Sissi - Numquam retro ... Niemals zurück?

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»Weißt du, wen ich heute Vormittag getroffen habe und wer mit mir geplaudert hat?«, fing Agnes an.

»Nein.«

»Unsere ehemalige Nachbarin, die Dorli.«

»Dorothea Schuster?« Arnos Mutter! Verblüfft ließ ich mich auf die Bank nieder, befand mich damit unmittelbar an Mamas Seite.

»Ja, ist das nicht nett von ihr? Beneidenswert, wie fit sie mit ihren Fünfundsechzig ist. Dabei bin ich kaum fünf Jahre älter als sie.«

»Ich wusste gar nicht, dass ihr Kontakt miteinander habt.«

»Hatten wir schon länger nicht. Das Treffen war rein zufällig. Dorli hat wegen eines Platzes für ihren Mann Udo angefragt, der hat Parkinson.«

»Oh.«

»Er ist einige Male gestürzt, hat sich dabei einen Arm gebrochen und schmerzhafte Prellungen zugezogen. Wie lästig solche Brüche sind, das kenne ich allzu gut.«

»Das tut mir leid.«

»Mir auch. Sie macht sich schwere Gedanken darüber. Ich hoffe, dass ich ihr ein paar nehmen konnte. So wartet sie auf einen freien Platz, was dauern kann, da es eine Warteliste gibt.«

Mama klang so gleichmütig, als sie vom freien Platz sprach, dabei hieß das nichts anderes, als dass zuerst jemand sterben müsste. »Ich hätte dich lieber bei mir und nicht im Heim«, entgegnete ich betrübt.

»Ach, mein Kind. Mir fehlt hier nichts. Das Pflegepersonal ist nett, ich habe Menschen, mit denen ich mich unterhalten kann. Du besuchst mich häufig, obwohl du jung bist und dein eigenes Leben vor dir hast. Ich bin dir deshalb nicht gram, sondern stolz darauf, so eine wunderbare, fleißige Tochter zu haben. Im Herzen wünsch ich mir, dass du irgendwann die Liebe fürs Leben findest. So etwas Schönes und Intensives, wie ich es mit deinem Vater hatte. Versprich mir, dass du zugreifst, wenn der passende Mann auftaucht.«

Ich nickte, meine Augen wurden feucht. »Ich hab dich so lieb, Mama.«

»Ich dich auch, mein Kind.«

Wir umarmten uns innig.

»Mir geht es wirklich gut.« Agnes löste sich als Erste. »Ich mag auf keine Berge mehr klettern können, aber glaub mir, gedanklich tue ich es ganz oft. Ich darf auf ein herrliches Leben zurückblicken. Das gibt mir innere Zufriedenheit, macht mich glücklich. So genieße ich jeden Tag, freue mich, wenn die Sonne scheint, genauso wenn es regnet. Alles hat seine Zeit. Es ist der Lauf der Dinge.«

»Ich bewundere dich.«

»Das brauchst du nicht.« Mutter lächelte. Wir hielten uns an den Händen.

Ich konnte kaum das Gefühl vertreiben, dass ich unweigerlich wertvolle Momente mit meiner Mama verpasste. Wie lange wird sie noch leben? Monate, Jahre? Papa war auch von einem Tag auf den anderen nicht mehr da … Ab einem gewissen Alter könnte jeder Tag der letzte sein, obwohl man das nie wahrhaben wollte. Als Krankenschwester musste ich mich von Berufswegen mit Krankheit, Tod und Vergänglichkeit beschäftigen, mehr als mir lieb war. Es gruselte mich.

»Guck nicht so traurig«, rügte sie mich sanft. »Ich weiß, was ich an dir habe. Dorli hat es dabei deutlich schwerer.«

Ich wurde hellhörig. »Du meinst wegen der Pflege ihres Mannes?«

»Nicht nur. In der Ehe ihrer Tochter Andrea gibt es ernsthafte Probleme. Ich hoffe für sie, dass es zu keiner Trennung kommt. Grad für die eigenen Kinder wünscht man sich, dass alles zufriedenstellend funktioniert. Und dann ihr Sohn … Dorli ist kein Mensch, der gerne um Hilfe bittet.« Mama seufzte.

»Du meinst Arno?« Ich schaffte es, seinen Namen ohne zittrigen Unterton auszusprechen, was mich selbst verwunderte.

