Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten

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Sandy nippte am Wasser, ehe sie es vor sich in die Halterung stellte. Sie rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Ob ich jemandem sagen kann, dass man mich grade entführt? »Ich muss aufs Klo«, fragte sie unsicher.

Mahnend raunte Kurt ihr zu: »Rede ja mit niemandem, falls dir das Leben deines Bruders etwas bedeutet. Wir sind zwar nicht mehr in Österreich, aber glaub mir, ich habe Kontakte.« Sein spöttisches Grinsen unterstrich das eben Gesagte.

Kann er Gedanken lesen?, dachte Sandra verdattert. »Ich muss aufs Klo«, wiederholte sie trotzig und frustriert.

»Ich werde dich besser begleiten.«

Beide erhoben sich. Kurt postierte sich vor der Toilettentür, während Sandra dahinter verschwand. Mit unverminderter Wucht brachen heiße Tränen hervor. Sie hielt bebend ihre fein­gliedrigen Finger unter den Wasserhahn, kühlte damit die Hände und schließlich das Gesicht. Sandy schaute auf. Fassungslos starrte sie ihr Spiegelbild an, strich ungelenk eine Haarsträhne hinters Ohr. Bisher habe ich gedacht, ich würde Paps ähneln. Die rundliche Nasenspitze, doch diese kühlen grauen Augen sind von Kurt … Ich ähnle einem Mörder, einem Monster!

Sandra wurde schlecht, sie erbrach sich ins Waschbecken. »Mist!« Sie würgte einige Male, aber ihr Magen war leer. Zurück blieben ein ekelhafter saurer Nachgeschmack und ein Brennen hinter dem Brustkorb, dessen Ursache nicht allein an der ätzenden Magensäure lag.

Es klopfte fordernd gegen die Tür. »Bist du endlich fertig, oder willst du da drinnen übernachten?«, zischte Kurt scharf.

Rasch spülte Sandra das Erbrochene weg. Sie ließ sich Wasser durch ihren Mund laufen. Wirklich besser fühlte sie sich dadurch nicht. Mit einem Stück Papier, das normalerweise zum Händeabtrocknen gedacht war, tupfte sie sich die Tropfen aus dem Gesicht.

Erneut pochte ihr Onkel an die WC-Tür. Sie hatte keine andere Wahl, als ihm entgegenzutreten. Er lachte boshaft, als er sie sah. Sandy wusste, dass es an ihrem jämmerlichen Aussehen liegen musste. »Ach, ist dir etwas übel, das tut mir leid«, spottete er.

Sie antwortete nicht. Wie kann es Menschen geben, die sich am Schmerz eines anderen erfreuen? Sie schwankte. Du wirst büßen, für alles! Bei der nächsten Gelegenheit fliehe ich, versprach sie sich. Niemals will ich bei Kurt oder diesem Diego enden! Das halte ich nicht aus! Mit zittrigen Knien ging sie Richtung Sitzplatz zurück, deutlich spürte sie den Onkel im Rücken. Meine Eltern dürfen nicht umsonst gestorben sein …

Der Flug nach Nordamerika dauerte Stunden. Kurt warf Sandra einen prüfenden Seitenblick zu. Eigentlich hatte er ein eingeschüchtertes Mädchen erwartet. Aber die Kleine saß aufrecht neben ihm, knabberte an einem Schinken-Käse-Brötchen. Dir wird dein Hochmut vergehen! Sein Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Spätestens dann, wenn Diego dich zähmt.

Trotzdem fühlte er sich im Inneren sonderbar aufgewühlt. Das verdammte alte Haus mit all den Erinnerungen! Es war mittlerweile eine halbe Ewigkeit her, in der er sich geschworen hatte, jeden Einzelnen der familiären Sippe auszulöschen. Obwohl die nächtlichen Übergriffe des Vaters seit Kurts zwölften Lebensjahr ausgeblieben waren, ertrug er ihn nicht länger.

Ständig meckerte der Alte, betitelte ihn mit den widerwärtigsten Schimpfwörtern, kommandierte ihn wie ein Oberfeldwebel herum, der er tatsächlich früher in Kriegszeiten war. Die Anweisungen des Vaters konnte er ohnehin nie zu dessen Zufriedenheit ausführen. Jeder Tag wuchs der Hass auf ihn ein Stückchen mehr. Im Kopf nahmen die Gedanken konkrete Formen an, wie er sich ihm entledigen könnte.

