Die Ehre meiner Seele

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Z serii: Zweites Buch #2
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»Wir haben eine ganze Nacht und einen Morgen nur für uns«, sprach Thomas.



Ich nickte erfreut. »Danach sehne ich mich seit Ewigkeiten.«



Wir küssten uns. »Kristina schläft.« Ich fühlte mich ganz atemlos. »Wir müssen leise sein.«



Hand in Hand betraten wir den Innenbereich der Hütte. Thomas blickte auf das schlummernde Kind, das den Daumen im Mund verborgen hielt. »Sie ist so entzückend.«



Ich entfachte eine Petroleumlampe und stellte sie am Tisch ab. Der Schein erhellte den Raum. Sollte Kristina erwachen, würde das Licht ihr etwas Angst vor der Dunkelheit und der fremden Umgebung nehmen. Ich verriegelte die Eingangstür, und wandte mich Thomas zu, der dem kleinen Mädchen einen sanften Kuss auf das blonde Haar hauchte.



»Hast du Hunger oder Durst?«, fragte ich.



Thomas drehte sich mir zu. »Mir dürstet nur nach dir. Aber du sollst dich nicht verpflichtet fühlen …«



»…mich dir hinzugeben?« In meinem Bauch breitete sich ein warmes Kribbeln aus. »Hab keine Sorge. Im Moment spüre ich nur ein heißes Verlangen, das ich nicht mehr länger unterdrücken möchte.« Ich trat an ihn heran und wurde von fordernden Küssen in Empfang genommen.



Thomas hob mich hoch, was ich ohne Protest geschehen ließ, und trug mich über die Treppen hinweg in die obere Schlafstätte. Dort stellte er mich vor sich ab. Durch das Dachflächenfenster drang die letzte Helle des Tages herein. Thomas‘ Atem ging schwerer. Ich legte seine Hände auf die Verschnürung meines Gewandes, das er geschickt öffnete. Er schob mir das Kleid über die Schultern, bis es von ganz allein zu Boden glitt. Ohne die Blicke voneinander abzuwenden, öffnete ich sein Hemd. Thomas entfernte seine Hose und als er nackt vor mir stand, zog ich mein Unterhemd über den Kopf.



»Du bist so wunderschön.«



»Du auch«, hauchte ich und es trieb mir die Hitze ins Gesicht, als ich seinen sehnigen Körper betrachtete. Sein Glied ragte stolz empor. Ich schlüpfte schutzsuchend unter die kühlen Laken. Es fehlte mir an Erfahrung, weshalb ich mich eingeschüchtert fühlte. Doch in mir war auch ein drängendes Verlangen, das endlich gestillt werden wollte.



Thomas legte sich an meine Seite und berührte mich sanft. Ich rutschte näher an ihn heran. Seine Hand glitt über den straffen Busen, den Bauch, zu meiner Weiblichkeit und eine süße Qual nahm mich gefangen. Ich ließ ihn gewähren. Kein Traum hatte bisher annähernd diese Intensität vermittelt. Ich wollte ihn endlich spüren, und die Nässe zwischen meinen Beinen bewies mir, dass ich längst dazu bereit war.



»Ich habe etwas zur Verhütung besorgt, ein Kondom.«



»Dann komm endlich zu mir.« Bereitwillig öffnete ich meine Schenkel. Ich wollte endlich zur Frau werden, zu seiner Frau! Thomas‘ Männlichkeit drängte mir entgegen und ich legte die Beine um seine Hüften.



»Sara.« Mein Name klang wie eine zärtliche Liebkosung. »Bist du dir sicher, ich meine …«



Der Penis pochte mir entgegen. Sein Zögern erfüllte mein Herz mit noch größerer Zuneigung. »Ja.« Ich schlang die Arme um seinen Hals und hob mein Becken empor.



»Ich will dich. Nur dich.«



»Ich weiß!« Fordernd zog ich ihn zu mir, und mit einem tiefen Stoß drang Thomas in mich ein. Er hielt kurz inne. Trotz des vernehmbaren Brennens behielt ich meine Umklammerung bei und der Schmerz verwandelte sich in ein süßes Begehren. Wie von selbst fanden die Körper denselben Rhythmus und wir gaben uns einander dem Rausch der Leidenschaft hin.





Ein leises Wimmern drang an mein Ohr. »Kristina!« Ich hastete auf.



»Psst«, ertönte es neben mir.



Es brannte ein kleines Licht und ich entdeckte Thomas mit der Kleinen im Arm. Kristina gähnte.