»Tja, er wird auf ewig ihr Sorgenkind bleiben. Du kennst ihn ja, ein Rabauke war er schon früher, wenn auch ein süßer Rabauke mit den dunklen Augen und dem schwarzen Haar.«

»Ich fand ihn immer nett.«

»Hast du vergessen, wie er dich bei den Nachbarn im alten Hühnerstall eingesperrt hat?«

Durch mich ging ein Ruck, es erwachte eine ferne Erinnerung. Ich sah mich inmitten eines Bretterverschlags, der den Hühnerstall darstellte. Das Sonnenlicht flutete durch die Ritzen ins Innere. Neben mir wuselten winzige gelbe Küken, die ich auf die Hand genommen hatte. Ich fand sie kuschelig, richtig flauschig, hätte Stunden dort zubringen können, und wohl deshalb die Zeit darüber hinaus vergessen. Falls Arno mich damit einschüchtern wollte, hatte er es nicht geschafft. Ich rief weder nach Hilfe, noch konnte ich nachvollziehen, weshalb alle im Umkreis in heller Aufregung gewesen waren. Heute schon. Ich lachte. »Stimmt. Da war dieser große Altsteirer-Hahn, Hühner und ganz viele Küken.«

Nun lachte Mama ebenso. »Ach Kind, Gott sei Dank hat man dich wohlbehalten gefunden. Und unsere Sorgen von damals sind längst vergessen.«

»Außerdem hat Arno seinen Streich zugegeben. Er wollte mich rauslassen, doch der schwere Riegel hatte sich verkeilt, da war er auf Hilfe angewiesen.«

Mama legte ihren Kopf ein wenig schief. »Im Herzen war er stets ein feiner Kerl. Und das schlechte Gewissen hat ihn wochenlang gedrückt, er konnte mir gar nicht in die Augen schauen. So passieren im Leben immer wieder Dinge, die einem die Ruhe rauben oder vom rechten Weg abbringen können.«

»Was meinst du? Hat Frau Schuster Genaueres erzählt?«

»Dass Arno geschieden ist, weißt du ja. Die Umstände sollen heftig gewesen sein. Doch ich will nicht darüber mutmaßen.«

Ich nickte zustimmend. An seine Ex erinnerte ich mich dunkel. Ich wusste, dass sie blondes langes Haar hatte. Da ich sie kaum kannte, wollte ich ebenso wenig ein Urteil über sie fällen. Ihr Name war mir entfallen. Bemerkungen von außerhalb stand ich kritisch gegenüber, da einige Menschen die Angewohnheit besaßen, Blödsinn zu labern. Schlussendlich gehörten Zwei dazu, weshalb eine Ehe scheiterte oder nicht. Vielleicht machten sich manche Paare heutzutage auch keine Mühe mehr, um für ein gemeinsames Leben zu kämpfen.

Wollen wir nicht alle frei und unabhängig sein, unseren eigenen Willen durchsetzen? In diesem Fall konnte ich nicht richtig mitreden. Meine Beziehungen hatten bisher nie Bestand gehabt. Bin ich zu wählerisch und sind meine Anforderungen an einen Mann zu hoch? Er soll ehrlich, sportlich sein, Humor besitzen, mich beschützen und manches Mal wie seine Prinzessin behandeln.

»Nein, das ist es nicht. Nicht nur«, nahm Mama erneut das Gespräch auf. »Es gibt Tage, in denen er glücklich wirkt, hin und wieder überdreht, an anderen ist es eine Kleinigkeit, die ihn in Rage bringt.«

»Das hat Frau Schuster genauso gesagt?«

»Wenn ich ihn so vor mir stehen sehe, groß, durchtrainiert, voller Elan, denke ich mir, was für einen fantastischen Sohn ich habe. Aber diese Augen, so voller Kummer, manchmal wie erloschen oder innerlich erfroren, dann sorge ich mich. Ich möchte fragen, was ist los? Oft habe ich es getan, ohne eine Antwort darauf zu erhalten. Irgendwann fragt man nicht mehr, sondern schaut den Menschen an, fühlt dessen Qual, liest sie ihm im Gesicht ab, ohne daran etwas ändern zu können. So hat es Dorli gesagt.« Mama räusperte sich. »Ganz ehrlich, ich glaube, dass Arno ein sehr feinfühliger Mensch ist, der seine Emotionen unter der Oberfläche versteckt halten möchte. Das kann auf Dauer niemals funktionieren. Es würde ihm guttun, wenn er die Drei-Tages-Regel beherzigen könnte. Je länger man darüber hinaus geht, umso schwieriger wird es, Dinge anzusprechen, die nach wie vor da sind und wie ein Damoklesschwert über einen schweben.«

»Stimmt, mit deiner Drei-Tages-Regel bin ich immer gut gefahren.«

»Zumindest braucht es einen Freund, dem man jene Sachen anvertrauen kann, die auf der Seele lasten. Das hat Arno schon als Jugendlicher nicht gemacht, sondern sie entluden sich in seinen psychischen Problemen.«

»Wovon sprichst du?«

»Weißt du das denn nicht mehr? Ach herrje, da warst du im Internat der Schwesternschule.«

Fragend schaute ich Mutter an.

