Czytaj książkę: «Monster»

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Brigitte Jünger

wurde 1961 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie und arbeitet als Autorin und freie Journalistin für mehrere Rundfunkanstalten in Deutschland. Sie macht Hörfunkbeiträge zu Themen wie Musik, Kunst, Religion, Zeitgeschichte, Naher Osten und das Zusammenleben verschiedener Kulturen.

Seite 41: Reiner Kunze, rudern zwei. Aus: ders., gespräch mit der amsel

S.Fischer Verlag GmbH, Franfurt am Main 1984

ISBN 978-3-7026-5959-2

eISBN 978-3-7026-5960-8

1. Auflage 2021

Einbandgestaltung: b3k

© 2021 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Druck und Bindung: Buch Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

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Brigitte Jünger

Monster


Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Nachwort

1

Felix war der Letzte, der das Schwimmbad verließ. Er rannte die Treppen zum Ausgang hinunter, nahm immer zwei Stufen gleichzeitig. Die schwere Glastür fiel mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloss. Da hatte er die Straße schon erreicht, schlug nach wenigen Metern einen Haken nach rechts und bog unmittelbar danach in die nächste Querstraße ein. Niemand weit und breit! Waren sie alle schon weg? Felix wunderte sich nur kurz, denn im nächsten Moment fuhr der Bus, auf den er sonst immer warten musste, in die Haltestelle ein. Ungeduldig starrte er auf die sich langsam und ächzend öffnende Fahrzeugtür, sprang hinein und stürmte sogleich nach hinten durch.

„He, Freundchen! Fahrausweis?“

Felix stoppte abrupt, kramte seinen Schülerausweis aus der Jackentasche und ging zurück nach vorne.

„Auch wenn’s die letzte Fahrt ist, umsonst ist der Tod“, sagte der Busfahrer, warf einen kurzen Blick auf Felix’ Ausweis und nickte dann, weil alles okay war.

Die Letzte? Wieso die Letzte? Jetzt erst bemerkte Felix, dass der Bus leer war wie sonst nie. Er ließ sich auf einen Sitz in der letzten Reihe fallen und fühlte sich plötzlich merkwürdig ausgebremst. Vielleicht hätte er nach Hause laufen sollen. Jetzt saß er hier fest und kam sich vor, als hätte er das normale Raum- und Zeitkontinuum verlassen und wäre unvermittelt in eine andere Galaxie katapultiert worden. Alles fühlte sich anders und fremd an, und doch gab es auch hier einen Bus, den Fahrer, die blauen Sitze, die gelben Stangen und die grauen Haltegriffe, die von oben herunterbaumelten. Felix begann sie abzuzählen, sprang mit den Augen von Griff zu Griff, immer weiter nach vorne, wo es schwer wurde, die einzelnen Dinger auseinanderzuhalten. Waren das zwei oder war es nur einer, da rechts, fast beim Fahrer? Egal, Felix wanderte auf der linken Seite zurück, es kam nicht drauf an. Vierundfünfzig? Er startete seine Abzähltour noch einmal. In der Dämmerung nahm er die Felder, die draußen vorbeizogen, nicht wahr. Er zählte weiter, unterbrochen nur von der Stimme der Haltestellenansage, die ihn jedes Mal zusammenzucken ließ. Wieso war sie so viel lauter als sonst? Der Bus erreichte die nächste Ortschaft und der Fahrer schaltete in der Kurve einen Gang hinunter. Kein Mensch weit und breit. An der nächsten Haltestelle wurde der Bus nur langsamer, er hielt gar nicht mehr richtig an, denn kein Mensch wollte hinein oder hinaus. Lavendelweg. Nicht meine. Er hätte jetzt aussteigen können, um wenigstens das letzte Stück zu laufen, doch da gab der Bus schon wieder Gas. Zu spät. Lauter falsche Entscheidungen. Felix schaute aus dem Fenster und wünschte sich plötzlich, es würde immer so weitergehen, fahren, schauen, zählen. Ein Leben im Unterwegs, eingefroren auf drei unvermeidliche Tätigkeiten, die ihn zu einer neuen Spezies machten, einem komplett leeren Augenwesen, das ohne jeden Gedanken an ein Vorher und ein Nachher auskam.

Dahlienweg. Warum ist die Tonbandstimme heute nur so laut? Felix drückte schnell auf den Aussteigeknopf. Im nächsten Moment bremste der Bus und das zischende Geräusch der Türen schnitt ihm ins Trommelfell. Er ging ein paar Schritte, dann schrie die Amsel ihren Abendruf aus den Bäumen herüber, den sie der Welt bei einbrechender Dunkelheit hinterließ. Wer hat all die Geräusche so hochgetunt?