Die Manipulation am Auto der Eltern war ein Leichtes gewesen. Er hatte das Bremsseil angeritzt, sodass es kontinuierlich an Flüssigkeit verlor. Die Alten waren mit dem Wagen über einen Abhang hinabgestürzt, dürften auf der Stelle tot gewesen sein. Dass sein Erzeuger einen rasanten Fahrstil besaß, wusste jeder im Ort. Die Nachforschungen konnten ein Selbstverschulden nicht ausschließen, so wurde es als tragischer Unfall abgehakt. Damals war Manfred zwölf Jahre alt und er knapp vierzehn gewesen. Sie blieben in der Obhut der Großeltern zurück.

Eigentlich hätte Manfred im Unfallwagen sein sollen! Zu einem der seltenen Besuche in der Stadt, bei denen es Eis oder Kuchen gab. Solche Ausflüge standen ausschließlich dem Lieblingskind zu. Ob er die Manipulation am Auto mitangesehen hat? Offensichtlich, sonst hätte er unmöglich davon wissen können! Warum warnte er damals die Eltern nicht? Hat Manfred mich geschützt? – Was für ein absurder Gedanke! Kurts Mund fühlte sich sonderbar trocken an. Keine Schwäche zeigen!, mahnte er sich stumm.

Der Großvater kam wenige Wochen nach dem Unglück in eine Pflegeeinrichtung. Der Tod des eigenen Sohnes und der Schwiegertochter führten bei ihm zu einem starken, psychotischen Schub. Eine Obsorge zu Hause konnte nicht mehr gewährleistet werden. Und Großmutter musste sich um uns, um zwei pubertierende Teenager, kümmern. Wie traumatisiert wir Brüder waren, das überspielte die alte Dame gekonnt. Doch sie ebenfalls aus dem Weg zu räumen, hätte uns jemand Außenstehenden als Vormund eingehandelt. Ein unkalkulierbares Risiko, das ich nicht bereit war, einzugehen.

Kurt lugte zu Sandy. Das verdammte Elternhaus ist zerstört! Nun ist das zu Ende gebracht, was ich einst begonnen habe. Niemals mehr werde ich einen Fuß hineinsetzen müssen. Dorthin, wo selbst die Wände ihm mit Vaters Stimme zuflüsterten, dass er ein Niemand sei. Es musste weg, wie alles, was mich an die Vergangenheit erinnert! Er unterdrückte ein Ächzen. Kurt hatte erwartet, dass er erleichtert wäre, aber dieses Gefühl wollte sich nicht einstellen. Ob es am Mädchen liegt? Kurt schüttelte widerwillig den Kopf. Ich bin zwar genetisch gesehen dein Erzeuger, deshalb hasse ich dich nicht weniger als den Rest der Sippe! Du, ja du, wirst mich für all die Jahre entschädigen, die mir mein Vater geraubt hat!

Sandra war verdammt zum Stillsein. Sie rührte sich kaum, streckte manchmal die steifen Glieder etwas aus. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Noch wehrte sich die Sonne mit ihrer Kraft. Sandy spähte hinaus. Der blutrote Horizont ließ die Ereignisse der letzten Stunden hochlodern. Die leblosen Augen ihrer Mutter, der seltsam verdrehte Kopf vom Vater, das viele Blut, Rauch, Flammen …

Das Mädchen presste die Lippen aufeinander, um die zitternden Schluchzer nicht hervorzulassen. Sandy krallte ihre Finger tief in die Oberschenkel. Minute um Minute wurde das Licht schwächer, verblasste, ein letztes Aufflackern, ehe die Umgebung in ein dunkles Grau überging.