Agnes tätschelte mir beschwichtigend die Hand. »Oder täusch ich mich? Hmm, bestimmt sogar. Da hab ich grad etwas verwechselt. Es werden nicht nur meine Knochen alt, sondern offenbar auch mein Kopf.«

Mama überzeugte mich keineswegs. Was ist damals vorgefallen?

Ehe ich die Frage stellen konnte, fuhr Mama fort: »Ich bin wirklich dankbar, dass du so ein gutes Kind bist. Manchmal etwas leichtgläubig, doch ein gutes Kind. Bringst du mich bitte zurück?«

Leichtgläubig? Ich? Warum will sie nicht, dass ich nachhake? Da realisierte ich ihren angestrengten Blick. Ich erhob mich. »Natürlich, bald ist Abendessenszeit, außerdem wird es merklich kühler«, entgegnete ich, während ich für mich dachte: Aufgehoben ist nicht aufgeschoben.

»Danke. Mein Liebes.«

Wüste im Irgendwo

Die Landschaft war tief eingehüllt in einer riesigen Pulverwolke, zeigte kaum etwas von der ausgedorrten Landschaft, dem trockenen Sand, den kargen Büschen. Ein Tosen und Knallen ließen die Erde erbeben, sodass selbst die Tiere sich irgendwo verschanzten oder wie in einer Totenstarre liegen blieben. Das Blitzen der Geschütze und der Waffen durchbrachen die Dämmerung, erinnerten an ein Feuerwerk, das ein neues Jahr einleiten könnte. Hier gab es nichts zu feiern, Jahreswechsel stand auch keiner bevor. Von allen Seiten wurde das Camp bombardiert und beschossen.

»Shitt«, fluchte Alpha mit zusammengebissenen Zähnen. Keiner von ihnen war heil, die Wunden notdürftig versorgt, die Schmerzmittel vorm Versiegen. Die Munition schrumpfte. Es ging ums nackte Überleben. Omikron und er hatten sich in einer dafür eigens ausgehobenen Grube in Stellung gebracht. Während der Kamerad feuerte, hielt Alpha den Magazingurt des Maschinengewehrs, um eine Ladehemmung zu vermeiden und bei Bedarf den Lauf auszuwechseln. So kurz nach der Operation taugte er ohnehin nicht für mehr.

 

»Wenn nicht bald die Verstärkung kommt …« Omikron ließ den Satz unvollendet, oder dieser ging im Lärm des tosenden Gefechts unter.

Verstärkung, darauf hoffen wir alle. Wie lange werden wir noch durchhalten? Ein paar Tage? Eine Woche, ehe wir den Rebellen ausgeliefert sind? Jeder von ihnen wusste, was das bedeutete. Kaum entfernt schlug eine Kugel ein, Erde spritzte empor.

Alpha duckte sich instinktiv, bemerkte unmittelbar neben sich eine Schlange. Sein gesamter Körper war eine einzige Pein, ein Biss dieses Reptils könnte seine Qualen beenden. Nach den Jahren voller Bürden, verbunden mit der Angst, bald selbst tot zu sein, wirkte kaum etwas begehrlicher. Er sehnte sich für den Bruchteil einer Sekunde genau danach. Wie hoch stehen die Chancen, jemals das Heimatland zu sehen? Null Komma irgendwas … Die Verletzung hat mich zu einem Greis gemacht. Ich bin momentan eine Jammergestalt, die nicht die Bezeichnung Elitesoldat verdient.

Alpha visierte die Schlange an, erwartete, dass sie zubiss. Nichts geschah. Geduckt schlichen sie weiter, um kein offensichtliches Ziel abzugeben. Er suchte den Boden nach verräterischen Spuren ab. »Stopp!«, rief er aus. Ein Kabel! Von den Feinden musste jemand unbemerkt in ihr Areal vorgedrungen sein! Wenigstens funktionierte sein Sehvermögen einwandfrei.

