Sissi - Numquam retro ... Niemals zurück?

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Neuer Auftrag

Arno ächzte, als er sich die Luftaufnahmen anschaute, die ihnen vom Vorgesetzten zugespielt wurden. Seine Kameraden und er befanden sich bei einer Besprechung in Wiener Neustadt. Sie hatten erst eine anstrengende Übung hinter sich gebracht, und schon war der Ernstfall eingetreten. Es ging um eine Geiselbefreiung: Zwei Männer und eine Frau … keine Soldaten, sondern Zivile, so war der aktuelle Stand. Er prägte sich die Gesichter der Geiseln ein, von denen es Fotos gab.

Drei Menschen, gefangen gehalten … Wieder einmal wird die Allgemeinheit nichts davon erfahren, es in keinem Nachrichtensender gebracht werden. Ebenso wenig falls etwas schiefgeht. Er strich sich über seine buschigen schwarzen Augenbrauen. Die mangelnde Wertschätzung kränkte ihn, auch wenn er wusste, dass es nicht nur zu ihrem Schutz diente, sondern einen Schutz für die eigene Familie vor den Feinden und möglichen Angriffen darstellte. Unter keinen Umständen wollte er, dass seine Lieben oder Freunde zur Zielscheibe würden. Es war eine Extreme, die er stetig weniger ertrug, da es sich anfühlte, als würde er zwei Leben parallel leben.

Wenigstens ist kein Kind dabei! Arno schluckte, kämpfte gegen die emporsteigende Erinnerung an, weil er damals das Mädchen nicht retten konnte. Unschuldig war es zwischen die Fronten geraten.

Hör auf zu zweifeln, dadurch machst du dich angreifbar! Es geht um die Sicherheit in unserem Land – um alle, damit ihnen nicht dasselbe wie diesem unschuldigen Mädchen passiert! Er schüttelte den Kopf, verbannte sein privates Ich in die Tiefen, wurde zu Alpha – zu demjenigen, der die Befindlichkeiten hintanstellte, funktionieren würde, wie er über Jahre ausgebildet worden war und wie man es von ihm erwartete.

»Von dieser Seite müsste es gehen«, warf er ein, da sie als Team das taktische Konzept besprachen. Der geplante Ausgangspunkt befand sich in unwegsamem Gelände, es gab Bäume und Dickicht, in denen sie sich unauffälliger fortbewegen konnten. Dieser Einsatz würde heikel werden, das wusste er schon jetzt. Die Aufzeichnungen der Drohne zeigten eine versteckte Hütte, die Tür ging nach außen auf, zwei kleine Fenster, vergittert, die Geiseln wurden von drei Rebellen bewacht – das konnte sich rasch ändern. Sie selbst würden zu fünft sein, zusammengestellt nach ihren spezialisierten Fähigkeiten sowie dem erwarteten Aufgabengebiet.

Rastlos verließ Arno als Erster die Besprechung. In zwei oder drei Tagen sollte der Zugriff erfolgen, bis dahin würde auch die Koordination zwischen den befreundeten Nationen stehen. Er ging in seine Unterkunft, die er stets bezog, um nicht jedes Mal den weiten Weg von Wiener Neustadt in die Steiermark in Kauf nehmen zu müssen. Er holte sich aus dem Kühlschrank eine Dose Bier, die er zischend öffnete.

»Ich weiß, keine gute Idee«, schimpfte er mit sich. Er trank zeitweise zu viel, ein vager Versuch, den verdammten Erinnerungen zu entfliehen. Seufzend schritt er auf den schlichten Balkon, auf dem gerade so ein kleiner runder Tisch und ein Stuhl Platz fanden. Er zündete sich eine Zigarette an, die er inhalierte. Ebenso keine gute Idee, doch wenn die Sehnsucht in ihm nach Freiheit überhandnahm, musste er eine rauchen. Er schielte zum Aschenbecher, der im Begriff war überzuquellen. Okay, womöglich rauche ich auch zwei oder drei …

Sein Blick glitt weiter zu den Sternen hinauf, ihn umfing eine kühle nächtliche Brise. Bald bin ich auf einem anderen Kontinent. Ungewiss, ob ich jemals mein Kind Laura, oder die Familie wiedersehen werde. Mein Mäuschen … Arno sehnte sich nach dem Mädchen, vermisste ihre Nähe, die dunklen neugierigen Augen, ihre zierlichen Finger in seiner Hand … Er nahm ein paar große Schlucke Bier.