Felix bog in den Geranienweg ein und begann die Platten auf dem Gehweg zu zählen. Zufällig traf sein Blick das Straßenschild, und während er weiter zählte, kam ihm ein anderer Gedanke in den Kopf. Er erinnerte sich, dass er früher immer gedacht hatte, es hieße Geraniehnweg anstatt Gerani-enweg. Dabei war er damals schon im zweiten Schuljahr. Gerade hierhergezogen und neu. Mit hochgezogenen Schultern lief er weiter die stille Straße entlang. Dreiundsechzig. Die Einfamilienhäuser klebten aneinander wie Streichholzschachteln in der Verpackung. Typisch Vorort, verschlafene Ödnis. Er hatte schon damals gewusst, dass er sich nie daran gewöhnen würde. Nicht meine Entscheidung! Pah, selbst die Worte in seinem Kopf klangen lauter als sonst. Links tauchte der Magnolienweg auf. Diese bescheuerten Blumen. Felix begann von Neuem zu zählen, auch wenn er die Platten kaum noch richtig sehen konnte. Alles war besser, als an das Schwimmbad zu denken. Die Dusche. Vierunddreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig. Es kostete Mühe, aber es funktionierte. Noch vier Häuser, dann hatte er seine Schachtel erreicht. Sie lag fast vollständig im Dunkeln. Ein dünner Lichtstreifen aus dem Inneren bahnte sich seinen Weg bis zum Küchenfenster, das neben der Haustür lag. Mama saß vor dem Fernseher. Felix schloss vorsichtig die Tür auf und versuchte leise zu sein.

2

„Felix?“ Er hatte gerade seine Schuhe abgestreift und wollte die Holztreppe nach oben in sein Zimmer gehen, da fing ihn die Stimme der Mutter ein. „In der Küche sind noch Tortellini im Topf, kannst du dir warm machen. Ich komme nicht mehr hoch, bin total k.o.“

Die vertraute Stimme, der entfernte Geruch nach irgendeinem Parfüm, das sie ins kleine Klo neben der Treppe verbannt hatte, die Stimmen aus dem Fernseher. Diese Normalität schnürte Felix die Luft ab. Alles war wie immer, nur er war ein anderer. Ein Ausgestoßener. Diese Erkenntnis zog sich schmerzhaft durch seinen ganzen Körper, vom Hals bis in die Eingeweide. Messerscharf.

„Felix? Kommst du? Der Millionär ist noch dran, hat heute eine Extrasendung. Du bist spät.“ Er setzte sich auf eine der hölzernen Stufen gegenüber der Wohnzimmertür und schloss die Augen.

„Komme gleich.“

Die Arme um seinen Körper geschlungen, versuchte er den toten Punkt in seinem Inneren zu überwinden. Ein riesiger Graben lag zwischen ihm und allem, was hier vertraut und selbstverständlich war. Wie soll ich diesem Schlund entkommen? Gleichzeitig war es nur ein kleiner Schritt, denn nur er wusste davon. Dass er ein Fremder geworden war in diesem Haus, in einer dieser Blumenstraßen, in dieser Welt. Die Normalität um ihn herum war die Gleiche geblieben. Vielleicht musste er es nur schaffen, so zu tun, als wäre sie auch für ihn weiter normal.

„Kommst du?“ Wieder Mamas Stimme. „Die achttausend Euro Frage: Wer wurde 1976 in Montreal Weltmeister über hundert Meter Freistil der Männer? James Montgomery, Jerry Heidenreich, Wladimir Bure oder -?“

„Mark Spitz.“

Ein Name, eine Brücke hinüber auf die andere Seite der Welt. Felix gab sich einen Ruck, stand auf und ging in die Küche, um sich die Tortellini warm zu machen. Er stellte erleichtert fest, dass er das noch konnte. Als er mit dem Teller ins Wohnzimmer ging, war die Schwimmerfrage glücklicherweise längst abgehakt. Er setzte sich zu Mama aufs Sofa, legte seine Füße auf den Couchtisch und begann zu essen. Mama rückte näher und strubbelte ihm durchs Haar.

„Na, alles okay, Großer?“

Felix riss seinen Kopf so heftig zur Seite, dass die Tortellini vom Teller aufs Sofa schwappten. Er sprang auf und knallte den Teller auf den Tisch.