Omikron hielt inne, realisierte, dass sich direkt neben ihnen eine Sprengfalle befand. Ein weiterer Schritt und sie hätten die Druckplatte ausgelöst, wären nur mehr in Einzelteilen vorhanden. Hat mein Freund mich trotz der tosenden Schüsse ringsum gehört? Es blieb keine Zeit für ein Dankeschön, nicht einmal dafür, um kurz durchzuschnaufen. Erneut wirbelten Staub und Steine empor. Die Augen brannten, der Hals kratzte, der Kampfanzug pappte an der Haut. Omikron feuerte. Sie würden niemals kapitulieren, solange ein Schuss Munition vorhanden war.

Freunde

Wie geht es dir?, fragte ich per Messenger Arno, der sich bis jetzt nicht gemeldet hatte. Es war halb neun Uhr abends. Im Hintergrund lief der Fernseher mit einem Liebesfilm, dem ich halbherzig folgte. Amadeus lag ausgestreckt auf der Couch, hatte meinen Stammplatz in Beschlag genommen. Das Handy blieb stumm. Da sowieso nicht an Schlaf zu denken war, schnappte ich mir eine Jacke, um auszugehen. Eigentlich mochte ich es nicht sonderlich, ohne Verabredung aufzubrechen. Doch unweit von meiner Wohnung entfernt befand sich die Beef-Bar, in der meine Freundin Sophie als Kellnerin sowie deren Mann Hubert als Koch arbeiteten.

Keine zehn Minuten stand ich mich vor dem Lokal. Es lag mitten am Hauptplatz, war im sechzehnten Jahrhundert erbaut worden. Unverkennbar hob es sich von den angrenzenden Häusern ab. Vor dem Eingangsbereich standen Holztische und Bänke. Die Wand war übersät mit diversen Schildchen, auf denen die Tagesempfehlungen präsentiert wurden, sowie einem schnauzbärtigen Biertrinker, der als Markenzeichen für das Moretti-Bier fungierte. Ein weiteres langgezogenes Schild mit einer Rind-Karikatur zeigte unverkennbar, dass hier Fleischliebhaber voll auf ihre Kosten kommen würden.

Ebenso eigenwillig und urig war das Innere des Lokals. Von der Holzdecke hingen zig Leuchten und verschiedenste Dekorationen herab. Der hintere Raum war ein Gewölbe, dort lagerten in einer Nische Holzscheite aufgeschichtet. Die Zubereitung der Fleischstücke geschah ohne Strom in der offenen Kochstelle, mit einem Holzkohleofen sowie ein Big Green Egg – ein grünfarbener Griller. Dadurch erhielt das Essen seinen charakteristischen Geschmack.

Kaum war ich eingetreten, bemerkte mich Sophie. Sie eilte mir entgegen, schloss mich fest in die Arme. »Hey, schön dich zu sehen. Du hast gar nicht erwähnt, dass du kommst. Hast du Hunger?«

»Hey. Und nein danke.« Ich ließ den Blick schweifen, in der hinteren Ecke saß eine lustige Truppe, die lachten und lautstark durcheinanderriefen. »Ein Polterabend?« Ich löste mich aus ihrer Umarmung. Mit meinen einen Meter sechzig reichte ich der Freundin knapp über die Schultern, heute, mit den hochhackigen Schuhen zumindest bis zur Nasenspitze.

»Ja.« Sophie schüttelte ihr kurzes blauschwarzes Haar, das widerspenstig in jegliche Richtungen abstand und stets unfrisiert wirkte. Ihre wasserblauen Augen funkelten hell. Kess stemmte sie die Hände in die Hüften. »Nachdem die ersten Gläser zu Bruch gegangen sind, musste ich ihnen eine Ansage machen. Du weißt, ich bin nicht kleinlich, aber alles kann ich nicht durchgehen lassen. Der Bräutigam schläft in einem Zimmer nebenan, seinen Promillespiegel möcht ich nicht kennen und den Kater morgen noch viel weniger. Dabei war deren Plan, sich hier eine Unterlage zu verschaffen, ehe sie ins nächste Lokal weiterziehen wollten.«

»Ist er allein im Zimmer?« Unweigerlich dachte ich daran, dass der Blutzucker in den Keller rauschen, er sich in Rückenlage übergeben könnte, seine Überlebensreflexe durch den Alkohol bedingt nicht mehr richtig funktionieren und er schlimmstenfalls alles aspirieren würde.