»Wie schön, du hast sie nach oben geholt.«



Neugierig schaute das Mädchen zwischen uns beiden hin und her. Sie brabbelte, aber es klang noch sehr verschlafen.



»Bestimmt ist sie bald wieder im Land der Träume«, sprach Thomas leise.



»Ihre Augen sind dunkelbraun.«



»Unser kleines Rehäuglein.« Er lächelte.



»Ich meine …«



»Ich weiß, was du sagen willst. Stephans Augen hatten dieselbe Farbe, nicht wahr?«



Ich nickte.



Thomas bettete das Mädchen in die Mitte, über dem Kopf des Kindes führten wir unsere Hände zusammen. Obgleich wir einander lange kannten, war diese unumwundene Intimität neu für uns, und flutete in jede Pore meines Körpers.



»Am liebsten würde ich diesen Moment einfrieren«, sprach ich versonnen.



»Eine schöne Idee, aber ich wäre auch mit einer Wiederholung einverstanden.«



»Das ist machbar, solange die Tage warm und schön sind. Sobald ich über meinen Besitz frei verfügen kann, muss ich mich nicht mehr länger Vaters Diktat fügen, und bin nicht mehr dem Wohlwollen von Mutter ausgesetzt.«



»Am liebsten würde ich dich sofort heiraten und zu einer ehrbaren Frau machen.«



»Ich bin glücklich, dich in diesen wenigen Stunden um mich zu wissen. Aber vor uns liegt noch ein langes Jahr. Ich hoffe, dass uns niemand auf die Schliche kommt.«



»Was ist schon ein Jahr, gegen den Rest des Lebens? Dennoch, vielleicht sollte ich es wagen, auf Carl und Teresa zuzugehen, mit der Bitte, dich offen umwerben zu dürfen. Dann hätte unsere Geheimniskrämerei ein Ende. Sie lassen Alma jegliche Freiheiten. Vielleicht lenken sie ein, wenn sie merken, dass wir uns lieben.«



»Das wäre schön, aber die beiden haben sich so verändert. Carl ist für keine romantischen Gefühlsanwandlungen mehr zugänglich, es zählt nur die Arbeit, hinter der er sich verkriecht. Anteilnahme und Feinsinn scheinen mittlerweile Fremdwörter für ihn zu sein. Und Teresa meidet mich, aber vor allem Kristina. Sicher war sie die treibende Kraft, weshalb du damals nach Ingolstadt gehen musstest.«



»Sie sehen Kristina als Belastung. Demnach würden sie wohl eher erfreut sein, wenn wir uns um die Kleine kümmern.«



»Aber du vergisst: Ich bin nur ihre Tante und außerhalb der Gemäuer dürfte ich mich nicht rechtmäßig um die Kleine kümmern. Niemals wäre ich bereit, sie zurücklassen.«



»Das verstehe ich. Sofern wir im Ehebund leben würden, könnten wir Kristina adoptieren, falls wir das Einverständnis der Eltern erhalten. Dann müssten wir nicht bis zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag warten.«



»Du meinst …?«



»Ach, Sara.« Thomas seufzte. »Ich möchte Nacht für Nacht an deiner Seite weilen, tagsüber in deiner Nähe sein. Die Tage, an denen wir nicht zusammen sind, frage ich mich, wie es dir und Kristina ergehen mag. Da ist die Sehnsucht unermesslich, alles in geordnete Bahnen zu lenken.«



»Ich würde gerne mit dir zusammenleben wie Mann und Frau, eine Familie sein.«



»Denk darüber nach. Vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit, in der wir ausloten könnten, ob der Baron und Teresa mittlerweile aufgeschlossener sind. Dabei bekomme ich einen absurden Gedanken nicht aus meinem Kopf, den ich nicht mehr länger vor dir verheimlichen will.«



»Wovon sprichst du?«



»Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Da es mich selbst erschreckt.«



»Nun sag schon.« Ich setzte mich auf. Kurz blickte ich auf Kristina, die schlummerte.



»Ich frage mich …« Thomas atmete tief durch und setzte erneut an. »Ich frage mich, ob der Baron mein Vater sein könnte?«



Irritiert schaute ich ihn an. »Carl?«



Thomas nickte und richtete sich ebenfalls auf.



