Die Ehre meiner Seele

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Z serii: Zweites Buch #2
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»Heute ganz allein?«, sprach Thomas, als er zu mir trat. Er wollte mir einen Kuss geben, aber ich hielt ihn auf Abstand. Marie war in der Nähe, sah alles und lauschte jedem Wort.

»Wir müssen reden und ich habe nur wenig Zeit«, sagte ich mit fester Stimme.

Irritiert schaute mein Freund mich an.

»Was ist los? Geht es Kristina nicht gut? Muss sie zu einem Arzt?«

»Nein.« Ich schüttelte vehement meinen Kopf. »Wir können uns künftig nicht mehr treffen. Der Versuch, uns über Wochen nah zu bleiben, ist gescheitert, da ich nicht dieselben Gefühle für dich hege wie du für mich.«

»Bist du von Sinnen?« Thomas ergriff meinen Arm. »Das glaube ich dir nicht!«

»Lass es niemanden sehen«, flüsterte ich hastig und steckte ihm ein gefaltetes Stück Papier in die Jackentasche, ehe ich ihn heftig von mir stieß. »Halte Abstand!« Im Schatten der angrenzenden Bäume bemerkte ich eine flüchtige Bewegung.

Thomas wirkte noch verwirrter. »Aber …«

Es wurde mir schwer ums Herz. »Meine Meinung ist unumkehrbar!« Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und lief Richtung Anwesen. Er sollte nicht meinen Schmerz und noch weniger meine Tränen sehen.

Keine Sekunde glaubte Thomas, dass Saras Gefühle sich gewandelt hatten, und die Erklärung für ihr Verhalten lag verborgen in seiner Jacke. Was ist geschehen? Er mahnte sich selbst zur Vorsicht, obzwar die Versuchung, den Zettel aus seiner Tasche zu holen, sehr groß war, und das Rattern in seinem Kopf einem Mühlrad glich.

Sara entschwand aus dem Sichtfeld. Er löste sich aus seiner Versteinerung. Plötzlich hatte er es eilig. Rasch ritt er mit dem Ross nach Ingolstadt zurück. Erst als er sich in seiner Stube befand, zog er das gefaltete Papier hervor.

Mein lieber Thomas!

Marie ist nicht nur unserer Liebe auf die Schliche gekommen, sondern weiß über die wahre Mutterschaft Bescheid. Sie hält dich für Kristinas Vater und ich ließ sie in diesem Glauben.

Es fällt mir schwer, das zu schreiben, denn offensichtlich ist Marie derart in Dich vernarrt, dass sie sich nicht einmal davor scheut, das Ansehen meiner Familie in den Schmutz zu ziehen, was ich nur zu unterbinden vermag, indem ich mich von Dir fernhalte.

Bitte, zürne mir nicht. Aber ich kann auf keinen Fall meine Familie der Schande aussetzen. Deshalb gebe ich Dich frei. Wir haben es versucht und hatten eine wunderschöne Zeit. Keine Sekunde werde ich bereuen oder vergessen. Lass sie uns als ein Geschenk bewahren.

Anscheinend sind unsere Leben nicht füreinander bestimmt.

Verzeih mir! Deine Sara

Wie konnte Marie es wagen, sich zwischen Sara und ihn zu drängen? Wütend ballte er seine Fäuste. Er stapfte im Zimmer auf und ab. So ein abgekartetes Spiel hätte er ihr niemals zugetraut. Natürlich waren ihm ihre romantischen Gefühlsanwandlungen nicht verborgen geblieben, aber er hatte seines Erachtens der Tochter von Wolbrand niemals Hoffnungen gemacht. Zudem bestürzte es ihn, dass eine jahrelange Freundschaft zweier junger Frauen auf diese Weise ein Ende fand.

Im ersten Impuls war er versucht, Marie zur Rede zu stellen. Rasch verwarf er diesen Gedanken wieder, denn er würde sich ebenfalls hüten, etwas zu tun, das der Familie Königshofer von Eichstätt Schaden könnte. Er musste die Sache geschickter anlegen, auch wenn das bedeutete, sich tatsächlich für geraume Zeit von Sara fernzuhalten. Aber er würde kämpfen: für Sara und ihre Liebe.

*

November 1903

Thomas hatte sich in Eichstätt eingefunden, um auch heuer zu Allerheiligen bei der Gräbersegnung teilzunehmen. Trotz der Trennung von Sara besuchte er einmal im Monat die Messe und im Anschluss die Ruhestätte seiner Mutter. Dabei folgte ihm im Schatten eine Person: Marie.