Seit der Scheidung sah er die Kleine selten. Doris, seine Ex-Frau, zählte ihm jedes Mal seine vermeintlichen Unzulänglichkeiten auf, da schottete er sich lieber ab. Sogar dann, wenn sie nichts sagte, reichte ein Blick ihrerseits und er hörte die anklagenden Worte in den Ohren: Du hast uns ständig allein gelassen, um alles musste ich mich selbst kümmern. Und wenn der gnädige Herr einmal da war, bist du nur auf der Couch gelegen, hast dich bedienen lassen! Deine Launen waren unerträglich! In solchen Verhältnissen kann kein Kind groß werden! Wie oft hast du geschrien und damit unsere Kleine zum Weinen gebracht? Sie hatte Angst – vor dir! Und glaub mir, ich lasse es nicht zu, dass sie jemals wieder Angst vor dir haben muss!

Arno dämpfte seine Tschick wütend zwischen den anderen Glimmstängeln aus, sodass Asche auf die Tischplatte quoll. Hör endlich mit dem absurden Selbstbedauern auf! Du hast eh alles verloren, was dir je etwas bedeutet hat, maßregelte er sich stumm. Es gibt kein Zurück, es ist dein Job! Dein Sinn!

Ausgeliefert

Marissa bewegte ihre steifen, verkrampften Glieder. Es war ungewohnt für sie auf einem harten Boden zu schlafen. Die Entführer gaben kurze Anweisungen, die sie bloß anhand der Gestik zuordnen konnte. Sie besaß kein Zeitgefühl mehr. Zudem war ihr übel, vom brackigen Wasser, das sie kaum hinunterbekam und der stinkenden Glocke, in die sie allesamt gehüllt waren.

Über Simons aufgeblähten Körper flogen Fliegen, die bald ihre Eier darin ablegen würden, wenn sie es nicht schon getan hatten. Marissa wollte nicht weiter darüber nachdenken, wünschte sich, sie könnte sich an einen anderen Ort beamen. Doch die schabenden Geräusche holten sie stets unbarmherzig in die Realität zurück.

Es waren die Ratten, die am Holz nagten, um einen besseren Zugang in die Hütte zu bekommen. Albert ging es indes schlecht. Sein Körper zuckte manchmal ganz komisch, und diese Phasen schienen sich zu verstärken. Hysterisch lachte sie auf, strich sich durch das verfilzte Haar.

Bestimmt sind die Injektionen schuld! Von was haben die Kerle gefaselt? Ketamin? Ist das nicht ein Narkosemittel? Etliche Male hatten sie in Alberts Fleisch gestochen, um ihn damit weiter ruhigzustellen und gefügigzumachen. Die Einstiche wirkten wie rote, kleine Mahnmale auf seiner Haut. Bislang war sie vor solchen Injektionen verschont geblieben.

»Gebt mir auch eine!«, wimmerte Marissa, beneidete in ihren schwachen Stunden den Urlaubsfreund, der kaum zwischen den wachen und den abgedrifteten Phasen unterscheiden konnte. Nein – sie kommen nicht, schenken mir kein Vergessen, sondern schauen mich an, als wäre ich ein unzulängliches Vieh.

»Wieso? Wieso? Wieso – ich?« Marissa lag da, wie eingefroren, steif, versuchte den Gestank sowie das Ungeziefer zu ignorieren, schloss die Augen, in der Hoffnung, sie nie wieder aufmachen zu müssen.

Das hölzerne Türblatt kratzte über den Boden. Marissa erschrak, kniff reflexartig die Lider vor dem grellen Licht zusammen, das direkt auf sie fiel. Schon wie der Kerl hereinkam, mit festem Schritt und einer Spritze in der Hand, ließ sie instinktiv in die Ecke zurückweichen. Albert brachte irgendein Kauderwelsch hervor, das seinen Peiniger auflachen ließ. Dann funkelten dessen Augen kalt. »Weißt du, dass Frauen aus dem Westen untreu werden, wenn ihre Männer verschwinden, bumsen einen anderen – so wie sie – schau sie dir an!«

Albert wirkte verwirrt, war zu keiner Gegenwehr imstande, als der Geiselnehmer die Nadel in dessen Fleisch versenkte. Der fremdländische Kerl visierte Marissa an. Mit einem Ruck zog er sie hoch, zerriss die Bluse. Ihr Mund war zum Schrei geöffnet, aus der trockenen Kehle entwich nur ein heiserer Krächzer, der kaum die Umgebung störte. Seine harten Hände kneteten ihr zartes Fleisch. Er presste sie gegen die Wand. Inzwischen, nach tagelangem Essensentzug, der abnormen Hitze am Tag, der Kühle in der Nacht und dem Wasser, das kaum reichte, war sie wie eine willenlose Puppe.