Sophie seufzte. »Nein, meine Lieblings-Nurse, er ist nicht allein. Du hast mich mit deinem Sozialtrip längst angesteckt. Seine Braut ist gekommen, hat ein wachsames Auge auf ihn, ausgestattet mit Saft und Traubenzucker, die sie von mir erhalten hat. Es muss Liebe sein, dass sie es bei diesem stinkenden Kerl aushält.«

Ich entspannte mich. »Tja, bei einem Polterabend wäre ich auch nachsichtig, sofern er sonst weiß, wo sein Limit liegt.«

Sophie bugsierte mich zu einem freien Tisch. »So, Puppi, was darf ich dir bringen?«

»Ein Bier wäre fein.«

Erstaunt zog sie eine Augenbraue hoch. »Normalerweise ist immer Apfelsaft deine erste Wahl. Ist etwas passiert?«

Verdammt, sie kennt mich zu gut! »Nein, alles okay.« Ich versuchte, die Anspannung wegzulächeln. Es prickelte in meinen Fingern, nachzusehen, ob Arno mittlerweile die Nachricht gelesen hatte. »Hab nur Lust darauf.«

»Sicher?« Kurz musterten sich Sophies Augen.

»Noch eine Runde!«, erklang es vom hinten gelegenen Tisch.

»Kommt gleich!«, rief sie zurück. »Ich fürchte, ich habe kaum Zeit für Smalltalk.«

»Kein Problem, ich bleibe eh nur auf einen Absacker. Kümmere dich um deine Gäste. Ist Hubsi gar nicht da?«

»Männerschnupfen«, stellte sie trocken fest, reichte mir eine Flasche Moretti-Bier. »Dafür brauchen meine Eltern nicht auf Samuel aufzupassen, sondern haben einen freien Abend gewonnen. Und unser zweiter Koch musste früher los. Aber in einer halben Stunde – Stunde – ist eh Feierabend, das schaff ich schon.«

»Hoffentlich wächst es sich nicht zu einer waschechten Männergrippe aus.«

»Das werde ich zu verhindern wissen.« Sophie lachte, kehrte mir den Rücken zu, damit sie die Getränke für die anderen Gäste zubereiten konnte.

Ich nahm einen Schluck des italienischen Biers, das meine Kehle herabprickelte. Ich mochte den leicht malzigen Geschmack. Schließlich holte ich das Smartphone aus der Jackentasche hervor. Es blinkte ein gelbes Licht. Rasch öffnete ich die eingegangene Nachricht. Sie war von Arno.

Geht so.

Das klang vage und ausweichend.

Das heißt?

Die Schulter schmerzt ziemlich, dabei sind die Kugel und die Splitter draußen!

Schussverletzung! Ich nahm einen großen Schluck Bier, um diese Neuigkeit zu verdauen. Meine Befürchtungen waren genau in diese Richtung gegangen. Im Hintergrund erklang ein erfreutes Johlen, als Sophie das Tablett mit den alkoholischen Getränken herbeibalancierte. Als Aufmerksamkeit hatte sie ein paar befüllte Gläser mit Salzstangen dabei, damit ihre Gäste etwas knabbern konnten. Meine Freundin wirkte mit ihren langen Beinen wie ein Model. Mir gefielen die manikürten Gelfingernägel, deren Farbe sie je nach Lust und Laune veränderte. Momentan waren sie knallrot. Ich begutachte kurz meine Nägel, sauber, unlackiert und kurzgeschnitten, wie man es von einer Krankenschwester erwartete.

Ruh dich ja aus, tippte ich.

Heute geht eh nichts mehr.

Sag bloß, du warst schon auf den Beinen? Das kann dein Kreislauf nicht mitmachen.

Hab’s versucht, nun zittere ich komplett.

Wenn du zusammenklappst, bist du für niemandem eine Hilfe.

Weiß eh nicht, ob ich das überstehe. Hab so viele heimgebracht … Darf keiner wissen, bitte, sag auch du nichts.

Versprochen, bleibt alles geheim.

Ich schlaf jetzt, bin voll k.o. Bekomm ein Schmerzmittel.

Ja, mach das. Bis bald.

Mein Handy blinkte kurz darauf, zeigte mir einen weinenden Smiley. Besorgt starrte ich aufs Display, bis das Hintergrundlicht erlosch.

Günther befand sich vor der gläsernen Eingangstür, die zur Beef-Bar führte. Er mochte das Ambiente, nicht nur deshalb, weil sein Bruder Hubert und seine Schwägerin Sophie darin arbeiteten, sondern da die Ausstattung des Lokals ein eigenes Flair besaß. In Zukunft würde er häufiger in der Bar sein, denn er war dabei, den Lebensmittelpunkt von Graz in den Heimatort Frohnleiten zu verlegen.

