Czytaj książkę: «Im Fluss – Seele in Bewegung»
INHALT
IMPRESSUM 2
WIDMUNG 3
ZITAT 4
VORWORT 5
EINFÜHRUNG 10
1 FAMILIE 15
2 PSYCHODYNAMIK 25
3 PARADIGMENWECHSEL IN DER THERAPIE 38
4 POLITIK UND GESELLSCHAFT 46
5 DIE UNTERSCHÄTZTE MACHT DER WORTE 59
6 BILDUNG 64
7 KIRCHE UND SPIRITUALITÄT 74
8 VERANTWORTUNG 81
9 AUFBRUCH IN DIE FREIHEIT 89
10 LEBENSERINNERUNGEN 98
11 EPILOG 139
IMPRESSUM
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99107-952-1
ISBN e-book: 978-3-99107-953-8
Lektorat: Susanne Schilp
Umschlagfoto: Majivecka, Christasvengel | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
WIDMUNG
Für meine Kinder und Enkel
ZITAT
Panta rhei – alles fließt
Heraklit
VORWORT
In diesen Tagen stellten mir Menschen, die mitbekommen, dass ich ein Buch schreibe, mehrfach die Frage: „Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen?“
Meine Antwort kam spontan, ohne nachzudenken, und beim ersten Mal war ich selber überrascht. Sie lautete: „Bin ich nicht. Die Idee ist auf mich gekommen, und ich habe mich in ihren Dienst gestellt.“ Die meisten schauen mich dann irritiert an; kennen sie mich doch als geerdeten, pragmatischen Menschen, von dem sie solche Antworten nicht erwartet haben. Ich sehe, dass sie kurz überlegen und zu dem Schluss kommen, dass ich vermutlich nicht übergeschnappt bin, sondern allenfalls leicht verwirrt – und wechseln das Thema. Andere halten es für eine scherzhafte Antwort und mutmaßen, dass ich so weiteren Nachfragen entgehen will. Es gibt aber auch die, die das sehr spannend finden und gleich darum bitten, das Buch irgendwann lesen zu dürfen.
Je öfter ich jedoch diese Antwort gebe, desto klarer wird mir, dass genau das meine Wahrheit ist. Und dass es besser ist, der Wahrheit nicht auszuweichen, hat mir schon meine Mutter vermittelt, die zu sagen pflegte: „Ach, weißt du, ich bleibe lieber bei der Wahrheit. Würde ich lügen, bräuchte ich ein sehr gutes Gedächtnis – und das habe ich nicht.“
Die Initialzündung, diese Idee umzusetzen, vielmehr mich ihr hinzugeben, verdanke ich einem Traum, aus dem ich mit dem Satz „Du musst ein Buch schreiben“ erwachte. Ich erzählte das meinem Mann, der völlig selbstverständlich sagte: „Dann mach!“
So lade ich nun ein zu einer Reise, meiner Reise, und es wird eine Flussreise sein.
Das kommt nicht von ungefähr – wer mich kennt, weiß, wie sehr ich das Wasser liebe. Im Alltag tut’s ein Schwimmbad, besser ein See, noch lieber das Meer. Das Schönste für mich aber sind Hausboottouren auf einem Fluss … da fühle ich mich im wahrsten Sinne des Wortes im Fluss.
Wenn ich ein Bild für mein Leben finden soll, kann es eben nur ein Fluss sein, mit allem, was einen Fluss ausmacht: Er kommt von irgendwoher und fließt irgendwohin. Für mein Unterwegssein muss ich weder Quelle noch Mündung kennen. Der Fluss ist einfach da, und ich erlebe mich als einen Ausdruck des Lebens, als eine bestimmte Ausgestaltung der Natur, nämlich als Mensch Brigitte, selbst in diesem Fluss. Ich werde bewegt und muss mich einfach nur mitnehmen lassen.
Nun, ganz so einfach ist das nicht.
Flüsse haben unterschiedliche Fließgeschwindigkeiten, sind mal hochwasservoll, mal ausgetrocknet. Es gibt Stauungen, Stromschnellen, Umwege, Zuflüsse, Abflüsse. Das Wasser kann klar oder trüb sein, warm oder kalt, und, und, und.