Schmerz und Ekel überfluteten Marissa, als er sein Glied brutal in ihre Scheide rammte. So nah, roch sie einen Mix aus Schweiß, Dreck sowie Kamelen. Ihr war speiübel, matt ließ sie die Gliedmaßen hängen, während er ihr seine Lust weiter aufzwang. Als er endlich von ihr abließ, sackte sie zu Boden. Er warf ein paar Brotkrumen neben ihren Körper. »Dein Verdienst!«

Ungelenk zog Marissa die Hose nach oben, spürte die Nässe zwischen den Beinen, die sie zutiefst anwiderte. Ihr Magen knurrte, reagierte instinktiv auf die Krumen. Der Peiniger hatte bereits die Tür verschlossen, als sie danach suchte und bevor sich die Ratten über das minimalistische Essen hermachen konnten. Sie steckte die mickrigen Stückchen in den Mund, verbarg ein paar in ihrer Hosentasche, die sie später Albert geben wollte, sobald der zu sich gekommen wäre. Erst jetzt schlang sie die losen Enden der zerrissenen Bluse zusammen, kroch zurück in ihren Winkel. Sie fühlte sich leer und hatte nicht einmal mehr Tränen.

Marissa schreckte auf. Albert brabbelte unzusammenhängende Wörter. Nein, nicht du … Gibt keinen Gott, der dich sterben lässt. Ich bin schuld, mein Sohn … Währenddem zuckte sein gesamter Körper wild, die Fesseln rieben an den Armen und Beinen. Speichel rann aus dem Mund.

Rasch kroch sie an seine Seite. So heftig! Kann das ein epileptischer Anfall sein? Eine Nebenwirkung des Ketamins, oder ist er wirklich krank?

Alberts Kopf schlug hart am Boden auf. Marissa versuchte, die Seile zu lösen, schaffte es nicht. Ein weiterer Anfall rauschte über ihn hinweg. Sie umschloss ihn fest mit ihren Armen, damit er sich nicht selbst verletzte. Da traf seine Stirn sie mitten im Gesicht. Mist-Idee! Sie wich ab. Tränen traten in ihre Augen, sie registrierte gleich eine dumpfe Schwellung am Backenknochen.

»Albert, hörst du mich? Albert?« Er stöhnte, ohne auf sie zu reagieren. Was kann ich tun? Unschlüssig schaute sie sich um. Es gab nichts, keine Decke oder Kissen, auf die sie ihn hätte weicher betten können. Wie lange krampft er schon? Eine Minute oder zwei? Marissa wusste es nicht mit Sicherheit. Ab wann wird es richtig gefährlich für ihn? Auch diese Frage konnte sie nicht beantworten.

 

Langsam wurde Albert ruhiger. Vorsichtig rückte sie an seine Seite, bemerkte die rot aufgescheuerten Gelenke. Er lag am Rücken, röchelte. Sein Körper war schweißnass. Marissa brachte ihn in die stabile Seitenlage, die sie vom Erste-Hilfe-Kurs kannte, und war froh darüber, als sein Atem sich normalisierte. Matt lehnte sie sich an den hölzernen Bretterverschlag, der die Wand darstellte. Mit zittrigen Händen betastete sie die schmerzhafte Beule in ihrem Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen, und hasste sich für die jammernden Laute, die unkontrolliert ihrer Kehle entwichen.

Marissa konnte die vermummten Männer, die hereinkamen, nicht auseinanderhalten. »Ma, Ma!«, bat sie verzweifelt. Es war das arabische Wort für Wasser, das sie in den letzten Tagen aufgeschnappt hatte. Kurz erhaschte sie den Blick von dunklen Augen, rasch senkte sie das Kinn. Sie starrte auf den Boden, auch als sie weitere Schritte vernahm, schaute sie nicht auf. Erst ein Guss kaltes Wasser ließ sie zusammenfahren. Derart durchnässt spürte sie einen Moment weder die klebrige Haut noch den Juckreiz, sondern wirkte wie eine kleine Wohltat, die etwas von ihrer Schmach abwusch. Später würde sie hingegen in der nassen Kleidung elendig frieren, sobald die nächtliche Kühle die Hitze verdrängt hatte.