»Weshalb denkst du das?«



»Du darfst ihn nie darauf ansprechen.«



»Nein, das tue ich nicht.«



»Ich habe ein Gespräch zwischen Erna und Jonas belauscht, die diesen Verdacht andeuteten. Zwar hat Mutter mir nie den Namen meines Erzeugers genannt, aber ich denke an die ganzen Privilegien, die ich hatte. Warum hat er mich nicht mit der Peitsche vom Hof gejagt, sondern mir eine Stellung bei seinem besten Freund besorgt? Er nahm meine Mutter einst in seine Dienste auf, als er von ihrer Schwangerschaft wusste. Weshalb drängte er Alma und mich nicht in eine Ehe?«, schossen die Fragen im Durcheinander heraus. »Allein beim Gedanken daran, Alma könnte meine Halbschwester sein, wird mir schlecht. Aber was ist, wenn sich Carl deshalb grämt, da er denkt, dass Kristina ein Kind aus einer inzestuösen Verbindung ist?«



»Oh, mein Gott«, hauchte ich. Aber es ergab einen Sinn. Als Magdalena starb, trauerte mein Stiefvater sehr. Er weinte damals. Zumindest hätte ich endlich eine plausible Erklärung dafür, weshalb er Kristina mied.



»Nun habe ich dich entsetzt. Sag mir, dass ich mir meine dummen Gedanken aus dem Kopf schlagen soll.«



»So dumm finde ich diesen Gedanken gar nicht. Ich muss versuchen, Carl darauf anzusprechen. Zumindest sollte er umgehend erfahren, dass wir Stephan für den Vater halten.«



Thomas nahm meine Hand. »Du weißt, wie wichtig du mir bist.«



»Du mir auch.« Wir küssten uns. »Aber wäre nicht auch Otto sehr überrascht, wenn er von uns erfährt? Er denkt sicherlich, du und Marie könntet …« Ich ließ den Satz unvollendet und wendete das Gesicht ab.



»Sieh mich an«, forderte Thomas sanft. Mit dem Zeigefinger langte er unter mein Kinn und drehte meinen Kopf in seine Richtung. »Marie ist nett, doch du bist meine Liebe. Es gab bisher nicht einen Moment, wo ich ihr zugetan war und es wird keinen geben. Bitte, vertrau mir. Ich habe dir damals sehr wehgetan, als Alma und ich eine Nacht miteinander verbrachten. Das tut mir leid.«



»Ich hab dir diese Nacht längst verziehen«, wisperte ich rau. »Wir waren auch kein Liebespaar.«



»Dennoch fragst du dich, was ich empfunden habe.«



Ich starrte an Thomas vorbei auf die Lampe und fühlte mich sonderbar verletzlich. Über all die Zeit hatte ich dieses frühere Stelldichein erfolgreich ausgeblendet, aber nun drang wieder das Bild von Alma in ihrem Unterkleid empor.

 



»Entschuldige, ich quäle dich.«



Ich schüttelte den Kopf, obwohl meine Tränen im Gesicht die Abwehrbewegung als Lüge enttarnten. Thomas kletterte über das schlafende Kind hinweg und zog mich in seine Arme. Er strich über mein braunes Haar. »Bei keiner anderen Frau spürte ich jemals nur den Ansatz dieser Intensität und Verbindung. In dir habe ich den Menschen gefunden, der meiner Seele das Fliegen lehrt.« Er verteilte auf meiner nassen Tränenspur heiße Küsse.



»Ich liebe dich«, hauchte ich und drängte zu ihm hin.



»Keine konnte je eine solche Glut in mir entfachen.« Er glitt nach hinten, sodass ich obenauf zu liegen kam. Ich schmiegte mich an seine Brust. Zwischen meinen Beinen spürte ich sein hartes Glied. »Ich will mit dir verschmelzen«, raunte ich in sein Ohr und stöhnte lustvoll auf, als ich ihn in mir aufnahm.





Melancholie





Juni 1903



Carl saß in seinem Bureau. In seinen Händen hielt er einige Zettel. Er blinzelte, starrte die Zahlen an, die vor seinen Augen verschwammen. Stöhnend griff er sich an die Schläfen. Seine Konzentration wurde zusehends schlechter. Nachts schlief er kaum und am Tag fehlte ihm die Kraft. Morgens wollte er in seiner Liegestätte bleiben, aber irgendwie hatte er es bisher immer aus dem Bett geschafft.



Es klopfte. Erschrocken zuckte er zusammen. »Ja bitte?«



Die Tür schwang auf.



»Doktor Huber? Was führt Euch zu mir? Ich habe Euch nicht gerufen.«



»Ich will gar nicht lange herumreden. Eure Frau ist sehr besorgt und schickt mich.« Der Arzt trat heran, und die beiden begrüßten sich mit einem Handschlag.