Die Geräusche im Flugzeug hatten an Intensität verloren. Sandy konnte Kurts Atem hören. Ob alles abgebrannt ist? Werde ich auch für totgehalten, umgekommen im Feuer? Und Mario? Sucht einer von Kurts Komplizen nach ihm? Lebt er oder spielt mein Onkel mit mir, damit ich mich ruhig verhalte? Sie stieß einen gequälten Seufzer aus. Denk an etwas anderes. Sonst wirst du verrückt …

Sandy schloss die Augen, spürte neuerlich ihre Kette auf der Haut. Vater unser im Himmel, formten ihre Gedanken das Gebet. In dieser Aussichtslosigkeit erkannte Sandy den wahren Grund, weshalb das Leben ihrer Eltern mit Religiosität ausgefüllt war, der sonntägliche Kirchenbesuch zur Pflicht gehörte. Sie suchten Hoffnung, Ruhe, Zuspruch, Kraft bei Gott sowie in der Gemeinschaft.

geheiligt werde dein Name …

Das Gebet schenkte ihr ein kleines Stück Vertrautheit.

Ottawa – Die Flucht

Ein schwarzer SUV mit getönten Scheiben stand bereit. Der Chauffeur nahm das Gepäck ent­gegen und verstaute es im Kofferraum. Kurt dirigierte Sandra auf die Rückbank, setzte sich neben sie, um achtzugeben. Er hielt seine Pistole auf sie gerichtet, versteckt unter einer Zeitung.

Sandy sah fasziniert und gleichermaßen eingeschüchtert zum Seitenfenster hinaus. Unzählige Fahrzeuge zwängten sich durch die Straßen. Als Mädchen vom Land fand sie eine Stadt wie Graz bedrohlich, das hier übertraf all ihre Vorstellungskraft. Irgendwo hatte sie ein Schild mit Ottawa gelesen. Ist das nicht die Hauptstadt Kanadas?

Häuser standen dicht gedrängt, ragten in die Luft empor, sodass sie nicht einmal den First erkennen konnte. Hastig eilten hell- und dunkelhäutige Menschen dem Bürgersteig entlang. Die Unterhaltung zwischen Kurt und dem Chauffeur wurde auf Englisch geführt. Die schnelle Aussprache und den Akzent war sie nicht gewohnt, sodass sie es bald aufgab, dem Gespräch zu folgen. Im Hintergrund erklang Musik, die wirkte zumindest kaum fremd und entsprach jener, die sie meist zu Hause gehört hatte.

Sandy schluckte. Der unbekannte Kontinent ängstigte sie weniger als Kurt. Ob er mich zu diesem Diego bringt? Die Orientierung hatte sie längst verloren. Der Geländewagen nahm scheinbar wahllos eine Abzweigung nach links oder rechts. Er fädelte sich durch den Verkehr mit einer Geschwindigkeit, die sie beängstigend fand. Sie krallte ihre Fingernägel in die Sitzbank. Plötzlich ging ein Ruck durch den gesamten Wagen, sie wurde hart in den Gurt gepresst. Während sie zu realisieren versuchte, was passiert war, erklang im Hintergrund ein heilloses Durcheinander von Huplauten. Sandy schaute bei der Scheibe hinaus. Sie standen mit dem Wagen inmitten der entgegenkommenden Fahrbahn.

»Shit!«, fluchte der Fahrer in der Landessprache. »Mister Night, geht es Ihnen gut?«

»Zur Hölle!«, erklang es neben ihr von Kurt.

Mister Night, echote es in Sandras Gedanken. So nannte er sich selbst!

 

»Wofür bezahle ich dich, wenn du es nicht einmal schaffst, mich auf dem schnellsten Weg aus dieser verfluchten Stadt hinauszubringen?« Kurt ächzte, wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Stirn.

»Der Idiot hat uns voll gerammt!«, rechtfertigte sich der Fahrzeuglenker entrüstet. Er vermied den Augenkontakt über den Innenspiegel.

Die Waffe ist weg!, durchfuhr es Sandy. Aus einem Impuls heraus zog sie am Türgriff. Er ließ sich öffnen, und schon machte sie einen Satz hinaus auf die Straße.

»Verdammt!«, knurrte Kurt, griff nach ihr. Er langte ins Leere. »Warte hier!«, instruierte er den Chauffeur wütend, nahm die Verfolgung auf.

Sandra lief blindlings über die Fahrbahn, zwängte sich zwischen den stehenden Autos hindurch. Der Unfall blockierte ein Weiterkommen auf beiden Fahrtrichtungen.

»Haltet das Mädchen!«, rief Kurt.