Obwohl die Tochter von Wolbrand im Hintergrund blieb, oder beide in der Kirche aufgrund der getrennten Sitzplätze von Mann und Frau eine Distanz fanden, nahm Thomas sie wahr. Keineswegs durfte er sie unterschätzen, deshalb hatte er es bisher nicht einmal gewagt, eine Nachricht an seine Sara zu schicken, in der Sorge, Marie könnte selbst hier den Boten abfangen.

Ringsum hatten sich zahlreiche Leute versammelt, einige tratschten mit gedämpfter Stimme. Betrübt dachte Thomas an Sara und Kristina, die er sehr vermisste. Besonders die Sonntage glichen einem Trauertag.

Sehnsucht flutete in ihm hoch. Er liebte es, wie Sara das Haar aus dem Gesicht strich, ihre Finger nachdenklich an die Lippen legte und dabei in ein Buch vertieft war, oder wenn sie mit Kristina beim Tanz herumwirbelte. Er mochte ihre zerzauste Frisur nachts, falls die Kleine aus dem Schlaf hochschreckte und sie sich mit Hingabe um das Mädchen kümmerte. Er würde nie satt werden, sie zu beobachten.

All diese Dinge wirkten wie aus einem fernen Leben. Gedrückt schüttelte Thomas seinen Kopf. Er wollte mit Sara glücklich sein! War das zu viel verlangt? Sogar die Nacht mit ihrer Schwester hatte sie verziehen, was er kaum zu hoffen gewagt hatte. Aus ihm, dem einstigen Pferdeknecht, war derweil ein vermögender Mann geworden. Weder die Kleidung unterschied ihn von der Oberschicht noch seine Manieren, auf die in seiner Schulausbildung ein besonderes Augenmerk gelegt worden war. Dennoch würde er ein Bastard bleiben.

Er seufzte. Was half ihm das gesamte Geld, wenn er seine Gefühle verleugnen musste? Es schmerzte tief bis in jede Pore seines Leibes. Er lechzte nach Saras Nähe, wünschte sich eine Familie mit ihr und ertappte sich dabei, als er sich vorstellte, wie die gemeinsamen Kinder aussehen würden. Er hoffte, sie hätten ihre grüne Augen, aber vor allem das Herz aus Gold.

Thomas starrte auf das Grab von Magdalena. »Ich ertrage das nicht länger«, vertraute er flüsternd der Umgebung an. Er blinzelte und hob den Kopf.

Jonas? Sein Herz beschleunigte den Takt, als er den Kammerdiener der Familie Königshofer von Eichstätt eine Reihe vor ihm entdeckte. Er witterte endlich eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Halbherzig verfolgte Thomas die Worte des Pfarrers. Auch als der Priester die Gräber mit Weihwasser segnete, ließ er Jonas nicht aus den Augen. Nach dem letzten Kreuzzeichen ordnete er sich zwischen den anderen Menschen neben dem Kammerdiener ein. Die beiden Männer grüßten sich.

»Würdest du bitte Sara eine Nachricht übermitteln«, fragte Thomas rasch, während sie sich dem Friedhofsausgang näherten.

»Natürlich«, versicherte Jonas.

»Sagt ihr: Wir werden einen Weg finden, auch wenn es etwas dauern mag.«

Jonas nickte zur Bestätigung, dass er ihn verstanden hatte. Thomas murmelte ein: »Dankeschön.« Er ließ sich zwischen den Leuten zurückfallen und hoffte inständig, dass Marie dieses kurze Aufeinandertreffen nicht bemerkt hatte.

*

Die grimmige Novemberkälte legte sich über das Land und tauchte die Umgebung in Düsternis. Es war, als würde die Kühle durch die Glieder bis direkt in mein Herz kriechen. Seit Wochen hatte ich weder etwas von Thomas gehört noch wusste ich, wie es um ihn stand. Womöglich zürnte er mir, oder fand er längst Trost in Maries Armen?

Ich musste mich zwingen, fröhliche Lieder auf der Harfe anzuschlagen. Wenigstens das Lächeln meiner Ziehtochter schaffte es, etwas Wärme in mein Inneres zu bringen.

Mein Mädchen und ich befanden uns im Musizierzimmer, unserem Lieblingsort, wenn das Wetter draußen derart ungemütlich war. Hier fühlte ich mich Thomas besonders nah, denn in diesem Raum wurden wir über Jahre gemeinsam unterrichtet.