So ist mein Leben geprägt durch die ganz unterschiedliche Beschaffenheit des jeweiligen Flussabschnittes, in dem ich mich gerade befinde.
Dazu kommt, dass ich von Zeit zu Zeit versucht habe, den Fluss anzuhalten, eine Weile aufzustauen, um dann zu erleben, wie er durchbricht und mich mitreißt. Mit anderen Worten: Ich habe vergeblich versucht, den Fluss meinen Vorstellungen anzupassen.
Oder ich bin ausgestiegen und habe mein Flussleben beobachtet, analysiert, versucht, mir passendere Verläufe auszudenken. Ich habe versucht, Erklärungen zu finden, wenn ich etwas, was mir auf der Reise geschah, nicht verstanden habe. Ich habe versucht, einen besseren Fluss für mich zu finden und mich, und manchmal auch andere, dafür verantwortlich gemacht, dass das nicht gelungen ist. Manchmal bin ich geflüchtet, damit ich den Fluss weder sehen, hören noch spüren musste. Oft habe ich mich aber einfach nur weggeduckt und am Ufer versteckt.
Ein Standardwerk der Gestalttherapie heißt: „Don’t push the river“ – für mich könnte es heißen: „Don’t push, stow or leave the river.“
Daran habe ich mich offenbar nicht gehalten; und so ist dieses Buch auch ein Versuch zu ergründen, was mich zu der gemacht hat, die ich bin, und wie es gekommen ist, dass ich so oft zu untauglichen Mitteln gegriffen habe.
Wer mag, ist eingeladen, mich zu begleiten. Vielleicht nur ein kleines Stück, vielleicht nur unter einem bestimmten Stichwort … wie auch immer: Die Einladung steht! Es ist sozusagen mein Vermächtnis.
Mir kommt ein Vers von Fritz Woike (deutscher Lyriker, Ende 19. Jahrhundert) in den Sinn:
„Was wir sammeln, was wir speichern, mag’s die Erben noch bereichern, einst vergeht’s. Nur der Schatz der Seelenspenden wächst, je mehr wir ihn verschwenden – nun und stets.“
Jeder vererbt das, was zur Verfügung steht – materiell habe ich nichts; also werden es „Seelenspenden“, die ich hinterlassen möchte.
An dieser Stelle danke ich all den Menschen, die mich im Laufe der Zeit mit Ein-Flüssen geprägt haben. Ich sage ganz bewusst danken, denn auch die Ein-Flüsse, die sich irgendwann als nicht so lebensfördernd entpuppt haben, gehören zu meinem Leben; sie haben genauso wie ihre lebensspendenden Geschwister ihren Anteil an meiner Entwicklung. Alles, was ich weiß, weiß ich ja letztendlich von oder durch die Begegnung mit anderen Menschen. Alles, was ich entdecke und hier mit meinem Leben verknüpfe, haben andere lange vor mir entdeckt – das zeigen die Gedichte, Zitate und Wirkworte, die jedem Kapitel vorangestellt sind.
Für die Spender besonders lebensfördernder Ein-Flüsse nenne ich hier stellvertretend Peter Schellenbaum, der mir die „Psychoenergetik“ nahe gebracht hat, mit seinen Büchern und auch persönlich im Rahmen einer Weiterbildung. Der Begriff „Spürbewusstsein“ stammt von ihm, der ihn wiederum auf Teilhard de Chardin zurückführt. Ich danke Peter Levine für seinen Ansatz „Somatic Experiencing“, entstanden als Resultat seiner Traumaforschung. Wilfried Nelles und Thomas Gessner für ihren phänomenologischen Weg mit dem „Lebensintegrationsprozess“ und Gerald Hüther, der mir auf sehr anschauliche Weise die Augen geöffnet hat für neurobiologische und psychodynamische Zusammenhänge.