Sandy wurde von einer Hand erfasst. Sie schrie panisch auf, blickte in das Gesicht eines Schwarzafrikaners, der die Scheibe heruntergelassen hatte. Sie wollte sich losreißen, schaffte es nicht. Kurt kam immer näher. Instinktiv beugte sie sich hinunter, biss dem Kerl fest in den Unterarm. Überrascht ließ der sie los, stieß einen derben Fluch aus.

Weiter, rasch! So schnell ihre Beine sie trugen, schlängelte Sandra sich zwischen den Passanten hindurch.

»Sie darf nicht entkommen!«, hörte sie hinter sich Kurt rufen. Keiner der Fußgänger griff ein. Sie begutachteten bloß neugierig die dargebotene Szene.

»Sorry!«, stieß Sandy frustriert aus, als sie jemanden anrempelte. Kurt war ihr nach wie vor auf den Fersen, obwohl sich zwischen ihnen etwas Distanz aufgebaut hatte. Sandra atmete schwer, griff sich an die Flanke, in der es schmerzhaft stach. Bald würde sie keinen Schritt mehr laufen können. Er darf mich nicht erwischen! Lieber sterbe ich, als aufzugeben! Sie mobilisierte die letzten Reserven. Es muss hier ein Versteck geben. Sie bog um die Ecke.

»Nein! Eine Sackgasse!« Verzweifelt blickte Sandra auf die steinerne Wand, die einige Meter von ihr entfernt emporragte. Es war zu spät, um kehrtzumachen. Jeden Moment konnte Kurt auf­tauchen. Hilfesuchend sah sie sich um. Sie sprintete zu der einzigen Innentür, neben der sich ein kleines Fenster befand. Entschlossen drückte Sandra die Klinke hinunter. Verschlossen!

»Verdammt!« Sie trat frustriert dagegen, rüttelte daran in einem Anflug grenzenloser Verzweiflung. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter! Der zweite Hieb fiel bedeutend sanfter aus, zeugte von ihrer Resignation. Hoffnungslos lehnte sich Sandra mit dem Rücken gegen das Türblatt. Sie fühlte die Kühle des Metalls, wusste bereits jetzt, dass das kein Versteck war und er sie in wenigen Sekunden wegziehen würde. Der keuchende Atem von Kurt drang hörbar zu ihr, ehe sie ihn überhaupt sehen konnte. Sie presste sich tiefer in die Nische hinein.

Plötzlich schwang die Tür auf. Sandra stolperte rücklings. Jemand stützte sie von hinten, zog sie ins Innere des Gebäudes. Ihr Mund wurde von einer Hand umschlossen. Sandys Herz raste vor Panik und Anstrengung. Sie war kurz davor aufzuschreien.

»Psst!«, erklang es bestimmt. Ihr Gegenüber ließ von Sandra ab, verriegelte rasch die Eingangstür.

Langsam wurde Sandy ruhiger. Meint diese Person es gut mit mir? Ihre Augen gewöhnten sich an die Düsternis im Vorraum. Sie erkannte eine ältere Frau. Das Gesicht zeigte tiefe Falten und das graue Haar war zu einem dünnen Zopf gebunden.

Als jemand an der Türklinke riss, zuckte Sandra erschrocken zusammen. Sie presste ihre Faust in den Mund, um keinen verräterischen Laut zu entlassen.

»Verflixt! Sie kann sich nicht in Luft aufgelöst haben!« Kurt trat forsch gegen die Metalltür. »Ich hab ihre Stimme gehört.«

Bald darauf vernahm das Mädchen weitere Geräusche, offensichtlich warf draußen Kurt die Mülltonnen zur Seite. Die alte Frau und Sandra blieben stumm. Noch einmal rüttelte er an der Tür. Sandy verschanzte sich zitternd unter dem Stiegenaufgang, der eine Lücke bot.

Die Alte öffnete das schmutzige Fenster einen Spalt, es drang kaum Helligkeit ins Gebäudeinnere. »Ruhe, sonst hole ich die Cops!«, rief sie hinaus. Sandy hörte, wie Kurt unverständlich brummte, er wohl gezwungenermaßen kehrtmachte.