Ob meine Entscheidung gut durchdacht ist?, grübelnd stierte er auf den Einlass. Immerhin bin ich weggegangen, weil ich Abstand brauchte, hab mich rar gemacht, tauchte höchstens zu besonderen Anlässen auf. So waren Monate und Jahre vergangen. Hubert und Sophie hatten eine Familie gegründet. Während sein süßer Neffe Samuel stetig größer wurde, fiel es ihm zusehends schwerer, in die Stadt zurückzukehren.

Anfangs waren es die dortige Hektik, der Trubel und die Anonymität gewesen, die ihn von dem Schmerz, Unverständnis sowie der Ohnmacht abgelenkt hatten. Später halfen Alkohol und Joints, um zu ertragen, dass er einsam in der Wohnung hockte. Er betäubte sich, damit er das Bild, wie seine Schwester Lena regungslos und blutend am Asphalt lag, in ihm eine Zeitlang verblasste. »Das hat mich cholerisch gemacht, zu einem lausigen Lehrer, stur « Günther erschauerte.

In Gedanken spürte er nach wie vor, wie die Wärme aus Lenas Körper entwichen war und eine leblose Hülle zurückgelassen hatte. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich kapiert habe, dass weder Hochprozentiges noch Drogen helfen konnten, sich im Gegenzug meine Nöte verstärkten! … Die Schule, die Schüler haben mir den Sinn zurückgegeben! … So versuche ich, ihnen zu lehren, dass nicht die Pflichten im Leben zählen, sondern jeder Tag wertvoll ist.

»Heuchler«, brummte er. Stetig gab es Momente, in denen es sich anfühlte, er würde knapp über dem Abgrund schweben. Plötzlich sehnte er sich, der als Einzelgänger und einsamer Wolf galt, nach Wärme, Liebe, einem Zuhause. Günther räusperte sich, gab sich einen Ruck. Schwungvoll riss er die Tür auf, da fiel sein Blick auf eine blonde junge Frau. Sissi? Sissi! Oh, sie ist hier, wie schön!

»Darf ich mich zu dir setzen?«, wurde ich von einer männlichen Stimme angesprochen.

Ich schaute auf. »Günther! Ja, natürlich. Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.« Ich legte mein Handy auf der Tischplatte ab, schob die Sorge bezüglich Arno zur Seite. »Bist du bei deinem Vater zu Besuch?«

»Nicht ganz. Ich werde künftig wieder in Frohnleiten leben.« Günther setzte ein strahlendes Lächeln auf. Es zeigten sich süße Grübchen. Er trug einen perfekt getrimmten Bart, der den Mund umrahmte, während die Wangen und die Halspartie glattrasiert waren.

»Ab Herbst werde ich der Direktor der Neuen Mittelschule im Ort sein«, sprach er sichtlich stolz. »Aktuell bin ich zu Kurt ins Haus gezogen. Ich habe vor, es umzubauen und zu adaptieren, damit wir uns in Zukunft nicht in die Haare bekommen. Und im Bedarfsfall könnte ich ihn unterstützen.«

Kurt? Nennt er seinen Vater immer beim Vornamen? »Das klingt fantastisch, Sophie hat gar nichts darüber erzählt!« Ich tat mir schwer damit, Günther als neuen Direktor vorzustellen. Ich fand ihn, für so einen Posten, schlichtweg zu modern: Stonewashed-Jeans, Lederjacke, ein lässiger Kurzhaarschnitt …

Die Direktoren, die ich von meiner Schullaufbahn her kannte, waren stets ein bisschen verstaubt. Vom Hörensagen wusste ich, dass Günthers lockere Art gut bei den Schülern ankam. Und ich kannte ihn hinreichend, um zu wissen, dass dem genauso war.