Zitate, die ich bewusst verwende, sind als solche gekennzeichnet. Darüber hinaus wohnen in mir, z. T. schon seit Jahrzehnten, Wirkworte, die ich nicht mehr auf ihren Ursprung, zu ihrem Autor, zurückverfolgen kann. Mein Gedächtnis neigt dazu, Formulierungen und ganze Sätze abzuspeichern, verbunden mit einem visuellen Erinnern, in welchem Bereich einer Buchseite etwas Bestimmtes steht. Der Titel des Buches hingegen wird nicht abgespeichert. Theoretisch könnte ich so gegen das Urheberrechtsprinzip verstoßen. Das möge man mir nachsehen.
Nicht zuletzt danke ich meinem Mann, mit dem ich meine Vision von Partnerschaft in Ausgeglichenheit zwischen Bindung und Autonomie leben darf, der seit nunmehr 20 Jahren meinen Weg mit mir geht. Ohne Erwartungen, authentisch, mich geduldig und langmütig begleitend, bereit, sich selbst jederzeit in Frage zu stellen oder stellen zu lassen, ohne direktive Einflussnahme, ohne Wertung, ohne fruchtlose Diskussionen – eher mit Zwiegesprächen und Inspirationen. Jederzeit bereit, mich in Alltagsdingen zu unterstützen und mir damit Freiraum zu verschaffen.
Er hat manches, das bei mir zur Entwicklung bereitstand, „aus mir heraus geliebt“, um den wunderschönen Begriff zu wählen, den die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast geprägt hat.
Peter Schellenbaum nennt es Leitbildspiegelung.
Ich nenne es Glück.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Und ich kreise um Gott, um den uralten Turm
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht,
bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
R. M. Rilke
EINFÜHRUNG
Eine Schwangerschaft mündet in die Geburt. Erst die immer stärker werdenden Wehen haben mir klar gemacht, dass ich überhaupt schwanger bin oder vielmehr war.
Begonnen hat alles vor genau einem Jahr, im Februar – die Coronakrise gab es plötzlich nicht nur in China, sie schwappte in alle Welt und wurde zur Pandemie.
Was ist nochmal der Unterschied zwischen Epidemie und Pandemie? Erstere ist uns mit den Vornamen Grippe oder Masern noch geläufig, die zweite hat gefühlt irgendwie gar nichts mit uns zu tun …
So oder so ähnlich dachten vermutlich viele Menschen. Nach und nach wurde uns die Tragweite dessen, was da gerade passiert, immer bewusster.
Auch ich habe eine Zeit lang im Kopf sortiert, versucht, mich so seriös wie möglich zu informieren und dann aufgeatmet: In meiner Lebenssituation als Rentnerin und auf dem Land lebend lässt sich das gut überstehen – irgendwann wird es ja wieder vorbei sein. Schade, dass Kontakte so stark eingeschränkt werden müssen, aber auch das geht vorbei. Und schließlich gibt es ausreichend Kommunikationsmedien, bewegte und unbewegte Bilder, um in Kontakt zu bleiben.
Also: nicht jammern! Was hat die Kriegsgeneration vor mir schon alles mitgemacht; was erleben und erleiden Menschen jetzt gerade in aller Welt; verglichen damit ist das, was hier passiert, doch harmlos. Und schließlich gibt es kein Recht darauf, dass immer alles weitergeht wie bisher …
Das spielte sich in meinem Kopf ab.
Gleichzeitig war aber auch stets der Gedanke präsent: Es wird nie wieder so, wie es mal war – und ich wusste, dass das die Wahrheit ist, auch wenn ich noch eine Weile hoffte, mich zu täuschen.
Im Mai, vor genau neun Monaten, plötzlich – wie aus heiterem Himmel – fand ich mich in einer veritablen Krise vor, mit allem, was dazu gehört: Herzrasen, explodierender Blutdruck, Angst, Schweißausbrüche, Panikattacken (die kannte ich bislang nur in zu engen Räumen), Gedankenkreisen, Schlaflosigkeit, konkrete und allgemeine Sorgen, Unruhe, die durch fast nichts zu kanalisieren war … es hat mir einfach den Boden unter den Füßen weggezogen. Laufen im Wald war das Einzige, was eine gewisse Erleichterung brachte, aber selbst das ging nur, wenn ich die folgenden zwei Sätze in Endlosschleife und im Laufrhythmus innerlich vor mich hin sang: „Der Herr ist mein Hirte, hallelujah, mir wird nichts mangeln, hallelujah“ und: „Ihr Gedanken wartet gefälligst, bis ihr eingelassen werdet“ …alles immer schön im Laufrhythmus.