Über Albert wurde ebenso ein Kübel Wasser gegossen, der dadurch zu sich kam. Ein Kerl drückte ihn gewaltsam in die Sitzposition. Vor ihnen wurde ein Laptop hochgefahren, um mit dem ein Video mit absurden Szenen abzuspielen. Marissa sah darin andere Menschen, Geiseln sowie Soldaten, Blut, Enthauptungen, wie Männer ausgelassen ihre Waffen in die Höhe streckten …

Die Peiniger jauchzten freudig. Als sie wegschauen wollte, spreizte ein Kerl ihre Lider gewaltsam auseinander, hielt den Kopf wie in einem Schraubstock umklammert, sodass es für sie keine Möglichkeit gab, sich von den grausigen Szenen abzuwenden. Ihr Mund wurde ganz trocken, als ein vermummter Kerl eine Motorsäge bei einem Wehrlosen ansetzte. Der kniende, geknebelte Mann wusste längst, dass es seine letzten Sekunden sein mussten.

Nie hatte sie solche entsetzten Augen gesehen, wie hypnotisiert und leer. Genauso fühlte sie sich selbst. Die Säge zerriss mühelos die Haut am Hals, Blut spritzte schwallartig heraus, der Schädel rollte weg und hinterließ einen zuckenden Körper. Marissa übergab sich auf den Boden. Ihr Peiniger drückte sie mit dem Gesicht voran in das Erbrochene.

»Hast du gesehen, was die ISIS mit den Leuten macht? Soll ich das auch mit dir machen?«

Erbrochenes tropfte von ihrem Haar. Der Fremde deutete zu Albert. »Oder mit ihm?«

Panisch schaute Marissa sich um, die Stelle, wo sich der Leichnam befunden hatte, war leer. Wo ist Simon? Wann haben sie ihn aus der Hütte hinausgeschafft? Erst jetzt, als ich den schrecklichen Szenen folgen musste? Oder früher? Ich … ich hab’s nicht bemerkt. Bin ich ebenfalls ruhiggestellt worden? Mit irgendeinem Mittel im Wasser? »Bitte nicht«, wisperte sie.

Die Kidnapper lachten höhnisch. Von draußen erklang ebenso ein heiseres Gelächter herein. »Wir bauen ein Kalifat auf, keiner wird uns daran hindern!«, rief ein Kerl, während der andere überschwänglich jubelnd eine Hand nach oben in die Luft stieß.

Wie viele Komplizen gibt es noch? Marissa saß stumm und starr da. Sie wusste nur vage, wovon er sprach, hatte sich nie sonderlich für die Kriegsgeschichten oder politischen Angelegenheiten jenseits der Grenzen von Österreich interessiert.

»Dann sind wir vom Westen unabhängig, erzeugen eigene Waffen, können unsere Leute ernähren. Keinem, der uns angehört, wird es schlechtgehen. Wir sind eine riesige Familie.«

Der zweite Kerl nickte, dessen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als wollte er abschätzen, was Marissa von diesem Vorhaben hielt. Sie war zu durcheinander, um etwas entgegnen zu können. Albert nuschelte indes: »Ein guter Plan, ein guter Plan.« Am Laptop liefen weitere Szenen von den Kriegern. Die Entführer juchzten! Gehören sie zur ISIS? Die Bilder vor ihr verschwammen, erst das Zuklappen des Laptops ließ Marissa zusammenzucken.

»Genug gesehen!«, kam es barsch.

»Hunger«, bat sie mit dünner Stimme.

Ihr Peiniger grinste. »Das musst du dir später verdienen, dann, wenn ich es möchte.« Er beachtete Marissa nicht weiter, sondern wandte sich mit dem Komplizen ihrem Urlaubsfreund zu. Albert wurde in die Fötusstellung gebracht, richtiggehend verschnürt, ehe die Kerle neuerlich eine Injektion in dessen Fleisch versenkten.

Alberts Stöhnen bohrte sich wie ein schmerzhafter Stich durch Marissas Körper. Geht es ihnen tatsächlich um einen eigenen Staat? Ist dieses Agieren nicht eher eine Art Selbstzweck, etwas, dass sie mächtig macht? Empfinden sie Spaß dabei, wenn sie uns quälen? Ist es ihr Weg, um glücklich zu sein?

Die Tür wurde zugezogen, tauchte alles in Dunkelheit. Quälend überrannte sie die verfluchte Frustration. Ich halte es nicht mehr aus! Bitte, lass mich sterben! Es gab nichts in diesem Raum, was ihr hierbei behilflich sein konnte. Sie bebte, als sie daran dachte, dass der verdammte Kerl nachher wiederkommen würde, um sich an ihrem Körper zu bedienen und seine Lust zu befriedigen. Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch die Holzläden direkt auf ihr Handgelenk.