»Weshalb?«



»Nun, sie meinte, dass Ihr in letzter Zeit sehr ruhig und bekümmert wirkt. Sie bat mich deshalb, Euch zu untersuchen.«



»Das ist nicht nötig. Mir geht es gut.«



»Ich sehe Schatten unter Euren Augen, demnach dürftet Ihr schlecht schlafen. Plagen Euch schwere Gedanken?«



Carl blickte den Arzt geradewegs an. »Ihr könnt mir auch nicht helfen.«



»Zudem scheint Ihr etwas an Gewicht verloren zu haben. Probleme mit dem Magen oder habt Ihr Schmerzen?«



Der Baron schüttelte den Kopf. »Eure Hartnäckigkeit ehrt Euch. Nicht umsonst seid Ihr seit Jahren der Arzt unseres Vertrauens. Aber wie gesagt, mir kann niemand helfen.«



»Vielleicht sollte ich Euch dennoch etwas Pflanzliches dalassen, damit Eure Energie wiederkommt. Ich habe eine Johanniskraut-Tinktur.« Der Arzt kramte in seiner Tasche und stellte schließlich ein Fläschchen auf den Tisch. »Dreimal täglich, zehn Tropfen.«



»Hat Euch Teresa gebeten, mir diese Arznei unterzuschieben?«



»Wie gesagt, es ist rein pflanzlich. Ob Ihr es einnehmt, kann ich nicht kontrollieren. Aber ich rate Euch dazu.«



Carl seufzte. »Nun gut. Ihr gebt ohnehin nicht eher Ruh.«



»Wenn ich irgendetwas für Euch tun kann, lasst es mich wissen.«



Carl schüttelte abwehrend den Kopf.



»Nun will ich gar nicht mehr länger stören. Auf Wiedersehen.« Doktor Huber zog sich zurück.



Draußen im Flur wartete bereits Teresa. Sie eilte auf den Mediziner zu. »Sagt schon, was denkt Ihr?«, flüsterte sie, damit ihr Mann den Gesprächswechsel nicht mitbekam.



Die beiden entfernten sich ein paar Meter vom Schreibkabinett des Barons.



»Euer Gemahl wirkt sehr antriebslos«, offenbarte der Arzt.



»Das heißt?«



»Der Tonfall seiner Stimme gefällt mir gar nicht. Jeder Satz aus seinem Mund klingt, als wäre es eine immense Last zu sprechen.«



»Was hat er?«



»Ich denke, er leidet unter einer tiefen Melancholie.«



»Oh, mein Gott! Kann ich irgendwie helfen?«



»Das ist schwierig. Ich habe Carl vorerst eine Johanniskraut-Tinktur dagelassen. Ich hoffe, dass er sie einnimmt. Sollte sich sein Zustand nicht verbessern oder sogar verschlechtern, kontaktiert mich bitte umgehend. Im Augenblick denkt er, dass ihm nicht zu helfen ist.«



»Aber es wird doch wieder besser?«



»Das kann ich nicht versprechen.«



Teresa kämpfte mit den Tränen. »Ich danke Euch, für Eure Mühen.«



»Das ist selbstverständlich.«



Doktor Huber verabschiedete sich, und Teresa blieb entsetzt im Gang stehen. Wann hatte sich Carl derart verändert? Sie kannte die Antwort. Es begann damit, als er von Almas Schwangerschaft erfahren hatte. Sie vermisste sein fröhliches Lachen, das früher durch die alten Gemäuer schallte sowie die liebevollen Blicke und Berührungen. Carl hatte sie nicht nur aus dem gemeinsamen Schlafgemach verstoßen, sondern aus seinem Leben. Am Tag verbarrikadierte er sich in seinem Arbeitszimmer. Dabei wusste sie längst, dass er die Geschäfte ungenügend führte. Aber sie wagte es nicht, ihn darauf anzusprechen. Sie hatte ohnehin keinen Zugang mehr zu ihm.





Teresa wirkte sichtlich gequält. »Mutter? Was machst du da? Du bist ganz blass. Hast du geweint?«, sprach ich sie an.



»Sara. Doktor Huber war soeben da?«



»Wegen Vater?«



»Ja.«



»Was sagt er?«



»Er redete von Melancholie. Ich weiß, ich sollte zu Carl hineingehen, aber ich schaffe es nicht. Er würde mich wohl umgehend aus dem Raum werfen. Aber das Schlimme ist, dass Vaters Geschäfte im Moment desaströs laufen. Wenn er nicht alle Partner vergraulen will, muss er diese abgeben.«



»So schlimm ist es? Vielleicht könnte ich mit ihm reden.«



»Das würdest du tun?«



Ich nickte.