„Mensch, spinnst du denn?“ Mama schaute erschrocken, aber mehr noch empört, und sprang dann ebenfalls auf, lief in die Küche und holte einen Wischlappen. Da war Felix schon aus dem Zimmer gestürmt und die Treppe hinauf in sein Zimmer gerannt. Keine verdammte Berührung, hämmerte es in seinem Kopf. Das mit der Brücke war vorerst ein Irrtum.

3

Unter Wasser atmen. Seit ich die ersten Züge durchs Wasser gemacht habe, als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich diesen Traum. Abtauchen, wegschwimmen, nicht zurückkehren. Durchs Wasser gleiten, widerstandslos, immer weiter durchs Grünblau, aufmerksam jede Regung zwischen den Algen und den verschwommen auftauchenden Felsen betrachten. Leicht sein und völlig eins mit dem Wasser. Jetzt, unter der Bettdecke, ist es ganz einfach, sich das vorzustellen. Seegras kitzelt mich am Bauch und ein Korallenfisch kommt um die Ecke und schaut mir erstaunt in die Augen. Mama wollte nie nach Griechenland in den Urlaub. Zu teuer. Aber ich sehne mich danach, zu schnorcheln und mit den Fischen zu schwimmen. Das machen immer nur die anderen. Unten schlägt Mama die Wohnzimmertür zu. Sie ist immer noch wütend. Wahrscheinlich. Dass sie mir hinterherläuft und hier in meinem Zimmer auftaucht? Ne, das macht sie nicht. Sie läuft einem nie hinterher. Seit Papa weg ist, reagiert sie auf irgendwelche Wutausbrüche mit Eiseskälte. Tür zu und Schluss. Okay, manchmal kann sie auch ausflippen. Das war scheiße, die Tortellini auf dem Sofa und dem Teppich. Sie wollte ja nur lieb sein. Ich weiß es ja, es ist einfach nicht fair. Sie ist doch die Einzige, mit der immer alles gut geklappt hat.

4

Endlich konnte er weinen. Über alles. Über Mama, aber am meisten über sich selbst. Wie in einem Tunnel lief die Zeit in Sekundenschnelle im Rückwärtsgang und wieder stand er im Schwimmbad unter der Dusche. Weller hatte ihn länger trainieren lassen als die anderen. Der nächste Wettkampf stand in wenigen Wochen bevor. Erschöpft stand er endlich unter der heißen Dusche. – Cut! – Er wollte nicht länger hinschauen. Hier war Schluss.

5

Das Heft, die leere Seite, der Stift. Die Linie irrt umher und weigert sich, irgendeine Gestalt anzunehmen. Wie soll man einen Geruch zeichnen? Die Starre? Den Ekel? Wieso gelingt mir überhaupt gar nichts? Die Wut über mich selbst fließt in die Mine des Stiftes und kritzelt alles weg. Den Spind, das Handtuch, die Stille. Wieso war eigentlich niemand mehr da gewesen? Ich kritzele weiter und aus den wilden Strichen wird ein Gitter, ein Gefängnisgitter. Ich sperre alles in dieses tiefe, dunkle Verlies. Soll er dort verrecken.

6

Felix erwachte vom Gekeife der Krähen und Elstern, die sich im Baum vor seinem Fenster ein lautstarkes Wortgefecht lieferten. Seid ihr bescheuert?! Er warf die Bettdecke von sich und fasste sich unter den nass geschwitzten Pulli. Kein Wunder, wenn man mit allen Klamotten ins Bett geht! Halb acht. Er sprang auf und ging unter die Dusche. Zehn Minuten später kam er hinunter in die Küche, wo Mama schon saß und durch die Zeitung blätterte. Sie schaute kurz auf, sah dann aber wieder auf das Papier vor sich. Felix nahm sich einen Kaffee und setzte sich ihr am Tisch gegenüber.

„Sorry.“

Sie wusste, was er meinte, schaute aber nicht auf, sondern blätterte die Seite um, die sie gerade überflogen hatte. Dann erst blickte sie auf und landete punktgenau in seinen Augen. „Dein nasses Schwimmzeug steht auch immer noch im Flur.“

Er schaute hinunter in seinen Kaffeebecher und nickte.

„Ich geh nicht mehr.“

„Schwimmen?“

Er hatte sie aus dem Konzept gebracht. Merkte man deutlich. Das gefiel ihr nicht.

„Nach sieben Jahren Training taugt der Sport jetzt plötzlich nicht mehr?! Ist irgendjemand besser als du?“

„Ja, klar!“ Sofort war die Wut wieder da. Felix stand abrupt auf, schnappte sich seine Tasche und lief aus dem Haus. War ja klar. War ja sowas von klar.