Marissa biss zu, vergrub die Zähne im eigenen Fleisch, schabte damit über die Haut, schmeckte das eisenhaltige Blut, saugte daran. Bitte, lass mich sterben …

Es geht los – Mitte Mai

Die Transportmaschine war startklar für den Einsatz. Bald würden Arno und seine Kameraden darin Platz nehmen. Er erhielt das Zeichen für den Aufbruch, deaktivierte sein Smartphone, schüttelte die privaten Gedanken ab und wurde zu Alpha.

Sein Rucksack war mit den nötigsten Dingen gepackt. Bei solchen Kurzeinsätzen benötigte man nicht viel: etwas Nahrung, Waffen und vor allem Munition. Omikron, der im realen Leben Peter hieß, führte Erste-Hilfe-Materialien mit. In Alphas Tasche befand sich eine Universaltrage zum Abtransport eines Verletzten, die sich mit wenigen Griffen zusammenstecken ließ. Im Geheimlager, in der Nähe des Einsatzortes, wartete die Verstärkung. Des Weiteren könnten sie dort Unterschlupf finden, falls Unerwartetes passieren sollte.

Die Soldaten standen in einer Reihe, eingehakt in einem Seil. Bald würden sie achttausend Meter über der Erde abgelassen werden. Sie befanden sich knapp vierzig Kilometer vom geplanten Landepunkt entfernt. Das entsprach der Strategie, damit die Maschine nicht gefährdet wurde und ihr Ankommen unbemerkt bliebe. Alpha hoffte, dass die Windbedingungen nicht zu sehr wechselten, um ohne große Abweichung das Ziel zu erreichen. Fünf Männer – fünf Freunde. Bei der geöffneten Luke blies heftig der Wind in den Innenraum. Noch waren sie gesichert.

»Glück ab!«, wünschte Alpha seinem Vordermann, drückte damit aus, dass dessen Flug verletzungsfrei verlaufen sollte. Sissi … Wollte mich melden, hab es nicht getan. – Nicht ablenken lassen, sonst wirst du anfällig für Fehlentscheidungen! Er wurde ausgehakt, sprang, verließ bei ein paar hundert Kilometer pro Stunde den Fluguntersatz. Ein Adrenalinschub durchflutete ihn. Der starke kühle Wind wirkte wie ein Luftkissen, das den Fall etwas bremste. Hopptausend, Zwotausend, Dreitausend … Nach wenigen Sekunden hatte er sich im Freifall stabilisiert.

Alpha öffnete den Schirm. Obwohl ein Slider – ein rechteckiges Stückchen Stoff mit Metallösen an jeder Ecke – die Fangleinenbündel zusammenhielt, damit sich die Kappe nicht schlagartig entfaltete, spürte er die Bremswirkung. Es ruckelte ihn nach hinten, er wurde hochgezogen. Nun musste er sich auf sein Gespür verlassen. Bei einer guten Strömung schafften seine Kameraden und er auf diese Weise bis an die fünfzehn Kilometer, oft sogar mehr.

Sie schwebten wie blind durch die nächtliche Dunkelheit. Am Handgelenk trugen sie überdimensional wirkende Armbanduhren, die mit einem Display sowie integriertem Kompass und GPS ausgestattet waren. Darauf befanden sich die wichtigsten Wegpunkte abgespeichert. Die Gleitphase glich der berühmten Ruhe vor dem Sturm. Schemenhaft konnte er die Umgebung erkennen. Dort unten lauerten Gefahren, dazu zählten die wilden Tiere, die unbekannte Vegetation oder Landschaft, aber vor allem die Aufständischen. Mit Glück würden diese ihr Eindringen nicht bemerken.

Es raschelte und knackste, als Alpha mitten in den Kronen eines Baumes landete. Irgendwo protestierte ein Vogel wegen der nächtlichen Störung. Rasch zückte er sein Messer, ritzte ein gespanntes Seil an, das ihn hielt und wie ein überstrapazierter Gummi zerriss. Jäh ging es ein Stück nach unten. Ein euphorisches Hochgefühl setzte sich dabei in ihm frei, Alpha unterdrückte ein Jauchzen. Er zerschnitt nacheinander die weiteren Seile, bis er gefahrlos den Boden erreichte. Arno schaute sich um, die Kameraden waren unweit von ihm gelandet. Beinahe lautlos formierten sie sich und schlichen weiter durch die Nacht.