Die einzige Entscheidung, die ich in diesem Moment treffen konnte, war die: Ich gehe bewusst Schritt für Schritt durch dieses Jammertal. Lasse Abkürzungsversuche sein und passe mein Tempo dem an, was geschieht oder auch nicht geschieht. Immer mit der Gewissheit, die mir nicht bewusst war, aber dennoch getragen hat: Es wird alles wieder gut, nur anders, als es war. Schließlich habe ich schon so viele Abschiede in meinem Leben, äußere und innere, gut überstanden; habe Krisen durchlitten, und – auch wenn es sich phasenweise wie Sterben angefühlt hat – ich habe ganz offensichtlich überlebt. Nun aber will ich leben und nicht überleben.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich nach und nach aussprechen konnte, was mit mir geschehen war. Alles Neue ist zunächst einmal sprachlos; hätte ich zu früh davon geredet, so kommt es mir vor, dann wäre ich zurückgefallen ins Alte. Was da verborgen in mir heranreifte, brauchte während dieser Wachstumsphase zunächst Schutz, Zeit und Ruhe.
Heute, neun Monate später, sehe ich im Rückblick einen Prozess, den ich mit einer Schwangerschaft, und zwar einer ungeplanten, vergleiche. In mir ist es immer dichter geworden, etwas ist gewachsen, gereift und will jetzt ausgestoßen werden, weil der Raum nicht mehr ausreicht.
Was ist geschehen in diesen neun Monaten?
Dazu muss ich etwas ausholen:
Seit ich lesen kann, verschlinge ich Bücher. (Meine Kinder nannten das früher: „Die Mama liest nicht, sie frisst Druckerschwärze.“) Als Kind vor allem, um in andere Welten abzutauchen. Später dann zunehmend, um zu erfahren, was Menschen bewegt oder hemmt. Das können Biografien sein, psychologische und philosophische Werke, genauso wie Krimis, Romane und Geschichtsbücher, Gedichte und Märchen und auch Bücher über Neurobiologie, Hirnforschung oder Physik.
Von jeher finde ich nichts so spannend wie Menschen und ihre Seinsweisen. Ich komme leicht ins Gespräch mit ihnen, sobald sie beginnen, sich zu öffnen, während mir gleichzeitig bis heute die Fähigkeit zum Smalltalk fehlt und ich in oberflächlichen Begegnungen oft einfach nicht weiß, was ich sagen soll. Ich bin mit Menschen zusammen, beobachte sie, berühre sie in meinem Beruf als Physiotherapeutin mit den Händen und ich lasse mich berühren …
So konnte ich im Laufe meines Lebens viele Erfahrungen machen, aber eben auch viel Wissen ansammeln. Das allermeiste von dem, was ich gelesen habe, habe ich sofort verstanden und wusste oftmals intuitiv, was davon ganz viel mit mir zu tun hat. Es entstanden zahllose Gedankenstränge in meinem Kopf: Manche fanden mit anderen zusammen, andere blieben unverknüpfte, lose Enden.
In diesem vergangenen Jahr nun stellten sich mehr und mehr Verknüpfungen ein; ich hatte Ideen, Einfälle, ohne danach gesucht zu haben. Ja, phasenweise wurde ich so von Einfällen überrollt, dass ich Sorge hatte, ob mein Hirn das noch alles würde fassen können, ohne zu platzen.
Dadurch ist mit der Zeit so viel Raumenge entstanden, dass nun die Geburt eingeleitet ist.
Doch diesmal ist es keine Kopfgeburt:
Bislang sah ich Krisen in meinem Leben als Herausforderung. In der Regel entstanden sie in ganz bestimmten Lebenszusammenhängen: Es gab einen konkreten Anlass und Auslöser dafür. Da konnte ich ansetzen, da konnte ich etwas tun, etwas verändern; sei es die Umstände oder mich selbst, in Form von Kampf oder Anpassung. Ich versuchte, mich irgendwie von der krisenhaften Belastung zu befreien und habe insofern Krise durchaus als Chance begriffen. Ich habe bedacht, was zu bedenken war, und dann gehandelt. Nur hat sich inzwischen herausgestellt, dass es mich nicht weiterbringt. „Das Denken hat das Wissen nicht mehr für sich gepachtet“, sagt Wilfried Nelles (Die Welt in der wir leben, S. 284).