»Nun gut. Ich habe schon mit Otto gesprochen. Er wäre bereit, einen Großteil zu übernehmen, oder er würde diese an Thomas delegieren. Wir können nicht mehr länger zusehen, sonst werden die Verluste zu groß. Natürlich haben wir noch genügend Reserven, Geldwerte und müssen längst nicht am Hungertuch nagen. Aber es duldet keinen Aufschub. Nur ich … ich finde nicht die Kraft, das Carl zu sagen. Ich habe Angst, dass ich ihm damit seine letzte Freude nehme und er sich noch tiefer in seinem Kummer vergräbt.«



Ich trat heran und legte Mutter meine Hand auf die Schulter. »Ich werde es versuchen.«



»Danke«, hauchte Teresa. Sie zog mich kurz in ihre Arme.



Ihre Sorgen um Vater waren tatsächlich groß, wenn sie sich zu dieser Gefühlsbekundung hinreißen ließ. Ich löste mich von ihr, atmete tief durch und klopfte an die dunkle Eichentür.





»Was ist denn heute los?«, erklang es aus Vaters Bureau.



»Falls der Zeitpunkt ungünstig ist, komme ich ein anderes Mal wieder.« Ich spähte hinein.



»Nein. Sara. Du bist jederzeit willkommen.«



»Eigentlich wollte ich Euch zu einem kurzen Spaziergang überreden. Kristina schläft und das Wetter ist herrlich.«



Kurz huschte Vaters Blick zum Fenster. »Hinaus?«



»Ja. Die Damaszener-Rosen sind aufgeblüht und verströmen ihren schweren Duft. Ich liebe dieses Aroma so sehr. Es erinnert mich an Magdalena.«



»Magdalena?«



»Ich vermisse sie zu dieser Jahreszeit am meisten. Wisst Ihr noch, wie sie die Blüten erntete? So gerne schaute ich ihr zu, wenn sie die verschiedenen Öle ansetzte, oder Seifen machte.«



»Du darfst den Rosenzucker nicht vergessen.«



»Stimmt. Also, begleitet Ihr mich? Nur ein paar Schritte?«



»Ein paar Schritte«, wiederholte er. Sein Stuhl knarzte über den Boden. Mein Stiefvater hakte sich bei mir unter.



Als wir die kühlen Gemäuer hinter uns ließen, schlug uns der warme Frühlingsduft entgegen, gefüllt mit all den Aromen der aufgeblühten Pracht ringsum. Carl kniff die Augen unnatürlich zusammen. Schon viel zu lange hatte er sich in seinen Räumlichkeiten eingeschlossen. Wir gingen durch den Garten. Manche Rosenbüsche überragten ihn. Bienen surrten und Schmetterlinge flatterten an uns vorüber. Mein Stiefvater blieb stehen und pflückte vorsichtig eine Blüte, hielt diese an die Nase und sog tief den Duft ein. »Magdalena«, hauchte er leise.



Ich entgegnete nichts, sondern beobachtete ihn. Sein Blick war traurig. Er wirkte alt und gebrechlich.



Carl wandte sich mir zu. »Du bedauerst mich, nicht wahr? Ich frage mich, was für einen Sinn das Leben hat? Manchmal möchte ich Magdalena folgen. Dann würde ich keine Lasten mehr verspüren, keine Qualen mehr …«



»Falls Kristina eine Last für Euch ist, empfinde ich das anders. Ich liebe das Mädchen, vielleicht wegen ihrer Besonderheit umso mehr.«



»Kristina kann nichts dafür.«



»Stimmt. Übrigens, habt Ihr Euch nie Gedanken darüber gemacht, weshalb das Mädchen bereits im Januar geboren wurde und nicht im März, sowie es anberaumt war?«



Irritiert schaute Carl mich an. »Was willst du damit sagen?«



»Ich bin mir sicher, dass es zwischen Alma und Thomas keine Nacht zuvor gab. Demnach ist Thomas nicht der Vater.«



»Nein? Wer dann? Stephan? Hat dir das Alma gestanden?«



»Nein, ich weiß es von Thomas. Ich glaube ihm. Außerdem wäre laut der Hebamme die Kleine sonst nicht lebensfähig gewesen.«



Carl wirkte erstaunt. Ein paar Sekunden sagte er nichts. »Dann weißt du davon länger.«



»Ja. Ich hätte es Euch früher beichten sollen, aber für mich spielt es keine Rolle, wer der Erzeuger ist.«



»Wieso sagst du mir das jetzt?«



»Da sich die Umstände geändert haben. Meine Sorge, Euer Gram könnte mit Thomas‘ vermeintlicher Vaterschaft zusammenhängen, wurde stetig größer. Deshalb wollte ich nicht länger schweigen. Bitte, verzeihen Sie mir.«



Mein Stiefvater schritt den schmalen Gehweg zwischen den Rosensträuchern hindurch. Ich folgte ihm. Er ließ sich auf der Bank nieder und blickte Richtung Wasserlauf.