Das Team hatte den Tag verdeckt verbracht. Alpha blinzelte, bemerkte Kappa, der dabei war, Omikron vom Aussichtsposten abzulösen. Nun würde Kappa die Gegend aufmerksam beobachten, während die anderen Kameraden und er, geschützt durch dichtes Geäst der Bäume, rasten konnten.

Den Fallschirmsprung hatten sie heil überstanden, bloß Kappa humpelte leicht. Das war Alpha aufgefallen, obwohl sein Freund kein Wort darüber verlor. Wahrscheinlich hatte er sich bei der Landung den Fuß verdreht. Doch wenn man aufrecht weggehen konnte, war es eine gute Landung. Schmerzen wurden heruntergeschluckt und ausgeblendet, sofern man nicht den Spott der anderen riskieren wollte.

Alpha schloss fest die Augen. An Schlaf war nicht zu denken. Er horchte auf jedes Geräusch, Knacksen, das Flattern der Vögel … Der Wind strich sanft durch die Bäume und Sträucher. Alles in ihm war angespannt. So nah am Zielort mussten sie damit rechnen, dass sie jederzeit entdeckt werden konnten. Die Wartezeit, die einer Stagnation glich, war für ihn mitunter das Härteste. Seine Gedanken schweiften ab, holten Zweifel in ihm empor.

Es ist kein läppischer Spielfilm, in dem es meist ein Happy End gibt. Wir haben so oft Glück gehabt. Ich bin mit meinen Mitte Dreißig kein naiver Jungspund mehr. Nur wenige hielten so einen Job bis zu diesem Alter durch, agierten noch an vorderster Front. Viele schieden vorzeitig in der Verpflichtungszeit aus, sowohl freiwillig als auch unfreiwillig, oder wechselten zu einem ungefährlicheren Posten. Rückblickend wirkte für Alpha jedes Jahr, als hätte man ihm ein ganzes Jahrzehnt geraubt.

»Alles gut bei dir?«, fragte Omikron leise, der sich neben ihm niederließ.

Alpha visierte seinen Freund an. »Wieso?«

»Du schneidest Grimassen und stöhnst dabei, als hättest du Schmerzen.«

»Bin von der Warterei ganz verspannt.«

»Bald geht es eh los.«

»Bei dir klingt das, als wäre es ein simpler Wanderausflug.«

»Ach, ist es gar kein simpler Wanderausflug?«

»Idiot«, zischte Alpha, ohne es böse zu meinen. Beide lachten gedämpft.

Der Abend dämmerte, die Soldaten nahmen ihre Rucksäcke und brachen auf. Sie marschierten durch unwegsames Gelände, mussten an die fünf Kilometer Fußmarsch hinter sich bringen. Die Waffen hielten sie griffbereit, ein Teil der Munition lag in einem Gurt quer über den Körper. Die Route war durchgesprochen, ebenso die Positionen, trainiert in etlichen Stunden, bis die Abläufe wie automatisiert wirkten. Dennoch ähnelte kein Einsatz dem anderen. Sie mussten sich ihre Flexibilität erhalten, durften nicht blindlings agieren.

Inkognito! Wir alle! Maulwürfe, gut getarnt, im Untergrund. Alpha stoppte. Er rückte sein Nachtsichtgerät zurecht, sah die Kameraden im grünlichen Schimmer. Ihre Bewegungen wurden achtsamer. Adrenalin strömte durch Alphas Adern, fast so wie früher in der Ausbildungszeit. Auch da hatte es ihn feurig heiß durchflutet, als er damals in dem eigenen dafür abgesperrten Areal die Munitionssalven hinausließ. Mit Farbmarkierungsmunition stellten sie bei Übungen ziemlich realistisch Gefechte nach, das Kunstblut durchtränkte die Kleidung, hinterließ blutige Pfützen am Boden.

Souverän, ohne mit der Wimper zu zucken, hab ich die Pappkartons weggeschossen. Verbiss die Schmerzen, wenn ich getroffen wurde, trug stolz jeden einzelnen blauen Fleck, die die Geschosse auf der Haut hinterlassen hatten. Sein erster richtiger Einsatz wirkte anfangs wie die Übungseinheiten. Als das Gesicht eines Rebellen auftauchte, zielte er ebenso genau, spürte den Rückstoß, Sand wirbelte auf … Erst, als sich dieser gelegt hatte, realisierte er langsam, dass das keine Pappfigur, sondern ein Mensch gewesen war. Seine Kameraden und er hatten die Feinde eliminiert. Sie klopften ihm auf die Schulter, beglückwünschten ihn, gaben ihm das Gefühl, Herausragendes geleistet zu haben. Damit verscheuchten sie in ihm den Gedanken, dass dieser Kerl, der tot im Sand lag, ebenfalls eine Familie haben musste.