Diesmal hat sich etwas anders entwickelt als in den Zeiten davor. Einerseits gab es keine greifbare Herausforderung, an der ich mich hätte abarbeiten können. Andererseits spürte ich so deutlich wie nie, dass all mein gesammeltes Wissen, alle Erkenntnisse nicht viel nützten, weil sie meistens nur in meinem Kopf gearbeitet hatten, aber mit meinem Dasein in der Welt sehr viel weniger zu tun hatten, als ich mir gewünscht hätte. Nun aber wurde der Boden bereitet – dadurch, dass ich ganz bewusst ohne Ziel in der Gegenwart von Moment zu Moment gelebt habe und immer noch lebe. Der jeweils nächste fällige Schritt ergab sich ohne mein Dazutun von selbst. Ich musste die Bewegung nur spürend mitvollziehen. Alles in mir hat sich verbunden. Ich habe verstanden mit dem Verstand, mit dem Herzen, mit dem Körper, mit dem Gefühl – sozusagen mit allen Sinnen. Und auf einmal hat alles Sinn gemacht! Sinn ergibt sich offenbar durch das spürbewusste Dasein im Augenblick und im Weitergehen zum nächsten Augenblick.
Im Folgenden werde ich einige Themen umkreisen, die mich gerade beschäftigen. Ich teile meine Gedanken dazu, Gedanken, die im Augenblick meine Wirklichkeit abbilden. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit und auch nicht auf Allgemeingültigkeit. In einem oder in fünf Jahren werde ich vermutlich manches anders sehen. So ist es in der Forschung und Wissenschaft ja auch: Es geht immer um den derzeitigen Erkenntnisstand, auch wenn uns Wissenschaftler manchmal glauben machen wollen, jetzt hätten sie die Wahrheit gefunden.
Alles was lebt, ist immer vorläufig – es verändert sich von Moment zu Moment; Ewigkeit und Augenblick sind dasselbe. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“, heißt es in der Flusslehre Heraklits.
STUFEN
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
H. Hesse
1 FAMILIE
Die beiden seelischen Grundbedürfnisse des Menschen sind Verbundenheit und Autonomie; er braucht Wurzeln und Flügel.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Neu für mich ist, dass ich seit einiger Zeit die Gelegenheit habe, genau das bei meinem jüngsten, jetzt 18 Monate alten Enkel, der zu unserer großen Freude ganz in der Nähe wohnt, fast täglich zu beobachten. Mit diesem Bewusstsein und der Zeit und Muße dazu war das bei meinen eigenen Kindern, und auch bei den älteren Enkeln auf Grund der Entfernung, in dieser Form nicht möglich. Ein wunderbares Geschenk für uns Großeltern!
Es berührt mich, zu erleben, wie er die Welt und seine eigenen Fähigkeiten mehr und mehr entdeckt und entwickelt, während er sich gleichzeitig immer wieder vergewissert, dass die für ihn wichtigsten Menschen da sind. Unermüdlich probiert er aus, übt mit Beharrlichkeit und Konzentration, bis er sein Nahziel erreicht hat. Die Freude, die ihn dann erfüllt, ist dem ganzen kleinen Körper anzusehen. All das geschieht von allein. Er braucht dazu keine Ermunterung, keine Aufforderung, geschweige denn „Training“ oder irgendeine andere Form von Anstoß. Er braucht nicht einmal Spielzeug. Alles, was sich gerade in seiner Umgebung befindet, weiß er zu nutzen.
In der Sicherheit der Bindung geschieht Entwicklung ganz von selbst. Er ist noch ganz bei sich, nimmt keinen Abstand durch Überlegung, was sein könnte, wenn … So ist er auch völlig angstfrei. Angst entsteht ja erst dann, wenn unser Kopf, gespeist von den Erfahrungen der Vergangenheit, irgendwelche möglichen und unmöglichen Szenarien für Gegenwart und Zukunft ersinnt.