»Er ist weg«, sprach die Frau, nachdem sie sich mit einem Blick versichert hatte. Sie reichte Sandra ihre Hand. »Bei einer Tasse heißer Schokolade wirst du den Schrecken rasch vergessen.«

Grollend blickte Kurt die Gasse entlang. Wie konnte das passieren? Nun habe ich weder die Formel noch Sandy. Was soll ich Diego erzählen? Jetzt muss ich ein anderes Mädchen besorgen, um ihn nicht zu vergraulen. »Dieses verfluchte Biest!« Wütend schlug er mit der flachen Hand gegen eine Mauer. Die Verletzung auf der Stirn schmerzte, und mit all dem Blut im Gesicht wirkte er bestimmt nicht besonders vertrauensvoll. Notdürftig drückte er ein Tuch auf die Wunde. Ich muss mich schleunigst vom Acker machen! Die Cops kann ich nicht gebrauchen, auch wenn ich Beziehungen bis in die obersten Reihen habe. Dann trommle ich meine Männer zusammen. Die sollen die Gegend nach dem Gör absuchen. Sie müssen dieses verdammte Miststück finden! Es kommt gar nicht in Frage, dass Sandy in der Gosse stirbt und mich um meine Rache betrügt! Rasch eilte er zum Chauffeur zurück.

»Danke«, wisperte Sandy. Sie hatte die heiße Schokolade ausgetrunken. Die wärmende Süße schaffte es tatsächlich, sie etwas zu beruhigen. Ihre Retterin hielt eine graue Katze auf dem Schoß, die hörbar schnurrte und die Streicheleinheiten genoss.

»Glaub mir, du bist nicht das erste Mädchen, das ich vor einem Drecksack rette«, sprach die alte Frau. »Ich hoffe ja, dass dieser Halunke nicht dein Vater ist.«

Sandys Herz setzte einen Augenblick aus. Sie schüttelte schließlich den Kopf. Manfred ist mein Vater, nicht Kurt, nie und nimmer!

»Dann solltest du rasch nach Hause gehen, damit sich deine Mutter keine Sorgen macht.«

Mit Mühe schaffte Sandra es, ihre Tränen zu unterdrücken.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Sandy«, erwiderte sie leise.

»Du bist nicht aus dieser Gegend? Oder?«

»Ich komme aus Österreich.«

Die Alte lachte auf. »Kindchen, du weißt vermutlich nicht einmal, wo das liegt.«

Abrupt erhob sich Sandra, sodass sogar die Katze einen Schrecken bekam und fluchtartig ihren Kuschelplatz verließ. Das Lachen verletzte sie. Kein Mensch wird mir glauben! Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte sie sich um und rannte aus der Wohnung.

»Warte!«, rief die alte Frau hinter ihr her.

Sandy reagierte nicht. Sie hastete die Stufen hinab, verließ das Gebäude und tauchte im Getümmel der Leute unter.

 Ottawa, August 2018

»Sie hat mir nicht geglaubt, nicht geglaubt«, sprach Sandy verdattert.

Tim kannte ihre Geschichte gut genug, um zu wissen, dass es um ihre damalige Flucht aus dem Wohnhaus ging. Nur knapp war sie Kurt entkommen. »Du hast die Frau überrumpelt. Woher hätte sie wissen sollen, dass du nicht bloß über reichlich Fantasie verfügst, sondern tatsächlich Österreicherin bist?«

Aufgewühlt suchte Sandra seinen Blick. »Womöglich hätte sie mich zur Polizei gebracht. Mittlerweile wissen wir, wie mächtig Kurt ist und selbst dort Beziehungen hat. Somit war meine Flucht die richtige Option, obwohl es sich damals so angefühlt hat, als hätte mich die gesamte Welt verstoßen. Der Schmerz trieb mich vorwärts.«

Tim fasste nach ihren Händen, führte Sandy vom Fenster zurück auf das Sofa, wo er sie auf seinen Schoß zog. »Du hast eine neue Familie gefunden, vergiss das nicht.«

Zaghaft lächelte sie. »Das stimmt. Und dich … Aber meine Abstammung bleibt nicht unvergessen. Die Frage … nach …«

»… deinem Bruder ist nie verstummt«, nahm er ihren Satz auf. Er bemerkte, wie Sandys Augen schmerzhaft flackerten.