 

»Scheiß Elite!«, fluchte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Auch dieses Mal ging es nicht um Pappkartons, sondern um Menschen aus Fleisch und Blut. Bald erreichen wir den Zielort. Zuvor müssen wir noch ein paar Vorbereitungen treffen, um später für die eine oder andere Überraschung zu sorgen!

Befreiung mit Hindernissen

Marissa hatte Fieber. Abwechselnd heiß und kalt jagten die unterschiedlichen Schauer über ihren Körper. Die Wunde am Handgelenk war rot, ganz entzündet, sah richtig böse aus, als stünde sie kurz vor einer Blutvergiftung. Ihr war es einerlei. Lass mich sterben, wimmerte sie. Eine fette Ratte tippelte auf sie zu. In einem hysterischen Anfall kreischte Marissa los, trat mit den Füßen nach dem Vieh, schlug mit den Händen umher, bis das Getier forthuschte.

»Gib nicht auf«, beschwor Albert sie, der eine seiner kurzen wachen Phasen hatte.

Marissa heulte.

»Man wird uns rausholen.«

»Das glaubst du wohl selbst nicht!«, fuhr sie ihn an. »Wer sollte Interesse daran haben, uns rauszuholen? Wir sind nichts, Mittel zum Zweck für die perversen Vorlieben!« In ihrer Erinnerung sah sie den davonrollenden Schädel. Übelkeit wallte hoch. Wenn sie mehr Nahrung bekommen hätten, hätte sie sich bestimmt erneut übergeben. So fühlte sie den scharfen Geschmack der Galle in ihrer Kehle, die sie grade noch herunterschlucken konnte. Matt kauerte sie sich auf dem Boden zusammen.

Alpha schlich sich lautlos an. Er ließ den Rebellen, der an einem Baum lehnte, nicht aus den Augen. Mit dem Nachtsichtgerät konnte er dessen Umrisse ausmachen. Seine Waffe war schussbereit, sollte erst zum Einsatz kommen, falls der Gegner ihn bemerken würde. Achtsam machte er einen Schritt vor den anderen, hoffte, nicht auf einen verräterischen Ast zu treten.

Nur mehr wenige Meter. – Jetzt! Alpha stürmte vorwärts. Mit einer gezielten Bewegung schnellte sein Arm nach vor, umfasste den Kopf von hinten, brach dem Kerl knacksend das Genick. Der Körper sackte zuckend auf den Untergrund.

Alpha wandte sich rasch ab, imitierte eine Vogelstimme. Es war das Zeichen für den Zugriff. Einer der Kameraden öffnete die Tür, während die anderen in die Hütte stürmten. Schüsse fielen. Schon kamen zwei seiner Leute heraus, rannten ihm mit einer Frau und einem Mann entgegen. Die beiden Geiseln wirkten mitgenommen, wurden eher mitgeschleift, als dass sie selber laufen konnten. Über ihnen erklang das Dröhnen eines Helikopters. Das Timing passte, der Suchscheinwerfer hatte sie bereits gefunden.

»Die dritte Geisel ist tot. Sie wissen nicht, wo sie hingeschafft wurde, wahrscheinlich irgendwo verscharrt«, rief Sigma. »Kappa wurde getroffen!«

»Mist!«, fluchte Alpha. »Bringt die beiden in Sicherheit.« Er eilte in die Hütte. Omikron kam ihm humpelnd mit einer blutenden Wunde am Oberschenkel entgegen. Sein Kamerad hatte den bewusstlosen Kappa über die Schulter geworfen.

Alpha nahm ihm den Verletzten ab. »Rückzug!«, stieß er aus. Sein Blick glitt kurz über die leblosen Körper der Aufständischen. Die können keinen Schaden mehr anrichten. Die Männer liefen Richtung Helikopter, etwas oberhalb flog eine zweite Maschine und sicherte den Luftraum. Die Geiseln sowie die beiden Kollegen, Rho und Sigma, wurden indes aufgenommen. Ein zischender Schmerz ließ Alpha in die Knie gehen. Er strauchelte, dennoch schaffte er es, Kappa nicht loszulassen.