Das, was da passiert, ist Ent-wicklung, im ursprünglichen Wortsinn, nämlich etwas, was in der Anlage bereits da ist, wird ausgewickelt. Von außen wird instinktsicher nur Selbstgewähltes einbezogen, das als Anregung genau zu dem jetzt anstehenden Entwicklungsschritt passt.
Wir wissen alle, dass diese kindliche Freiheit, das Eigene zu entdecken und zu leben, endlich ist. Nicht lange, und wir bringen unseren Kindern alles bei, was wir für angemessen halten. Wir finden das vollkommen selbstverständlich und notwendig, um sie darauf vorzubereiten, irgendwann eigenständig in dieser Welt zurechtzukommen. Vielleicht ist es das ja auch. Je nach eigenem Bewusstseinsstand entdecken und würdigen wir dabei mehr oder weniger sensibel das Eigene in unseren Kindern. Dennoch machen wir sie unbeabsichtigt gleichzeitig zu Objekten unserer Vorstellungen und blockieren damit die Möglichkeit einer Entfaltung in die ganz eigene Richtung, die nur das Kind selber herausfinden kann; die wir Erwachsenen gar nicht kennen können.
Ist das nicht eine riesige Potentialblockierung und Verschwendung?
Aber dazu später mehr.
Doch auch in der bestmöglichen aller Kindheiten werden wir nicht vermeiden können, unseren Kindern Päckchen mit auf den Weg zu geben, die sie tragen müssen. Unsere Hoffnung kann nur sein, dass sie irgendwann zu unterscheiden lernen, was zu ihnen gehört und was nicht.
Lebenslange Aufgabe eines jeden Menschen, die immer wieder aufs Neue zu lösen ist. Es bedeutet, Spürbewusstsein zu entwickeln für das, was verabschiedet werden kann, für das, was bleiben darf, und für den Handlungsschritt, der jetzt gerade ansteht. Poetischer als Hesse das in seinem Gedicht „Stufen“ beschreibt, kann man es nicht ausdrücken.
Das Stichwort „Bestmögliche aller Kindheiten“ führt mich zurück in mein eigenes Leben.
Ich selber bin ganz sicher in einer – nach landläufiger Meinung – intakten Familie aufgewachsen. Ich habe keine Not gelitten, auch wenn in einer Familie mit vier Kindern und einem alleinverdienenden Lehrer-Vater in den 1950er-, 1960er-Jahren nicht viel Geld da war. Dennoch hat es oft für bescheidene, aber spannend gestaltete Urlaube, immer für Musikunterricht und auch für ein eigenes Haus gereicht.
Mein Vater war ein liberal denkender Mensch, der selber aus einem freigeistigen Elternhaus stammte. Seine Leidenschaft galt der Chormusik, und er besaß die große Gabe, junge Menschen dafür zu begeistern. Überhaupt war ihm besonders an Kontakten mit Menschen gelegen, aber auch sonst war er an vielem interessiert. Er konnte wunderbar Gedichte rezitieren; vor allem Morgenstern, Ringelnatz und Eugen Roth sind mir in lebhafter Erinnerung. Er liebte das Arbeiten mit Holz und dabei nicht zuletzt die vorausgehende Planung.
Im Gegensatz zu vielen Männern seiner Generation, hatte er keine Altlasten aus dem Krieg, in dem er zum Piloten ausgebildet wurde. Mit sehr viel Glück – das war ihm immer bewusst – und auf Grund einer Verletzung blieben ihm Ostfront und andere Kampfeinsätze erspart. Im Sommer 1946 konnte er aus französischer Kriegsgefangenschaft fliehen. Aus finanziellen Gründen war es ihm nicht möglich, seiner Leidenschaft für die Fliegerei nach dem Krieg weiter nachzugehen, was er sehr gern getan hätte.
Meiner Mutter zuliebe konvertierte er, der auf dem Papier katholisch war, zum evangelischen Bekenntnis.