»Ma..ma!«, erklang es neben mir und riss mich aus meinen Gedanken.

Erstaunt sah ich Kristina an.

»Ma..ma!«, wiederholte mein blondes Mädchen.

»Nein!« Ich schüttelte meinen Kopf. »Sa..ra«, sprach ich langsam vor.

»Nn. Ma..ma!« Sie wurde vehementer.

»Nein«, meinte ich sanft. Ich rang mit mir. Am liebsten hätte ich Kristina gesagt, dass Alma die wahre Mutter ist. Aber meine Schwester zeigte kein Interesse an ihrem Mädchen. Wie konnte sie nur so hart sein und Kristinas Existenz ausblenden, als hätte sie nie ein Kind geboren?

Kristina stampfte auf. »Nn! Du!« Sie wies mit ihrem Zeigefinger auf mich. Tränen des Trotzes traten in ihre braunen Augen.

»Komm her.« Ich schloss die Kleine in meine Arme und vergrub die Nase in ihrem Haar, amtete den Geruch von Lavendel ein. »Ich wäre gerne deine Mutter, vom Herzen bist du mein Kind, meine Tochter!«

»Jaaaa! Duuuuu Ma..ma!« Nun lachte mein fast zweijähriges Kind und strahlte über das gesamte Gesicht.

Ich widersprach nimmer mehr. Mein Mädchen, ich nannte sie oft so. Es erfüllte mich mit Stolz, dass sie mich als ihre Mutter sah. Ich sprach Kristina beharrlich neue Wörter vor, übte mit ihr das Gehen und Laufen, das ihre gesamte Willenskraft erforderte und meine dazu.

Vor einigen Wochen las ich einen Zeitungsartikel über die italienische Ärztin Maria Montessori, deren Ideen mich beeindruckten. Sie entwickelte Spielzeuge für behinderte Kinder, um damit deren Sinne anzusprechen und den Verstand anzuregen. Die Medizinerin fertigte einen Baukasten mit zylindrischen Einsatzstücken verschiedener Länge und Breite an, die jeweils nur an einen Platz im Baukasten passten. Wie gerne hätte ich Thomas gebeten, mir etwas Ähnliches herzustellen. Aber er befand sich in Ingolstadt. Ich wagte es nicht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, denn Maries Drohung war unmissverständlich. Deshalb behalf ich mich mit Geräuschdosen, die ich mit Sand, Reis und Steinen befüllte. Wenn ich an meiner Harfe saß und ein Lied erklingen ließ, rasselte Kristina mit diesen Dosen und begleitete mich. Ich spürte, wie fasziniert mein Mädchen von der unterschiedlichen Intensität der Geräusche war und was für Freude sie daran fand. Gerne griff Kristina auch in die Saiten meines Instruments und war verblüfft, welche Töne sie dabei erzeugte. Wo war in dieser Zeit ihre leibliche Mutter?, dachte ich freudlos. Unterwegs mit einem ihrer Freier, die ständig wechselten.

 

Es klopfte an der Tür. »Ja, bitte?«

»Entschuldigt, Baronesse Sara, falls ich störe.« Jonas tauchte unter dem Türrahmen auf. »Darf ich herantreten? Ich habe eine kurze Mitteilung für Euch.«

»Gewiss.«

Der Kammerdiener näherte sich mir. »Ich traf Thomas am Friedhof.« Er senkte seine Stimme, als hätte er Angst, irgendwo hinter den Mauern würde ein heimlicher Lauscher sitzen.

»Thomas?«, hauchte ich verwundert.

»Er bat mich, Folgendes Euch zu übermitteln: Wir werden einen Weg finden, auch wenn es etwas dauern mag.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich eine Entgegnung fand. In mir überschlugen sich die unterschiedlichsten Gefühle. Ich wollte jubeln, denn Thomas hatte unsere Liebe nicht aufgegeben, doch im selben Augenblick überrollte mich eine Woge voller Sorge, dass das Umfeld all unsere Bemühungen zunichtemachen würde.

»Sonst noch etwas?«, hakte ich mit zittriger Stimme nach.

