihrer Rolle treu bleiben zu wollen, doch deutete ihr Verhalten auch auf etwas hin, das ich nicht ganz verstand. Nun, sie war extrem talentiert und wunderschön und vielleicht war sie ja wirklich nur eine überaus gewissenhafte Mimin, die sich dazu entschlossen hatte, ihre Rolle für die gesamte Dauer des Films zu spielen, aber an dieser Theorie gibt es auch Ungereimtheiten.

Meine Mutter schien schon bald bemerkt zu haben, dass zwischen mir und Susan eine unbehagliche Stimmung herrschte. Mom warnte mich davor, dass es zwischen uns Eifersüchteleien gebe. Ich verstand das nicht. Susan war jung und sexy – und es war offensichtlich, dass sie Louis gefiel. Warum sollte sie da ein Problem mit einer Elfjährigen haben?

Aber ich gebe zu, dass auch ich das Gefühl hatte, irgendetwas würde sich anbahnen. Irgendetwas Unangenehmes lag in der Luft und ich hatte den Eindruck, dass sie mich nicht sehr mochte. Ich bin mir sicher, dass sie das alles ganz anders zu deuten wusste, aber es herrschten Vibes, die ich permanent einzuordnen versuchte.

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