7

Am Schultor hatten es die Fünfer, wie immer, besonders eilig. Sie wimmelten herum, mussten noch dieses und jenes erledigen und quasselten ohne Unterlass. Im Gegensatz dazu schlurfte Felix mit einer Schicksalsergebenheit durch das Gewusel auf dem Hof, die eine Gruppe Siebener für besondere Lässigkeit hielt und aus den Augenwinkeln heraus neiderfüllt bewunderte. Er war immerhin so etwas wie der Star der Schule, denn er hatte sie bei der letzten Schwimmmeisterschaft zum Stadtsieger gemacht und es sogar zu einer Erwähnung auf der Lokalseite der Zeitung gebracht. Felix nahm keine der herumstehenden Schülergruppen sonderlich wahr. Sie waren die Staffage, die zu jedem Schultag dazugehörte. Er ging über den Hof, ohne auf den Weg zu achten, den er schon tausende Male gegangen war, vertieft in die Frage, ob man ihm eigentlich etwas ansah. So lief er auf den rechteckigen Schulbau zu, vier Reihen Fenster übereinander, ein Eingang rechts, ein anderer links, dazwischen eine Reihe vernachlässigter Sträucher, zwischen denen Coladosen und Papier vergammelten. Genauso fühlte er sich auch. Benutzt. Man musste es ihm doch ansehen! Es stand doch in großen Buchstaben auf seiner Stirn geschrieben, für jeden sichtbar: Ich bin ein Dreck. Aber niemand beachtete die rotglühende Flammenschrift.

„Hey, Hummuckel!“

Noch ehe Felix das Schulgebäude erreicht hatte, umschlangen zwei dicke Arme die Mitte seines Körpers und das dazugehörige Gesicht drückte sich fest in seinen Bauch. Er roch nach Gummibärchen und war wie immer voll guter Laune. Felix sog seinen Geruch ein und drückte ihn ebenfalls.

„Hallo Juri, altes Haus.“

Der Junge hielt Felix weiter umklammert, hob aber nun den Kopf und sah zu ihm auf. „Quatschkopf du! Du dünner Hering. Ich bin doch ein junges Haus.“

Er schmatzte beim Sprechen und die Worte kamen mit Pausen zwischen den Buchstaben aus seinem Mund. Dann hob er seine geschlossene Faust und Felix reagierte sofort und hielt ihm seine entgegen und sie klatschten sich ab, Faust an Faust. Gleich darauf fuhr Juri den Zeigefinger seiner rechten Hand aus und sagte:

„Weißt du, dass Heringe die Lieblingsspeise vom Haifisch sind?“ Er grinste.

Felix grinste mechanisch zurück.

„Du hast wohl mal im Unterricht aufgepasst oder wie kommst du darauf?“

„War gestern im Fernsehen“, antwortete Juri. „Die sind soooo gruselig, wenn die das Maul aufreißen!“ Er schüttelte sich. „Zum Glück bin ich kein Hering, sondern Astronaut!“

„Astronaut?! Und wo sind dein Raumanzug und dein Helm?“

Juri stemmte seine Fäuste in die Hüfte.

„Brauch ich doch nicht! Wenn die Erde der Mond ist, kann ich doch ganz einfach Sauertopf atmen.“

„Sauerstoff!“

Juri schlenkerte mit seinen Armen. „Ja, genau, sag ich doch. Du Besserwürstchen.“ Er hob die Faust und sie klatschen sich wieder ab. „Bis dann“, sagte Juri, „und schwimm nicht so weit raus, okay!“ Im nächsten Augenblick breitete er seine Arme aus und lief als Flugzeug in Richtung des Schulhauses davon. Dabei zog er Schleifen nach links und nach rechts direkt auf die Gruppe der Siebener zu, die auseinanderstoben und „Spasti!“ riefen. Felix sah ihm grinsend hinterher.

Ein einziges winziges Gen hatte Juri zu einem lebendigen Beispiel dafür gemacht, dass eben nicht alle Menschen auf die gleiche Weise normal waren. Aber was hatte seine Normalität für unglaubliche Vorteile! Für ihn gab es keine unsichtbaren Mauern, die andere selbstverständlich umgaben. Er trat auf jeden ohne Scheu zu und sagte, was er sagen wollte. Oder stellte sich zu einer Gruppe, die ihn auf irgendeine Weise anzog, einfach dazu, sagte Hallo und war dabei. All die tausend Bedenken, die jeder andere mit sich herumschleppte, schienen für ihn nicht zu existieren. Außerdem hatte er oft so eine Art siebten Sinn für das, was mit den anderen los war. Als besäße er einen geheimen Draht in das Innere der Menschen. Es war schwer, etwas vor Juri zu verheimlichen.