 

»Das Jobangebot kam kurzfristig. Ich hielt bis zu meiner Entscheidung alles top-secret. Kannst mir glauben, wie überrascht Hubsi war, als ich ihm vorige Woche von meinen Plänen erzählt habe. Mittlerweile ist die Grazer Wohnung gekündigt, bis zum Schulende werde ich von Frohnleiten aus zur Arbeit pendeln. Es stimmt mich zwar etwas wehmütig, dass ich meine Schüler im nächsten Jahr nicht mehr sehe, dafür gibt es eine neue Herausforderung und ich freue mich auf die neuen Gesichter.«

»Wie lange warst du in Graz als Lehrer tätig?«

»Vierzehn Jahre«, entgegnete er prompt. »In den kommenden Sommermonaten habe ich ein bisschen Bauprogramm zu absolvieren«, erläuterte Günther weiter, strich sich über den Bart. »Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich möchte zu meinen Wurzeln zurück. Das klingt vielleicht sonderbar.«

»Nein, keineswegs. Wurzeln sind etwas Schönes und bedeuten nichts anderes, als eine Heimat zu haben.«

»Wie recht du hast. Und? Was ist mit dir? Noch Krankenschwester auf der Psychiatrie?«

Ich nickte.

»Ein Wunder, wie du das aushältst.«

»Tja, der Spagat zwischen Empathie und professioneller Distanz ist nicht immer einfach zu halten. Es gibt Patienten, die einem näher stehen als andere. Vor allem kommen einige oft über Jahre hinweg in regelmäßigen Abständen wieder. Heutzutage haben viele seelische Probleme. Diese muss man ebenso behandeln, damit sie heilen können. Ich finde das nicht schlimm, denn ich glaube, dass jeder in eine Lebensphase kommen kann, in der ihm eine solche Hilfe guttun würde.«

»Wenigstens geht es nicht mehr darum, Medikamente wahllos einzuwerfen.«

»Stimmt, die Möglichkeiten sind vielfältiger, wie bei Gesprächs- oder Körpertherapien. Im Areal des Grazer Landeskrankenhauses befindet sich ein angrenzender Garten, der häufig benutzt wird. Ein paar Wochen die vertraute Umgebung hinter sich zu lassen, kann wahre Wunder bewirken. Oft ist man erst dann bereit, das Pflichtgefühl hintanzustellen, besinnt sich auf sich selbst. Wir alle haben nur dieses eine Leben. Zu schade, um es mit Stress, Trübsal und schlechten Gedanken zu vergeuden. Sorry, ich bin definitiv vorbelastet und quatsche zu viel darüber.«

»Deine Anschauungen gefallen mir. Obwohl mittlerweile offener mit dem Thema umgegangen wird, wirst du kaum jemanden finden, der gerne seine psychischen Probleme anspricht.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

Meint Günther sich selbst? Eine Gänsehaut schauerte über meinen Körper hinweg, die ich stets bekam, wenn irgendwer merklich mit Emotionen kämpfte. Denkt er an seine verstorbene Schwester? Jährt sich der Unfall heuer zum fünfzehnten Mal? Hadert er noch immer mit Lenas Tod?

Damals war die Bestürzung im gesamten Ort groß gewesen. Es wurde gemunkelt, dass ihn die Erinnerungen aus Frohnleiten fortgetrieben hätten. Auch wenn Günther zugänglich wirkte, ließ er kaum neue Menschen in sein Leben und hielt diese auf Distanz. Eine fixe Beziehung gab es bei ihm nicht, zumindest hätte ich nichts dergleichen gehört.

»Leider werden vielfach Kinder zu angepassten Erwachsenen dressiert«, warf ich ein. »Sie dürfen nicht zu laut sein, lachen, schreien, toben, weinen Dabei sind das die Facetten, mit denen wir uns ausdrücken können. Wenn wir die Gefühlsregungen ständig unterdrücken, sammeln sie sich in uns an, explodieren irgendwann wie ein Vulkan. Da wäre es besser, wir würden darauf vertrauen, dass unsere Stimmungslagen ihren Sinn und ihre Berechtigung haben.«

»Dressierte Erwachsene«, wiederholte Günther, legte den Kopf ein wenig schief. »Als Lehrer kenne ich ebenso die andere Seite. Da sind sie keineswegs angepasst, sondern verdammt unangepasst.«

»Und warum ist das so? Weil es ins andere Extrem umschlägt. Es ist der Schrei nach Aufmerksamkeit, da wir die feinen Empfindungen oftmals überhören und übersehen. Nicht umsonst gibt es den Spruch: Kinder brauchen Liebe, besonders dann, wenn sie es nicht verdienen.«

»Henry David Thoreau.«

»Lehrer, Philosoph und ein Querulant aus dem 19. Jahrhundert.«

»Ja, und du bist nicht nur überaus hübsch, sondern auch sehr belesen.«

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. »Danke. Belesen bin ich bloß in jenen Dingen, die mich interessieren. Wusstest du, dass Thoreau den Beruf als Lehrer quittierte, da er sich aufgrund der körperlichen Züchtigung, die damals den Kindern zuteilwurden, mit der Schulleitung überworfen hat?«