Lebt mein Bruder noch, oder hat Kurt ihn töten lassen? Seit Jahren quälte Sandra diese Frage, die sie nicht beantworten konnte. Zudem haderte sie damit, dass sie Reißaus genommen hatte. Kurt hat doch gedroht, dass er meinem Bruder etwas antut, wenn ich fliehen sollte … Verzeih mir, Mario, ich ertrug seine Nähe nicht! Jedes Mal, wenn ich ihn ansehen musste, schrie alles in mir: Mörder!

Sandys Kopf sank auf Tims Schulter. Während er sanft über den Rücken strich, drehte sich ihr Gedankenkarussell weiter, zurück in die Straßen und Gassen von Ottawa.

 Ottawa, Mai 2013

Sandra irrte mit tränenverschleierten Augen umher. Sie war mittellos, ohne Bleibe oder Freunde, und zu allem Überfluss eine Gejagte. Ich bin nicht nur in einem fremden Land, sondern auf einen anderen Kontinent!, haderte sie. Die englische Sprache bereitete ihr indes weniger Sorgen. Da ihre Mutter ursprünglich aus England stammte, waren der Bruder und sie von Kindesbeinen an zweisprachig erzogen worden. Auch beim Lernen unterstützten sie sich als Geschwister häufig. Erst voriges Wochenende hat Mario mich die Vokabeln abgeprüft! – Und jetzt ist nichts mehr, wie es war!

Sandy konnte es nicht fassen. In ihrem Kopf blitzte die Erinnerung auf, wie Vaters Augen gefunkelt hatten, wenn er vom ersten Aufeinandertreffen mit ihrer Mama erzählte: Mary zu sehen, wirkte, als würde der dichteste Nebel Londons im hellen Licht strahlen!

Sandy schluckte, der Kloß in ihrer Kehle ließ sich nicht vertreiben. Es klang so, als wäre diese Begegnung eine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ob es das gibt? Hat Paps uns etwas vorgespielt? Und was meinte Night mit Eta...bliss...ment? Ein Bordell? Davon haben meine Eltern nie gesprochen! ... Nun bin ich in ein anderes Leben katapultiert worden. Macht die Flucht einen Sinn? Kann ich Kurt dauerhaft abschütteln? Wo soll ich hin? Zur Polizei? Ich hab ja nicht einmal einen Pass, um mich auszuweisen! – Mario … Lebst du? Bitte, du musst wenigstens leben!

Sandra stoppte, wischte sich die tränennasse Spur aus dem Gesicht. Ich kann dir nicht einmal sagen, dass es mich gibt, oder weshalb unsere Eltern sterben mussten! Verstört blickte Sandy an sich runter. Sie besaß bloß die staubige Kleidung, die sie an ihrem Körper trug: T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. Damit unterschied sie sich kaum von den Obdachlosen ringsum. Schlimmer noch, ich zähle nun zu ihnen! Ob sich Ur-Oma in der Kriegszeit auch so gefühlt hat? Durchbeißen!!!

Ziellos marschierte Sandra weiter. Stunden, denen sie ihrer Umgebung keine Bedeutung zumaß. Die innere Qual trieb sie an. Beinahe wäre sie über einen Kerl gestolpert, der auf dem Asphalt lag. Sie machte einen Satz zur Seite, blickte auf und registrierte, dass das Leid um sie herum größer geworden war.

Der Mann lallte, war sichtlich angetrunken. Unwillkürlich wich sie zurück. Dessen Kleidung war zerrissen. Irritiert beobachtete sie, wie er liegend den Reißverschluss der Hose öffnete, um neben sich auf die Straße zu urinieren. Eine große Pfütze breitete sich aus, benetzte ihn und bahnte zeitgleich in Rinnsalen einen Weg über den Asphalt.

Angewidert wendete sich Sandra ab. Sie entdeckte weitere Menschen in den Gassen, manche sitzend auf dem dreckigen Boden, andere teilnahmslos, fast wie tot. Einige hielten fordernd und begierig ihr die Hände entgegen, wohl in der Hoffnung auf ein paar Almosen. Eine alte Frau stöberte unweit im Mülleimer. Sie entblößte ihre gelben Zahnstummel, als sie ein Stück verschimmeltes Brot hervorzog.