»Darf ich mich zu Euch setzen?«



»Natürlich, du musst nicht fragen.«



»Bitte, seid mir nicht böse.«



»Warum sollte ich?« Er nahm meine Hand in seine. »Deine Beichte erleichtert mich. Auf der einen Seite, mehr als du vielleicht denkst. Aber auf der anderen hat mein eigenes Kind bis jetzt geschwiegen. Weiß Teresa darüber Bescheid?«



»Das kann ich nicht beantworten. Bisher suchte ich weder mit Alma noch mit Mutter das Gespräch.«



»Ich habe versagt, als Vater und Ehemann.«



»Das stimmt nicht.« Ich spürte das Zittern seiner Hand. »Ich hätte mir niemals einen anderen Vater als Euch gewünscht.«



Carl seufzte. Er zog den Arm zurück. »Ich bin zu nichts mehr nutze.«



»Vielleicht könnte Otto Euch unterstützen? Er ist Euer Freund.«



»Du denkst an meine Geschäfte.« Carl strich nachdenklich über den Schnauzer. »Ich weiß nicht, er hat selbst genügend um die Ohren, ist beim Militär an vorderster Stelle.«



»Bitte, Herr Vater, lasst Euch ein wenig helfen.«



Er blickte mich aus glanzlosen Augen an. »Du bist ein gutes Kind. Aber lass mich nun alleine.«



»Selbstverständlich.« Ich erhob mich. Auf halber Strecke wandte ich mich noch einmal um. Mein Stiefvater saß starr auf der Bank. Ich hatte gehofft, dass ihm meine Offenbarung mehr erleichtern würde. Ob er tatsächlich Thomas‘ Vater war? Ich schloss es nicht aus. Eigentlich wollte ich bei ihm und Mutter vorsichtig ausloten, wie sie mittlerweile Thomas gegenüberstehen. Aber beide konnte ich im Augenblick nicht selbstsüchtig mit meinen Wünschen behelligen. Betrübt schlich ich ins Schloss.





*





August 1903



Missmutig schritt Marie in ihrer Kammer auf und ab. Sie hatte bereits ihr Reisekleid angelegt, das aus einem dünnen Baumwollstoff in den Farben Blau und Braun bestand, und ihre Füße steckten in festen Lederschuhen. Neugierig schaute sie zum Fenster hinaus und wartete darauf, bis Thomas heute das Anwesen verlassen würde. Seit den Sommermonaten war er jeden Sonntag außer Haus, blieb sogar über Nacht weg. Dahinter steckte offensichtlich ein Weib, denn er traf erst Montag in den Mittagsstunden bei ihnen ein. Marie ahnte, dass es sich um Sara handeln könnte. Heftiger Groll stieg bei diesem Gedanken auf, und sie wollte sich selbst von ihrem Verdacht überzeugen.



Die Tochter von Wolbrand bemerkte eine Bewegung. Sie duckte sich rasch hinter dem Fenster ab. Thomas ritt im schnellen Trab vorbei. Sogleich setzte sie ihren flachen, beigen Hut auf den Kopf, und eilte aus dem Gebäude.





Marie kannte aufgrund der gegenseitig familiären Beziehungen die Gepflogenheiten der Familie Königshofer von Eichstätt. Während der Kutschfahrt hatte sie sich den Kopf zermartert, wo Thomas und Sara sich auf ein geheimes Stelldichein treffen könnten. Schließlich schoss ihr nur eine Örtlichkeit in den Sinn: Saras Hütte. Diese lag abgeschieden und bot Sicherheit vor neugierigen Blicken. Marie erinnerte sich an einen gemeinsamen Ausflug der beiden Familien. Doch ihre Mutter Helene empfand den Marsch als anstrengend, so gab es keine Wiederholung.

 



Marie ließ sich am Beginn des Waldweges absetzen, der zu Saras Besitz führte. Sie wies den Kutscher an, in drei Stunden sie hier wieder abzuholen. Statt den herkömmlichen Pfad zu benutzen, wanderte sie per Fuß durch das Gehölz. In der Nähe der Lichtung wurde Marie achtsamer. Sie lugte durchs Laubwerk, entdeckte zwei Rosse, und erkannte ganz klar jenes von Thomas und Saras Herkules. Vorsichtig wagte sie sich weiter nach vorn und spähte hinter dem Stamm einer alten Fichte zu dem kleinen Häuschen.