»Nein, da passe ich. Er dürfte jedoch ein interessanter Zeitgenosse gewesen sein.«

»Durchaus. Er gründete mit seinem Bruder eine Privatschule. Als dieser an Tetanus starb, wurde die Lehreinrichtung geschlossen. Thoreau war ein bescheidener Mann. So mahnte er, was irgendwie witzig klingt im Vergleich zur heutigen Zeit, dass der Luxus und die Verlockungen den Menschen sowie dessen Umwelt zugrunde richten würden. Leider starb er mit vierundvierzig Jahren viel zu jung, wie ich finde.«

»Ja, das Leben ist nicht fair, sondern reißt Menschen mitunter zu früh raus.« Günther klang ernst.

»Da ist ja mein Lieblingsschwager!« Sophie kam aus der hinteren Räumlichkeit hervor, stürzte sich mit einer Umarmung auf Günther, unterbrach damit unser Gespräch.

»Das ist kein Kunststück, du hast nur einen. Wie ich gehört habe, muss Hubsi das Bett hüten.«

»Wenigstens bleib ich so von seinem Gejammere verschont.« Sophie rollte mit den Augen. »Gut, dass du da bist. Ich mag es nicht, wenn Sissi allein am Tisch hockt. Grad heute hab ich alle Hände voll zu tun.«

»Ich bin aber ein großes Mädchen, da musst du dich nicht um mich kümmern.« Ich schnitt eine Grimasse, während Sophie mir frech zuzwinkerte.

»Was ist mit dir?«, wandte sich meine Freundin an Günther. »Magst auch ein Bier? Hast du Hunger? Ich könnte rasch einen Burger machen.«

»Bier, ja bitte. Essen, nein danke.«

Kaum hatte er ausgesprochen, da stob sie wie ein Wirbelwind davon.

»Sie hat Pfeffer im Hintern. Ich frag mich ernsthaft, ob es Momente gibt, in denen Sophie ruhig ist«, wisperte Günther mir zu, als sie sich außer Hörweite befand.

»Ich hab ja den Verdacht, dass dein Bruder sich absichtlich mal in die eine oder andere Krankheit flüchtet, damit er nicht ständig von ihr umhergescheucht wird«, feixte ich. Wir beide prusteten los.

»Er hat es sich allerdings selbst ausgesucht«, bemerkte Günther sachlich.

»Außerdem kann man ihr nicht böse sein. Sophie trägt ihr Herz am rechten Fleck. Das ist alles, was zählt, sonst wäre sie nicht meine allerbeste Freundin.«

»Was hör ich da von allerbester Freundin?« Sie brachte gutgelaunt eine Flasche Bier.

»Ach, und du denkst, ich hätte dich damit gemeint«, erwiderte ich im Unschuldston. »Pass besser auf, dass dir dein Fleisch nicht anbrennt.«

»Keine Sorge, Fleisch und Männer habe ich stets im Griff!«

Lachend wandte sie sich ab, Günther und ich prosteten uns zu.

»Warum hat es dich in die Bar verschlagen? So allein?« Offenkundig suchte er nach einem unverfänglicheren Thema.

Automatisch wickelte ich eine blonde Haarsträhne um den Zeigefinger. Den wahren Grund wollte ich ihm nicht nennen. »Es ist ja nur ein Katzensprung von meiner Wohnung entfernt, ich war noch nicht müde, und im Fernsehen lief bloß Schrott.« Zumindest das stimmte.

»Da hab ich richtig Glück gehabt. Du bist ziemlich sportlich aktiv. Manchmal sehe ich auf Facebook ein paar deiner Radtouren und Wanderungen.«

»Hast du Lust, mich mal zu begleiten?«, rutschte es mir heraus. Ich mochte Günther, vor allem seine höfliche Art. Er war etwa neun Jahre älter als ich, und nicht vergleichbar mit manchen anderen Männern, die die Ernsthaftigkeit des Lebens nicht begriffen hatten oder nicht begreifen wollten. Hubert war strenggenommen sein Halbbruder: selbe Mutter, anderer Vater.

»Das klingt hervorragend!«

»Fein, schreib mir, wenn es sich bei dir zwischen dem Baustellenstress ausgeht, und ich stimme es mit meinen Diensten ab.«

»Darf ich zwecks Kontaktaufnahme um deine aktuelle Telefonnummer bitten?«

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