Mist, es gibt einen vierten Mann, den wir bei den Recherchen übersehen haben! Sein eigenes warmes Blut floss über den Rücken hinunter. Omikron feuerte in jene Richtung, aus der offenbar der Schuss gekommen und im Dröhnen des Motors untergegangen war. Erde spritzte unweit vor ihnen empor, eine riesige Rauchwolke verteilte sich im Licht der Scheinwerfer. Die Feinde hatten außerhalb einen Granatwerfer abgeschossen. Es wurde auf den Hubschrauber gefeuert.

Alpha verschanzte sich mit dem bewusstlosen Kameraden und Omikron hinter den Büschen. Der Helikopter entfernte sich aus der Gefahrenzone, denn das Überleben der Geiseln hatte Priorität. Er gewann rasch an Höhe, das Rattern der Rotoren wurde leiser.

»Wir müssen ins Lager!«, presste Arno hervor.

»Mit unseren Verletzungen? Die gehören zuvor versorgt! Gib mir Deckung«, stellte Omikron unmissverständlich fest. Schon öffnete er den Rucksack, um zum Verbandsmaterial zu kommen. Eine Tretmine detonierte in der Nähe, wirbelte Erde, Steine, Pflanzen- und Wurzelstücke durch die Luft, wohl auch Teile eines Menschen. »Die hat er übersehen!«, meinte Omikron freudig, als damit die unmittelbaren Schüsse verstummten.

»In der Ferne kracht es nach wie vor, das bedeutet einen geringen Zeitvorsprung.« Alphas Hand lag fest auf Kappas Bauchwunde, die Finger färbten sich blutig. Der Kamerad blieb bewusstlos.

»Das geht ratzfatz.«

»Schaut übel aus!«

Omikron fixierte eine hämostyptische Kompresse über dessen offene Wunde. Diese enthielt Zeolithe, sogenannte Aluminiumsilikate vulkanischen Ursprungs, um die Blutung zu stillen. Rasch bauten die beiden eine Trage aus Steckrohren zusammen, auf die sie den verletzten Freund lagerten.

»Was ist mit deiner Wunde?« Omikron kontrollierte Alphas Verletzung.

»Die kannst du vernachlässigen.« Alpha verbiss sich die Schmerzen. Aus der Schussverletzung sickerte wenig Blut. Die Kugel hatte sich tief ins Fleisch gegraben, fungierte dadurch wie ein Pfropfen.

Mit geübten Griffen schlang Omikron indes eine elastische Binde um den eigenen blutenden Oberschenkel, was schnell erledigt war.

»Abmarsch!«, stieß Alpha aus. Gemeinsam hoben sie die Trage auf. Hoffentlich schaffen wir es rechtzeitig ins Camp, bevor die Verfolger unsere Spur aufnehmen!

Marissa und Albert hielten sich an den Händen. Unter ihnen flackerte im Scheinwerferkegel eine Wolke aus Sand, Staub und Gesteinen auf. Die Motoren dröhnten, übertönten alles andere.

Wie im Krieg! Marissa realisierte erst jetzt, dass sie über einer Gruppe von Bäumen und Sträuchern hinwegflogen. Wie kann das sein? Wir waren in der Wüste – überall befand sich Sand! Es zischte metallern, als eine Kugel die Kabine des Hubschraubers durchbohrte und knapp an ihnen vorbeipfiff. Sie schrie erschrocken auf, einer ihrer Befreier drückte sie runter und schirmte ihren Körper mit seinem ab.

Marissa starrte auf den Boden der Maschine, spürte, dass sie rasch an Fahrt aufnahmen, fühlte den Luftzug, der durch das Einschussloch hereindrang. Bestimmt gab es mehr als eines, denn es knallte etliche Male blechern gegen die Außenhaut des Hubschraubers. Zitternd kniff sie die Lider zusammen, wollte nichts sehen. Minutenlang blieb die Anspannung greifbar.

»Was ist mit den anderen?«, fragte Albert verunsichert, als sie sich irgendwann aufsetzen durften.

»Die kommen schon zurecht«, entgegnete der Soldat.

Marissa las seine Antwort eher an den Lippen ab, als dass sie ihn verstanden hätte. Frei, wir sind frei! Oder? Noch fliegen wir … Können die Scheißkerle uns einholen? Sie schluckte, musterte die Soldaten in ihrem dunklen Outfit. Die Gesichter waren schwarz-grün-braun bemalt, wirkten ebenso besorgt.