»Nein.« Jonas schüttelte sein Haupt. »Aber wenn ich mir die Feststellung erlauben darf: Er mag Euch sehr.«

Nun traten mir Tränen in die Augen. »Das beruht auf Gegenseitigkeit«, flüsterte ich. »Ich bitte dich Jonas, sprecht mit niemand anderem darüber.«

»Keine Sorge, Baronesse. Sollte ich sonst etwas für Euch tun können, werde ich pflichtgetreu zu Euren Diensten sein.«

»Ich weiß.« Mir entfloh ein kleines Lächeln. »Auf dich und deine Frau ist stets Verlass, dafür schätze ich euch sehr. In all den letzten Monaten habt ihr mir mehr Beistand gegeben als die eigene Familie.«

»Das ist unsere Pflicht.«

»Wir wissen beide, dass das, was ihr tut, über diese Pflicht weit hinausgeht. Aber nun möchte ich dich nicht länger von deinen Aufgaben abhalten. Ich danke dir, Jonas, für die Übermittlung dieser Botschaft.«

»Der Dank liegt ganz bei mir.« Er nickte mir zu und verließ das Zimmer.

»To…To…To…mmm«, brabbelte Kristina ganz aufgeregt neben mir.

»Du vermisst ihn auch.«

»To…To…To…mmm…s.«

»Wir können ihn noch nicht sehen.« Ich hob mein Mädchen auf den Schoss. »Aber er liebt dich ebenso wie ich.« Kristinas Augen zeigten einen feuchten Schimmer. Ehe Tränen daraus hervorzubrechen vermochten, nahm ich ihre Hand und ließ diese über die Saiten der Harfe gleiten. Töne erfüllten den Raum und lenkten das Kind rasch ab.

*

Dezember 1903

»Diese verdammten Gesellschaftsabende«, grollte Marie. Sie schlug wütend mit der Hand gegen die Wand. Noch immer war sie keinen Schritt weiter. Ob Thomas ihr absichtlich auswich, und deshalb seine freien Abende im Gasthaus verbrachte? Sie hätte schwerere Geschütze auffahren sollen, dann würde sie längst seine Frau sein. Oder er wäre tatsächlich nach Amerika geflohen …

Sie rümpfte die Nase. »Mist!«

Obwohl es ihr nicht gefiel, musste sie wohl oder übel geduldig sein. Zumindest konnte sie bisher keinen neuerlichen Annäherungsversuch zwischen ihm und Sara entdecken. Natürlich wagte Thomas nicht, Kristina zu besuchen, denn was sollte er auf dem Anwesen der Familie Königshofer von Eichstätt, wenn die anderen in Teresa und Carl die Eltern sahen.

Es verwunderte sie nicht, dass der Baron bei dem Sittenverfall in seinem Hause derart schwermütig geworden war. Seine Geschäfte lagen offiziell in der Hand ihres Vaters, doch sie wusste, dass Thomas den Großteil erledigte. Sollte Carl vom Techtelmechtel zwischen Thomas und Sara erfahren, würde ihm das wohl den Rest geben. Nicht mein Problem! Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Marie wurde schlecht, als sie an das Treiben bei Saras Hütte dachte. Sie verzog angewidert den Mund. »Diese Hure hat ihn verzaubert!«

Es konnte nicht länger so weitergehen. Sicherlich wäre ihr Vater einer näheren Verbindung nicht abgeneigt. Er lobte Thomas, seinen Verstand und die Umsicht, mit der er agierte. Spätestens im Neuen Jahr würde sie ihre gesamte Weiblichkeit einsetzen. »Dann gehört Thomas mir!«

Wagnisse

Thomas stapfte durch den tiefen Schnee zum Silvester-Tanz, der in der Gastwirtschaft Stangl stattfand. Er hatte sich mit einigen Burschen aus der näheren Umgebung angefreundet. Während seine Kameraden gerne mit jungen Frauen anbändelten, hielt er sich im Abseits. Ihm war bloß wichtig, zumindest einmal in der Woche Marie entfliehen zu können. Stetig passte sie ihn ab, wollte wissen, was er tat, wo er war, mit wem er sprach. Sie führte sich auf wie ein eifersüchtiges Eheweib.

Thomas erinnerte sich daran, dass er anfangs gerne ihren Worten gelauscht hatte, als sie manche Lyrik rezitierte. Im Augenblick tat er sich hingegen schwer, die Kontrolle zu behalten und nichts von seinem Wissen über ihre Heimtücke preiszugeben. Noch hatte er keinen greifbaren Plan. Die Sehnsucht nach Sara und Kristina wurde immer unerträglicher. So argwöhnisch wie Marie sich verhielt, traute er ihr durchaus zu, dass sie die Familie Königshofer von Eichstätt in Verruf bringen würde. Das konnte er genauso wenig zulassen. Hoffentlich würde der kommende Jahreswechsel eine Besserung bringen.