Entsetzt rannte Sandy an den Menschen vorbei, bog um die nächste Ecke, konnte nur knapp einen Zusammenstoß verhindern. Sie starrte auf eine langbeinige Frau, deren Rock kaum den Schritt verdeckte. Der Mund war knallrot geschminkt, und das gesamte Gesicht wirkte übermäßig angemalt. Sandy erschauerte unter dem kühlen Blick, als wäre sie ein Eindringling. Sie eilte weiter, bis neben ihr ein Wagen hielt, der die Seitenscheibe herunterließ.

»Du bist neu. Ich halte immer Ausschau nach Neuem … Komm, es wird nicht zu deinem Schaden sein.«

Sandra rückte ab, bis sie die Hausmauer im Rücken spürte. Der Kerl hinter dem Steuer grinste und wedelte mit einem Dollarschein. »Einen erhältst du jetzt und das doppelte danach, wenn ich mit dir zufrieden bin.«

Ihr Herz raste vor Entsetzen. Wo bin ich hier hingeraten?

Ein Mädchen mit zierlicher Figur trat heran. Im totalen Kontrast zum jugendlichen Alter standen das enge Outfit und das grelle Make-up. »Komm, nimm mich. Ich weiß, was dir gefällt«, säuselte das Mädchen.

 

Der Fahrzeuglenker lachte. »Steig ein.«

Sogleich öffnete das Mädchen die Tür, warf sich zufrieden auf den Beifahrersitz. Erst, als der Wagen sich in Bewegung setzte, fiel etwas von Sandras Anspannung ab. Sie stieß hörbar Luft aus, folgte dem Straßenlauf. Jeder Meter frustrierte sie mehr. Bestürzt betrachtete Sandra all die Leute. Noch nie in ihrem Leben war sie derart mit Elend konfrontiert gewesen. Sie hatte zwar daheim Bilder oder Reportagen im Fernsehen über Menschen in Armut gesehen, doch die konnte man nicht mit diesem Umfeld vergleichen. Sie erinnerte sich an die Bettler vor manchem Supermarkt, aber die hatten keineswegs solch eine Not ausgestrahlt, die hier fühlbar war.

Schockiert wandte sie den Blick ab, um ihre Tränen zu verbergen. Ich will weg … Heim! Obwohl die Umgebung vor ihr verschwamm, stoppte Sandra nicht, sondern beschleunigte ihren Schritt, in der naiven Hoffnung, dem Schmerz davonlaufen zu können.

Die Sonne brannte heiß vom Himmel herab. Sandra war durstig, hungrig und verschwitzt. Sie versuchte, im Hintergrund zu bleiben, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ehe noch jemand neben ihr halten und ein unmoralisches Angebot vorschlagen würde. Da entdeckte Sandy den Zugang zu einer öffentlichen Toilette. Sie schaute sich um. Keiner schien von ihr Notiz zu nehmen. Sie eilte die Stiegen hinab, betätigte den Wasserhahn und trank in gierigen, großen Schlucken das kühle Nass. Als Sandra den Kopf hob und in den Spiegel blickte, zuckte sie zurück. Hinter ihr stand ein Mädchen in ihrem Alter mit schmutzigem Gesicht.

»Was machst du hier?«, fragte es forsch.

»Sorry«, brachte Sandy leise heraus. Sie drehte sich um. Ihr Gegenüber hatte nicht einmal Schuhe an, die Kleidung war verschlissen und fleckig. Werde ich auch so enden? Sandras Beine zitterten. Sie sank auf den kalten Fliesenboden nieder, hatte keine Kraft mehr. Wohin soll ich gehen oder fliehen? Wozu auch? Ich hab alles verloren …

Unkontrolliert schluchzend verbarg Sandy das Gesicht hinter den Fingern. Plötzlich fühlte sie eine Berührung an ihrer Schulter. Erstaunt bemerkte sie, dass das fremde Mädchen noch da war.

»Komm mit«, sprach es.

Sandy spürte keine Ablehnung mehr in dessen Stimme. Als das Mädchen ihre Hand ergriff und sie mitzog, ließ sie es bereitwillig geschehen.

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