Felix hatte zuerst einen Schreck bekommen, als Juri da eben auf ihn zu gekommen war. Aber wenn selbst er nichts gemerkt hatte, dann konnte Felix ziemlich sicher sein, dass niemand etwas bemerkte. Juris Seismografenblick konnte durchaus unangenehm sein – wie überhaupt der ganze Juri mit seiner tapsigen Gestalt, den schrägen Augen und dem meist offen stehenden Mund nicht überall auf große Gegenliebe stieß. Mongo war noch die harmloseste Bezeichnung, die die Schüler hinter seinem Rücken benutzten. Felix mochte ihn exakt deshalb, weil er anders normal war. Er war ein Lichtblick, genau wie Dahlmeier.

Heute hätte er diesen Lehrer wirklich gebraucht. Einfach weil er so war, wie er war. Aber heute hatten sie kein Deutsch. Als Felix das Schulgebäude betrat, schaute er sich suchend um, ob er die schlenkernde Gestalt Dahlmeiers nicht irgendwo auf den Gängen entdeckte. Schon von Weitem fiel auf, dass ihm das Gehen Mühe machte. Das rechte Bein schien bei jedem Schritt gegen einen Widerstand anzugehen und funktionierte nur mit Verzögerung. Humpelnd lief er herum, wobei sein rechter Arm leblos an der einen Seite seines Körpers herunterhing. Nach einem Unfall vor etlichen Jahren war der Arm zu nichts mehr zu gebrauchen und fristete sein Dasein als lästiges Anhängsel. Aber die öde Wüste des Schulalltags öffnete sich einen Spalt weit, wenn Dahlmeier für den Deutschunterricht in die Klasse kam. Wenigstens ein Blick auf diesen Lehrer hätte Felix heute Morgen Mut gemacht. Als er kurze Zeit später das Klassenzimmer betrat, war alles wie immer. Marius feilte seine Fingernägel. Einar schaute in sein Heft und ging noch mal seine ellenlange Hausaufgabe durch, um gleich mindestens einen schlauen Satz raushauen zu können. Vince lag halb auf seinem Pult und hörte Musik. Hamid war in ein Buch versunken. Pufu, mit dem Felix manchmal zusammen Ballerspiele und Waldläufe machte, hob kurz seine Hand und Alva schaute ebenfalls zu ihm herüber, wechselte von der Kippel- in die normale Sitzposition und lächelte. Lächelte so einfach und so selbstverständlich, wie sonst niemand hier. Felix war sogleich wieder verunsichert. Sollte das alles wirklich bedeuten, dass er einfach so weitermachen konnte wie vorher? Niemand reagierte anders als sonst. Keiner sagte: Felix? Wieso bist du heute so anders? Felix, wieso bist du heute so ein Häuflein Asche und nicht mehr der strahlende Schwimmheld?

Er sank an seinem Platz auf den Stuhl, dann kam der Teschner herein und sie hatten Mathe. So ein Mist. Felix holte sein Heft heraus und schaltete im gleichen Moment ab. Er beobachtete die Spinne, die schon gestern begonnen hatte, in der rechten Ecke des mittleren Fensters ihr Netz zu weben. Jetzt saß sie dick und fett mittendrin und Felix wunderte sich, dass Manu noch nicht in hysterisches Gekreische ausgebrochen war. Aber sie saß mit dem Rücken zum Fenster und hatte die Spinne wahrscheinlich noch gar nicht gesehen. Er begann wieder zu zählen, die Fenster, die Rahmen, die Griffe, die Vorhänge. Kleine Fische. Er wanderte hinüber zu den Fliesen an der Wand mit der Tafel, die schon eine größere Herausforderung waren und versuchte, nicht aus der Spur zu geraten. Mathe fand irgendwo in einem anderen Universum statt und er bekam nicht mit, dass der Teschner ihm schon zum zweiten Mal die gleiche Frage stellte.

„Felix! Würdest du dich eventuell zu einer Antwort herablassen?“ – Pause. – „Felix! Bist du bekifft oder einfach nur gewohnheitsmäßig abwesend?“ Der Teschner hob das Mathebuch vom Pult und ließ es im nächsten Moment mit einem lauten Knall auf die Tischplatte fallen.

Schwerfällig veränderte Felix seine Sitzposition und sagte: „Keine Ahnung.“

Die Jungs in der hinteren Reihe lachten anerkennend, aber gerade noch so, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Der Teschner sagte: „Okay, Einar, hast du vielleicht das, was diesem Herrn hier fehlt?“ Er hatte.

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