Thomas ergriff mit seinen klammen Fingern die Türklinke und trat in die Gaststube ein. Wärme schlug ihm entgegen und fröhliche Musik erklang. Sogleich sah er ein paar bekannte Gesichter. Er bestellte sich an der Theke einen Punsch. Als Thomas diesen in den Händen hielt, zog er sich in eine Ecke der Wirtschaft zurück. Er hatte im Augenblick weder Energie noch Freude, um sich der geselligen Stimmung anzuschließen. Aber wenigstens war er hier vor der Tochter von Wolbrand sicher.

Schweigend saß er da, wärmte die kalten Hände an dem Heißgetränk, und der Duft von Zitronen, vermischt mit Schwarztee und dem erhitzten Arrak drang in seine Nase.

»Heute ist eine Nacht zum Feiern«, wurde Thomas angesprochen, »die Lasten werden zurückgelassen, und das Neue Jahr soll das ersehnte Glück bringen.«

Er schaute auf und erkannte den Freiherrn von Wolbrand, der auf einem Stuhl ihm gegenüber Platz nahm.

»Deshalb solltest du die Trübseligkeit, die du seit Wochen mit dir trägst, endlich ablegen.«

»Ist das derart offensichtlich? Entschuldigt, falls ich mit meiner Laune Eurer einen Dämpfer versetze.« Thomas schaffte es nicht, seinen Kummer zu verhehlen.

»Keine Sorge. Nur entsinne ich mich, dass du einst davon sprachst, dass du über deine Probleme nicht reden magst.«

»Ich fürchte, es ist noch komplizierter geworden. Aber bitte, ich möchte Euch keinesfalls mit meinen Schwierigkeiten behelligen. Außerdem habt Ihr am heutigen Abend sicher Besseres zu tun, als sich mit mir zu beschäftigen.«

»Thomas«, erwiderte der Freiherr tadelnd, »ich bin derjenige, der sich zu dir gesetzt und dich angesprochen hat. Deshalb wäre ich sehr verärgert, solltest du dich mit Absicht zurücknehmen. Erinnere dich an deinen Stolz, nur so kannst du etwas erreichen. Unter uns, manchmal sind all die Feierlichkeiten sehr ermüdend, ich bin ebenso froh, wenn ich hin und wieder den Verpflichtungen entfliehen kann.«

»Aber was wäre, wenn ich etwas offenbare, das selbst Euch nahegehen würde? Ich möchte niemanden denunzieren oder verleumden.«

»Nun hast du erst recht meine Neugierde geweckt. Komm, lass uns durch die Straßen gehen. Vielleicht schaffen es die großen, weißen Schneeflocken, dein Gemüt ein wenig zu besänftigen.«

Thomas sah seinen Dienstherrn an. Schließlich nickte er einwilligend, ließ den nur halbgeleerten Punsch in der Wirtschaft stehen, während sie in die Kälte der Nacht hinausschritten.

Januar 1904

Um Mitternacht ertönte ringsum Musik, und die Leute jubelten einander zu. Thomas und der Freiherr wünschten sich gegenseitig ein gutes Neues Jahr. Als der meiste Trubel sich gelegt hatte, führten die beiden ihr Gespräch fort. Thomas offenbarte Otto, dass Kristina Almas Kind war, er als Vater galt, Teresa und Carl deshalb nach außen hin die Elternschaft übernommen hatten, um ihre Tochter vor der Schande zu bewahren. Ferner beichtete er ihm die heimlichen Treffen mit Sara. Nun eröffnete er dem Freiherrn, dass Marie ihnen auf die Schliche gekommen war.

Die vorherigen Neuigkeiten hatte Otto gefasst aufgenommen, als Thomas allerdings über Marie sprach, verhärtete sich dessen Gesicht.

»Was willst du damit zum Ausdruck bringen?«, fragte der Freiherr scharf.

Thomas wusste, dass er alles aufs Spiel setzte. Zwar hatte er bisher die vollkommene Unterstützung von Otto, auch sein Wohlwollen, aber Maries Ränke aufzudecken, war überaus gewagt. »Niemals würde ich Eure Tochter grundlos beschuldigen wollen. Doch ich bin verzweifelt. Ich liebe Sara und möchte nur mit ihr mein Leben verbringen. Längst hätten wir unsere Beziehung vor Gott und der Welt besiegelt, wenn dem nicht so vieles im Weg stehen würde.«

»Was hat Marie getan?«

»Was genau, kann ich nicht beantworten. Sie hat Sara wohl einen Besuch abgestattet, weshalb es zu unserer Trennung gekommen ist.«