Plötzlich trat Sara mit einem Krug in der Hand heraus. Sie ließ im Holzbrunnen frisches Wasser ein, als sich von hinten Thomas anschlich und ihr einen Kuss auf den Nacken drückte. Sara lachte auf, spritzte frech das kühle Nass in Thomas‘ Richtung. Der Krug versank unbeachtet im gesammelten Wasser des Troges.



»Na, warte!«, rief er, als Sara vor ihm flüchten wollte. Rasch hatte er sie eingeholt, umfing sie mit seinen starken Armen und beide fielen ins weiche Gras. Aus der kleinen Rangelei wurden rasch leidenschaftliche Küsse, die selbst Marie die Hitze ins Gesicht trieben. Entsetzt presste sie ihre Faust in den Mund, um keinen verräterischen Schrei zu entlassen. Empört sah sie zu, wie Thomas Saras Brüste freilegte und genussvoll daran saugte.



Marie wich zurück in den Schatten. Ihre Augen wurden noch größer, als Thomas am helllichten Tage mit dem Kopf unter Saras Kleid verschwand. Ein lustvolles Stöhnen drang bis an ihre Ohren, das sich nach einer Weile in einem spitzen Schrei entlud.



Maries Herz klopfte hart. Hass quoll in ihr hoch. Ihre Hände waren geballt und die Fingernägel gruben sich hart in ihr eigenes Fleisch. Diese Liederlichkeit der Freundin hatte sie nicht erwartet. Aber es offenbarte sich ihr, mit welchen Mitteln Sara Thomas an sich band.



Noch ging das Techtelmechtel der beiden offensichtlich nicht zu Ende. Doch keinen Moment länger ertrug Marie das Treiben. Sie verschwand in den Tiefen des Waldes. Dabei fasste sie den Entschluss, diese Verbindung ein für alle Mal zu zerstören.

Thomas wird mir gehören!







Heimtücke oder Hoffnung





September 1903



Erna hatte Damenbesuch für mich angekündigt. Als ich in den Weißen Salon eintrat, erblickte ich meine Freundin. »Marie, welche Freude, dich zu sehen!«, rief ich überrascht. »Unser letztes Treffen ist Ewigkeiten her.«



»Das stimmt.« Marie lächelte mir zu. »Ist das Mädchen heute nicht an deiner Seite?«



»Kristina schläft. Nimm bitte wieder Platz und entschuldige, dass du etwas warten musstest. Wie ich sehe, wurden wir schon mit Tee und Gebäck versorgt.«



»Anna war so nett, eine Kleinigkeit aufzutragen. Auf eure Bedienstete ist wirklich Verlass.«



Ich setzte mich ihr gegenüber auf den Stuhl. »Sag, was führt dich zu mir?«



»Da du seit geraumer Zeit den gängigen Kaffeekränzchen ferngeblieben bist, wollte ich einfach einen schönen Nachmittag mit dir verbringen, um etwas mit dir zu plauschen. Wie geht es deiner Ziehtochter? Bestimmt hast du kaum eine freie Minute.«



Irgendwie wirkte Marie keineswegs so wohlgesonnen, wie ihre Worte es den Anschein erwecken sollten. Sie hatte einen sonderbaren Unterton in der Stimme. Ihr Blick wirkte hart und unnahbar.



»Es stimmt, ich bin mit der Pflege von Kristina sehr ausgefüllt, dass ich darüber hinaus für andere Dinge keine Zeit finde.«



»Ach? Meines Wissens gibst du dich durchaus einigen Zerstreuungen hin.«



»Wovon sprichst du?« Ich hatte mich nicht getäuscht. Marie wirkte eifersüchtig und aufgebracht. Aber was führte sie im Schilde?



»Du unternimmst doch regelmäßig Ausflüge, zu deiner – so geliebten – Hütte.«



Sie weiß von Thomas und mir! Von unserer Rückzugsstätte!

 »Könntest du bitte freiheraus sagen, was du von mir willst.«



»Hast du tatsächlich keine Ahnung oder stellst du dich absichtlich dumm?« Mein Gegenüber visierte mich boshaft an. »Ich weiß von eurem heimlichen Stelldichein. Deine Liederlichkeit erschreckt mich aufs Maßloseste und ich frage mich, wie der Baron diesen Sittenverfall in seinem Hause dulden kann.«



Ich schluckte. »Dann bist du uns gefolgt?«



»Offensichtlich.«



»Und? Was willst du nun mit diesem Wissen tun? Thomas wird kaum Gefühle für dich entdecken, wenn du mich angreifst und bloßstellst.«



Marie lächelte anmaßend. »Nein, ich werde ihn trösten, denn du wirst dich künftig von ihm fernhalten.«



»Wir lieben uns!«



»Pah!«, begehrte sie auf. »Du bringst nur sein Blut mit deinen Reizen in Wallung. Womöglich fühlt er sich dir gegenüber schuldig, da das Balg sein Kind ist, für das du so selbstlos die Fürsorge übernommen hast«, sprach sie verächtlich weiter.