Sie nämlich stammte aus einem streng protestantischen Elternhaus; die Heirat mit einem „Katholen“ wäre undenkbar gewesen. Die tiefschwarzen Haare meines Vaters nahmen die Schwiegereltern gerade so hin: Der Rassenwahn des Dritten Reiches warf seine Schatten noch bis in die Anfänge der 50er-Jahre.
Mutter war ein überwiegend positiv gestimmter Mensch, mit viel Liebe zu allem, was lebt, insbesondere zu Kindern. Unerschütterlich in ihrem Glauben verankert, galt es, das Gebot der Nächstenliebe unbedingt zu leben, auch wenn sie den zweiten Teil des Gebotes – „wie dich selbst“ – nicht so wichtig fand. Die Liebe zu alten Kirchenliedern, insbesondere denen von Paul Gerhardt, habe ich sicher von ihr übernommen, und aus meiner frühen Kindheit ist sie mir unentwegt singend in Erinnerung. Sie verfügte außerdem über einen unerschöpflichen Vorrat an humoristischen Sprüchen und Lebensweisheiten, und mit bemerkenswerter Liebe widmete sie sich auch den aus meiner Sicht langweiligsten Tätigkeiten. Als ich sie hingebungsvoll bügeln sah, fragte ich, ob sie das eigentlich gerne mache. (Ich fand Bügeln überflüssig und öde.) „Ach, weißt du“ – so begannen viele ihrer Antworten –, sagte sie: „Ich habe gelernt, dass mir alles viel leichter fällt, wenn ich mich dafür entscheide, es gern zu tun.“
Sie hat sich die Nöte der ihr vertrauten und anvertrauten Menschen immer ausgesprochen empathisch zu Herzen genommen und ich bin sicher, dass sie – kurz vor ihrem 80. Geburtstag – am Broken-Heart-Syndrom starb. Einer ihrer letzten Sätze zu mir, zwei Wochen vor ihrem Tod, war, bezogen auf einen ihr sehr vertrauten Menschen, um den sie sich sorgte: „Ich bin froh, dass R. dich hat und du musst mir versprechen, immer für sie da zu sein.“ Zwischen den Zeilen schwang ein „Ich kann es nämlich (bald) nicht mehr“ mit. Dieses Versprechen hat mir übrigens lange viel Druck gemacht, bis ich irgendwann die Verantwortung an R. selbst zurückgeben konnte.
Diese beiden Menschen, meine Eltern, hatten ihre ganz eigenen Vorstellungen von Kindererziehung – anders, als ich das bei den Eltern Gleichaltriger erlebte. Ich kann mich nur an wenige ausgesprochene Ge- oder Verbote erinnern. Genauso wenig an Drohungen, Strafen, Drängen in eine schulische oder berufliche Richtung usw. Selten wurden Grenzen mit Worten benannt; ausgesprochen wurde allenfalls, dass uns nicht interessieren, im Sinne von beeinflussen, sollte, was andere machen oder denken.
Gewalt war kein Thema. Auch nicht getarnt als Erpressung, Bestechung oder Verführung. Es herrschte eine freundliche, wohlwollende Atmosphäre, und es gab durchaus den Raum dafür, sich auszuprobieren, eigene Lösungsmöglichkeiten zu finden und damit Selbstwirksamkeit zu erfahren, zumindest innerhalb bestimmter, wenn auch nie benannter Grenzen; es wurde viel (vor-)gelesen, gesungen, gespielt, musiziert, und wir waren immer im Gespräch. Genau das war es, was mir in der ersten Zeit nach meinem Umzug, zwecks Ausbildung, in das 500 Kilometer entfernte Berlin am meisten fehlte: die Gespräche am Mittagstisch, bei denen auch mein Vater auf Grund seines Lehrerberufs anwesend sein konnte.
Ich habe mich oft gefragt, wie meine Eltern es geschafft haben, dass ich in der Spur geblieben bin, die sie gelegt haben. Meine Mutter erzählte manchmal, dass sie für mich, ca. vier Jahre alt, mit Kreide einen Strich auf die Straße gemalt habe, bis zu dem ich gehen durfte. Sie war ziemlich stolz darauf, dass ich diese Grenze wohl immer respektiert habe. Ich selber kann mich nicht erinnern, aber meine späteren Erfahrungen mit mir selber lassen mich nicht an ihrer Aussage zweifeln. Als ich das irgendwann meinen eigenen Kindern erzählte, schüttelten sie jedes Mal fassungslos den Kopf und wollten nicht glauben, dass ich nie ausprobiert habe, wie es hinter dem Kreidestrich aussah, und was passiert wäre, wenn ich das Gebot im wahrsten Sinne des Wortes übertreten hätte.