»Allein wegen des ungeheuerlichen Verdachts gegen meine Tochter könnte ich dich vom Hof jagen!«

»Tut es, aber ich werde deshalb meine Worte nicht zurücknehmen. Wenn es um mein Kind ginge, würde ich einem Mann wie mir wohl ebenfalls keinen Glauben schenken und nicht anders reagieren. Ich habe eine Bitte, ohne damit Eure Menschenkenntnis anzweifeln zu wollen: Macht Euch selbst ein Bild. Sollte es zudem Euer Wunsch sein, packe ich noch heute meine Taschen, denn kein Geld oder Ansehen mag mich darüber hinwegtrösten, dass ich mich gewaltsam von Sara fernhalten muss.«

»Du würdest wieder ein einfacher Knecht sein.«

»Das wäre mir einerlei.«

»Sieh mich an!«, forderte Otto den jungen Mann harsch auf. Die beiden Männer blickten einander an. In Thomas‘ Ohren rauschte hörbar das Blut.

»Du kannst einstweilen bleiben«, sprach schließlich der Freiherr und sah als Erster weg.

Erleichtert atmete Thomas aus.

»Ich werde mich von deinen Worten überzeugen. Ich habe im Krieg gelernt, dass selbst in den eigenen Reihen manchmal Aufrührer sitzen, die verblendet sind. Sollte es so sein, dann werde ich das keineswegs dulden.«

»Ich danke für Euer Vertrauen.«

»Deine bisherige Loyalität, dein Habitus und offener Blick haben mich zu diesem Entschluss gebracht. Trotz allem unternimmst du in dieser Angelegenheit nichts, so lange, bis du eine andere Anweisung von mir erhältst.«

»Das verspreche ich Euch.«

»Außerdem werde ich dich vorerst eine Weile im Auge behalten, ehe ich über die nächsten Schritte entscheide. Sollte sich nur der kleinste Verdacht bestätigen, dass in deinen Worten Unwahrheit steckt, wirst du künftig kein freier Mann mehr sein, und die Liebe zu deiner Sara wird tatsächlich aussichtslos bleiben!«

Der Freiherr wendete sich ab und ließ Thomas im Schein der nächtlichen Laterne zurück.

*

März 1904

Stephan Krüger befand sich in Michigan, im fernen Amerika. Die Zeit der Expedition war für ihn vorbei. Stattdessen hatte er eine Anstellung in einem Sägewerk, Sage McGraw & Company, in Bay City gefunden.

Auch wenn diese Arbeit körperlich anstrengend und mitunter gefahrenvoll war, liebte er vor allem den harzigen Geruch des frischen Holzes. Die enormen Ausmaße mancher Bäume flößten ihm Respekt ein, zumal er solche von Europa nicht kannte. Die Anlieferung der Stämme erfolgte hauptsächlich schwebend über den Saginaw River. Ehe sie weiterverarbeitet werden konnten, mussten sie auf die Förderbänder gehievt werden. Umliegend erstreckte sich ein riesiges Lager mit aufgetürmten Baumstämmen oder fertigem Schnittholz. Es war faszinierend, hautnah mitzuerleben, wie aus einem ganzen Stamm Bretter, Balken, Dielen und Latten gesägt wurden. Daraus sollten Tische oder Bänke gemacht werden, doch der überwiegende Teil kam beim Schiffsbau zum Einsatz.

Stephan sprang behände über die Stämme, die ein Wasserbad nahmen, um auf die andere Seite zu gelangen, wo sich fester Boden befand.

Er erinnerte sich an die Nordpol-Expedition zurück, die Mister Baldwin abgebrochen hatte, da der ersehnte, benötigte Kohle-Nachschub ausblieb. William Ziegler war über diese Entscheidung Baldwins nicht erfreut gewesen und die beiden beendeten ihre Zusammenarbeit. Auch Stephan verspürte keine Ambitionen, unter der neuen Führung des Expeditionsfotografen Anthony Fiala sich wieder in die eisigen Gefilde zu begeben, nur mit der Ungewissheit vor Augen und der vagen Hoffnung, neue Gebiete zu erforschen.

 

So blieb er in Übersee. Stephan hatte großes Glück, in Ziegler einen Gönner gefunden zu haben. Er wusste von den abertausenden Menschen, die obdachlos in einem Armenviertel hausten. Etliche ansässige Bewohner echauffierten sich über den nicht abreißenden Fremdenstrom, taten lautstark ihren Protest kund und konnten die Entrüstung keineswegs verbergen. Sie rechneten nicht damit, dass diese primitiven, kulturell rückständigen und mittellosen Leute, das sittliche und geistige Niveau des Landes zu heben vermochten. Ferner sahen sie die Sorge, dass es den andersgearteten Zuwanderern mit ihren fest verwurzelten Bräuchen umso schwerer fallen würde, sich zu assimilieren.