Verdattert schaute ich Marie an. »Woher?«, stieß ich atemlos aus.



»Manchmal gelangt ein Brief in die falschen oder in diesem Fall, in die richtigen Hände.«



»Ich habe in keinem Satz erwähnt, dass Thomas der Vater ist.«



»Denkst du, ich bin blöd? Warum hätte er sonst euer Anwesen verlassen müssen. Alma ist die Mutter. Teresa und Carl haben diese Elternschaft nur inszeniert. Solltest du dich noch einmal Thomas nähern, werde ich nicht nur dich verunglimpfen, sondern das Ansehen deiner gesamten Familie ruinieren.«



Mir fehlten Worte.



»Thomas wird mein sein!« Nun stand Marie auf. »Was soll er auch mit einer Hure!«



»Sag das nie wieder!« Ich stürzte vor und schlug ihr ins Gesicht. Maries Brille verrutschte. Bestürzt über meine Gewaltanwendung schreckte ich zurück. Marie legte kurz ihre Hand auf die malträtierte Wangenseite und blickte mich hasserfüllt an. Langsam rückte sie den Sehbehelf zurecht. Sie ließ den Arm sinken und ich erkannte die Abdrücke meiner Finger auf ihrer Wange.



»Du bist eine Hure und bleibst eine, davon zeugt dein Benehmen. Mit so einer wie dir können anständige Mädchen nicht befreundet sein, ohne sich selbst zu beschmutzen. Thomas dagegen ist ein junger Mann, jeder versteht, dass er erst seine Hörner abstoßen muss. Aber zu mehr taugst du nicht. Und jetzt werde ich gehen, um Thomas einzuweihen, was mit dir und deiner Familie geschieht, wenn er noch einmal deine Nähe sucht. In Bälde wirst du unsere Verlobungsanzeige lesen.«



»Er würde dich nie nehmen, wenn du ihm deine Boshaftigkeit offenbarst. Eher würde er nach Amerika flüchten, wenn er auch sein Kind nicht mehr sehen darf. Willst du dieses Risiko eingehen?«



Marie hielt inne. Es arbeitete sichtlich in ihr. Sie schnaufte laut und wirkte weniger überheblich.



»Ich bitte dich um ein letztes Gespräch mit Thomas. Dann trenne ich mich von ihm. Du weißt, dass ich mein Glück nicht egoistisch verfolgen kann, wenn du im Gegenzug meine Familie diskreditierst.«



Maries Augen verengten sich. »Ich traue dir nicht.«



»Du hast mich in der Hand. Marie, ich flehe dich an. Ein paar letzte Worte und ich gebe ihn frei.« Mein Herz raste.



Sie trat auf mich zu und schaute mir geradewegs an. »Wann ist euer nächstes Treffen?«



»Am Sonntag nach dem Kirchgang, an der Nordseite unseres Anwesens.«



»Ach, dieses Mal nicht das lauschige Plätzchen in völliger Abgeschiedenheit?«, spottete sie.



»Nein. Thomas und dein Herr Vater gehen noch am selben Tag auf die Jagd.«



»Nun gut. Ich gewähre ein letztes Treffen, aber ich versichere dir, dass ich in der Nähe bin und alles verfolgen werde. Solltest du mich zum Narren halten, zögere ich keinen Augenblick und werde euch in aller Öffentlichkeit entehren.«



Ich nickte. Ohne ein Wort des Abschieds stolzierte Marie aus dem Salon. Zitternd sank ich auf den Stuhl. Ich konnte die Tränen nicht länger zurückdrängen. Nun war alles vorbei … Niemals hätte ich erwartet, dass Marie derart bösartig sein könnte. Sie war stets ruhig und höflich. Aber sie sah Thomas als ihren Besitz an, und scheute weder davor zurück, mein Leben zu zerstören, sondern schlimmer noch, sie wollte meine gesamte Familie in den Abgrund reißen. Fassungslos schluchzte ich in meine Hände.





Kristina befand sich in der Obhut von Erna, denn das heutige Treffen mit Thomas würde mich meine gesamte Kraft kosten. Ich s