Wie also hielten sie mich auch später in der Spur? Ich sage „mich“ und nicht „uns“, denn meine drei Brüder hatten andere Eltern. Nicht biologisch natürlich, das war und ist unübersehbar, aber aus ihren Erzählungen weiß ich schon lange, dass dieses gemeinsame Elternhaus mit jedem von uns etwas anderes gemacht hat. Das ging z. T. so weit auseinander, dass ich mehr als einmal dachte, einer der Brüder redet gerade über eine andere Frau, aber doch nicht über meine Mutter. Früher haben mich solche Gespräche stets in eine Verteidigungsposition gebracht. Damals habe ich nicht begriffen, dass diese unterschiedlichen Wahrnehmungen völlig normal sind. Ich hoffte, den Bruder von meiner Wahrheit überzeugen zu können, wenn er sich denn nur anstrengen und richtig hinschauen würde und habe dabei übersehen, dass es nicht um die Wahrheit geht, ja, gehen kann, wenn etwas verteidigt, erklärt, bewiesen werden muss. Nicht einmal dann, wenn es um meine Ansicht zu einem Thema geht, kann ich diese beweisen, denn es ist eben nur meine Sicht auf Dinge, die andere von anderen Warten aus betrachten. Im Übrigen gibt es diese Unterschiede in der Wahrnehmung natürlich auch auf Seiten meiner Brüder: sie wissen nicht immer, von was ich eigentlich rede, wenn ich aus „meiner“ Kindheit erzähle …
Aber wieder zurück zu der Ausgangsfrage: Wie haben sie mich in der Spur gehalten?
Der Groschen fiel bei mir mal wieder lireweise (ja, Groschen und Lire gab es zu der Zeit noch!), wie einer meiner Brüder in seiner unnachahmlichen Art zu bemerken pflegte, wenn ich etwas länger für eine Einsicht brauchte.
Ich will damit sagen, dass es viele Lebensthemen gibt, denen ich immer wieder mal begegne. Es kommt vielleicht zu einer Einsicht, die sich für den Moment vollständig anfühlt, um wenig oder auch viel später verworfen oder erweitert zu werden. So lebe ich mein Leben „in wachsenden Ringen“ oder – wie ich es manchmal empfinde – spiralförmig. Wie auch immer: Leben verläuft eben nicht linear, sondern zirkulär. Das ist zumindest meine Erfahrung. Dazu gehören zum Beispiel auch wohlbekannte, längst überwunden geglaubte Fallen, in die ich von Zeit zu Zeit wieder hineintappe. Wir, mein Mann und ich, zitieren dann gerne ein afrikanisches Sprichwort: „Ich kann nicht verhindern, dass die Vögel um meinen Kopf kreisen, aber ich kann verhindern, dass sie dort Nester bauen.“
Also: wie viele Lire und welche sind inzwischen gefallen – genug für einen Groschen?
Die Antwort ist: ich weiß es nicht, auch wenn es sich jetzt, wie immer in solchen Momenten, so anfühlt, als sei der Groschen voll. Es spielt auch keine Rolle.
Im Blick auf meine Kindheit wird mir die eigenartige Präsenz des Themas der nicht benannten Grenzen deutlich, sieht man mal von dem Kreidestrich auf der Straße ab.
Wenn ich als Jugendliche wissen wollte, wann ich abends zu Hause zu sein habe, war die Antwort: „Was findest du denn angemessen?“
Klingt im ersten Moment ganz gut, so nach: Ich darf es selber entscheiden. Ist aber nicht gut, denn was schlägt die gehorsame Tochter auf diese Frage hin vor? Natürlich einen Zeitpunkt, der möglichst knapp unter der Zeit liegt, von der sie vermutet, dass ihr Vater sie für angemessen hält.