Deshalb war es kaum verwunderlich, dass viele Auswanderer an eine Rückkehr in die alte Heimat dachten, sobald sie genügend Geld erwirtschaftet hatten.

»Ach, Alma«, seufzte Stephan. In letzter Zeit verstärkte sich sein Wunsch, ebenso wieder heimzukehren. All die unbeantworteten Fragen, wie es seiner Halbschwester ergehen mochte, marterten ihn.

Damals war für Stephan eine Flucht die einzige Option gewesen. Er brach mit seiner Vergangenheit, nahm eine neue Identität an und wollte mit seinem Adoptiv-Vaterland verschmelzen. In der Arbeit erlangte er den gegenseitigen Respekt der Kameraden, die aus den unterschiedlichsten Kontinenten und voller Erwartungen sich an die fremde Küste gewagt hatten. Er erhielt den wohlverdienten Lohn, dennoch wurde seine Kraft Tag für Tag auf eine harte Probe gestellt. All die Gefahren und Schwierigkeiten, die unabwendbar durch das unterschiedliche soziale und sittliche Gepräge entstanden, wirkten nichtig im Vergleich zu seiner inneren Qual. Stephan schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu verscheuchen. Es wartete Arbeit auf ihn.

»Kelian. Danger!«

Irritiert schaute er auf. Was war das für ein Grummeln?

»Get off!«

Er nahm die Ohrschützer ab. Dieses Donnern? Er wirbelte herum. Baumstämme rollten auf ihn zu. Weg!

Unter seinen Füßen bebte die Erde. Er warf sich zur Seite, wurde trotzdem erfasst, und ehe der Schmerz sich in seinem Kopf einnisten konnte, legte sich eine tiefe Schwärze um ihn.

*

April 1904

Überall grünte und blühte es. Es tummelten sich zahlreiche Frühlingsboten: Narzissen, Krokusse und Primeln. Stolz standen sie in der Sonne und die Bäume präsentierten voller Anmut ihre saftigen Blätter. Die ersten Knospen waren aufgeblüht und erfreuten uns mit deren Pracht. Die Vögel zwitscherten ihre fröhlichen Melodien und wirkten glücklich darüber, dass der Winter sein Ende genommen hatte.

»Kmm!« Kristina verschluckte manche Vokale. Ich verstand sie auch so. Entschlossen hatte das Mädchen nach meiner Hand gegriffen und zog mich mit. Ich wusste schon, wohin sie wollte: zu unserem Lieblingsplatz, der an der Nordseite lag.

Kristina hatte beim Gehen immer weniger Probleme und brauchte kaum mehr Hilfe. Wir spazierten zum überdachten Zierbrunnen, der in den heißen Monaten als Bewässerung für unseren Garten diente. Der Kreisring war gemauert, darüber befand sich ein Aufbau aus gezimmerten Holzbalken und einer eisernen Welle. Das Runddach war mit Dachziegeln gedeckt und wurde von einer goldfarbenen Metallkugel gekrönt. Ich ließ einen Eimer am Seil hinab. Ein platschendes Geräusch erklang. Ich zog ihn hoch und kühlte mein Gesicht mit dem herrlich frischen Nass.

Kristina näherte sich mit zaghaften Schritten dem großen Kirschbaum. In dessen Schatten lag auf der Wiese eine ausgebreitete Lodendecke, darauf fand eine Ansammlung von Baumzapfen, Steinen, Zweigen, Blättern und Blumen ihren Platz. Hier lebte Kristina ihre Fantasien aus, baute Häuser und Ställe, und erkannte die unterschiedlichsten Tiere in diesen Sammelstücken. Meist spielte sie ganz alleine, aber sie brauchte meine Anwesenheit und Nähe, war voller Stolz, wenn sie mir ein neues Meisterwerk präsentierte.

»Hewu…«

»Das ist Herkules?« Ich war ihr gefolgt. Kristina drückte mir einen großen Zapfen in die Hände. Ich lächelte ihr zu. »Schau, sogar seine Blesse ist vorhanden.« Ich wies auf die hellere Einfärbung des Baumzapfens auf einer Seite.

Mein Mädchen nickte freudig. Ihre Augen erstrahlten mit einem besonderen Glanz, den ich so gerne einfangen und in meiner Erinnerung einschließen wollte. Doch der intensive Braunton zeigte mir tagtäglich, dass ich keinen Moment an Thomas‘ Vaterschaft glaubte. Und ich fragte mich, warum die anderen das nicht sahen?

Seit Thomas‘ Nachricht waren fünf Monate vergangen. Ob sein Versuch, für unsere Liebe einen Weg zu finden, gescheitert war? Ich hatte nichts mehr von ihm gehört, sorgte mich und sehnte mich nach seiner Nähe. Mein kleiner Lichtblick war, dass ich im Juni mit meiner Mündigkeit endlich der Abhängigkeit meiner Eltern entfliehen könnte. Aber wie sollte es dann weitergehen, ohne ihn? Unser Plan war ein gemeinsames Leben, doch Marie hatte uns in der Hand, daran würde auch meine Volljährigkeit nichts ändern.

»Welch herrlicher Frühlingstag«, erklang es Kristina und mir entgegen. Otto von Wolbrand trat heran. »Grüß dich, Sara.«

»Gott zum Gruße.«

»So ist es recht, die Sonnenstunden ausnutzen und genießen.«

»Kristina verbringt gerne ihre Zeit an der frischen Luft.«

»Ein gescheites Kind«, bemerkte Otto und ließ in seiner Stimme keine Zweideutigkeit erkennen.

»Falls Ihr meinen Herrn Vater sucht, der dürfte im Bureau sein.«

»Zu Carl gehe ich etwas später. Vorerst wollte ich tatsächlich zu dir.«

»Zu mir?« Ich war verwirrt.

»Nun.« Otto atmete tief durch. »Wie du weißt, bin ich ein Mensch, der keine vorgefertigten Meinungen vertritt, sondern sich selbst ein Urteil bildet. Ich erhoffe mir deshalb absolute Ehrlichkeit von dir.«

»Natürlich.« Was wollte der Freiherr mit mir bereden? Gab es Probleme mit Vaters Geschäften? Aber deswegen würde er wohl kaum zu mir kommen. »Nichts liegt mir ferner, als irgendwelche Unwahrheiten in die Welt zu setzen.«

»Fein. Dann erzähl mir von dir und Thomas.«

Mir schoss bei seiner Aufforderung die Hitze ins Gesicht. Unsicher blickte ich zur Seite auf Kristina, die unverkennbar vertieft spielte.

»Ich weiß, dass dieses Thema unangenehm für dich ist. Immerhin habt ihr ein heimliches Verhältnis unterhalten.«

»Wenn Ihr von unserer Liebe wisst, verstehe ich nicht ganz, was ich Euch noch offenbaren könnte.«

»Nun gut. Du willst deine Eltern schützen oder besser gesagt, deine Schwester Alma. Dennoch möchte ich die gesamten Umstände von dir persönlich erfahren.«

Er weiß davon! Jedwedes Leugnen oder Schweigen war fehl am Platze. Hatte Marie geplaudert? Was plante er? Würde er meinem Stiefvater die Freundschaft kündigen oder uns öffentlich denunzieren?

Otto wirkte ernst, aber keineswegs ablehnend. Er schaute mich erwartungsvoll an.

»Ja, es stimmt. Kristina ist Almas Kind. Und ich liebe Thomas. Also bitte, sagt mir doch, was ihr von mir wollt.«

»Ich wusste von Thomas‘ Vorliebe für dich und habe ihn sogar darin bestärkt.«

»Oh!«, hauchte ich. Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Weshalb suchtet ihr beide kein klärendes Gespräch mit Carl und Teresa?«

»Mein Stiefvater hat Thomas vom Hof verwiesen und Mutter schämt sich für das Kind. Sie wollte es ihrer Kusine überlassen, um das Baby in ein Gebärhaus zu bringen.«

Kristina türmte neben uns Baumzapfen zu einem Hügel auf.

»Meine Kleine wäre längst tot.«

Bestürzt betrachtete mich der Freiherr.

»Niemals würde ich Kristina zurücklassen. Ich liebe sie wie mein eigenes Kind, egal, mit welchem Makel sie behaftet ist. Sie soll nie das Gefühl haben, unerwünscht zu sein. Deshalb wollten Thomas und ich bis zu meiner Mündigkeit warten, um nicht mehr vom Wohlwollen des Barons oder meiner Mutter abhängig zu sein. Wir dachten daran, das Mädchen zu adoptieren.«

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