Die Ehre meiner Seele

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Z serii: Erstes Buch #1
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Thomas betrachtete den Mann mit der breiten Hemdkrause, die den Hals völlig verbarg. »Sprach unser Lehrer nicht letztens im Geschichtsunterricht davon, dass Waldemar den jungen Maximilian I., den späteren Herzog von Bayern, unterrichtet hatte, und ebenso die Ausbildung der Kinder vom Kaiser Ferdinand II. übernahm?«







»Stimmt. Herr Wagner wäre erfreut über dein Wissen!«







Alma gähnte und setzte sich gelangweilt auf den Boden.







»Das denke ich weniger«, widersprach Thomas. »Immerhin meint er stets, ich hätte einen schlechten Einfluss auf euch. Er wäre höchstens erfreut, wenn er mich nicht länger zu unterrichten bräuchte!«







»Ich bin froh, dass du dabei bist. Vater hatte absolut recht.«







»Womit?«







»Nun, du lernst rasch, bist neugierig! Es wäre eine Schande, deine Talente nicht zu fördern. So in der Art hat er es gesagt.«







»Ehrlich?«







»Jetzt sei nicht so erstaunt! Aber genug der Familiengeschichten.« Sara verdrehte die Augen. »Vater hat uns schon damit gequält, als Alma und ich nicht einmal gehen konnten. Er trug uns von einem Bild zum anderen.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.







»Dann war eine Flucht unmöglich.«







Das Mädchen schnitt ihm eine Grimasse, nur seine Augen blitzten vergnügt. »Komm, bald beginnt unser Unterricht.« Sara stupste ihre Schwester an.







»Ich will spielen«, quengelte Alma.







»Jetzt nicht. Aber wenn du dich ruhig verhältst, darfst du sicher wieder bei uns im Lehrzimmer bleiben und zugucken.« Sara reichte ihr die Hand und zog die Schwester hoch. Sie beeilten sich, um in den Studierraum zu kommen, in dem auch die musikalische Ausbildung erfolgte.







»Wir hätten noch etwas Zeit gehabt.« Thomas positionierte sich am Fenster.







»Besser wir sind zu früh«, erwiderte Sara bestimmt.







Obwohl er noch gerne die Gemälde eingehender betrachtet hätte, genoss Thomas die wundervolle Aussicht. Da das Schloss auf einer Anhöhe stand, konnte er das gesamte Tal überblicken. Plötzlich ertönte hinter ihm Musik. Augenblicklich drehte er sich um und erblickte Sara an der Harfe. Ihre zarten Fingerkuppen glitten hingebungsvoll über die Saiten.







»Gefällt es dir?« Fragend schaute sie ihn an.







Thomas nickte, horchte versonnen ihrem Spiel und bald erklangen hinzu die hellen Stimmen der beiden Schwestern …







»Wo ist nur die Zeit geblieben?« Thomas erschrak selbst vor der Lautstärke seiner Stimme.



»Was ist?«, rief der Kutscher. Er saß auf seinem Bock, bekleidet mit einem dunklen

Loden

mantel und einem hohen Hut.



»Ach, nichts«, winkte Thomas ab und kraulte den sanftmütigen Haflinger, den er am Halfter hielt. Er erinnerte sich, wie er manchmal im Garten unter dem geöffneten Fenster gestanden hatte, um der Melodie des Spiels und den gesungenen Liedern zu lauschen.



Thomas folgte mit den Augen dem Weg, der über die Brücke direkt am Bootshaus vorbeiführte. Dort am Steg waren Sara, Alma und er einst als Kinder gesessen, hatten ihre Füße ins kühle Nass baumeln lassen oder eine Bootsfahrt auf dem Wasserlauf unternommen. Mit ihnen konnte er lachen und ausgelassen sein, doch die unbekümmerte Kindheit war längst vorbei.



Er blickte zu den hufeisenförmig angeordneten Nebengebäuden: Pferdeställe, Schmiede, eine Gärtnerei und die Unterkünfte des Gesindes. In einer der Wohnungen lag sein bescheidenes Quartier.



Inzwischen waren die Geschwister zu wunderschönen, jungen Frauen herangewachsen.

Wie gerne wäre ich an Stephans Stelle und würde für eine der Schwestern als Kavalier auftreten.

Doch die Konventionen untersagten diese Möglichkeit. Schonungslos führte ihn die überschwängliche Pracht des Schlosses den Standesunterschied vor Augen. Die Faszination, die er als Knabe empfunden hatte, wenn er an das Gebäude mit den dicken Wänden, den hohen Decken und der feudalen Ausstattung dachte, war einer tiefen Wehmut gewichen.



Der dreigeschossige Bau war im fünfzehnten Jahrhundert errichtet und mit roten Ziegeln eingedeckt worden. In der Mitte lag ein schmaler

Risalit

. Dieser vorspringende Teil zog sich vom Erdgeschoss bis zum Dach hinauf.



Innen im Eingangsbereich erstreckte sich roter

Vånga-Gneis

 über den gesamten Fußboden. Die Haupttreppe war aus

Kaiserstein

 gefertigt und teilte das Gebäude in zwei symmetrische Flügel, die nach Osten und Westen zeigten. In den Trakten gab es jeweils eine Wendeltreppe, deren Zugänge sich hinter dunklen Türen verbargen. Im untersten Stockwerk lagen an beiden Seiten je eine Dienerstube, Waschzimmer, Küche sowie Lagerräume für Brennholz und Nahrungsmittel.



Der gesamte Besitz umfasste über tausend Morgen Land. Der Rosengarten und das umliegende Areal luden zum Verweilen oder zu Spaziergängen ein. Auf den Wiesen wuchs saftiges Gras und auf den Äckern reifte im Sommer Getreide heran, das eine Nahrungsquelle für Mensch und Vieh gleichermaßen darstellte. Die Bäume im Forst fanden Verwendung bei der Papierherstellung.



Als Stallmeister trug Thomas die Aufsicht über die Rosse. Die Haflinger kamen als Kutschen- und Arbeitstiere zum Einsatz. Als Reitpferde wurden Don-Stuten mit edlen Araberhengsten gekreuzt. Thomas‘ Leben war keineswegs herrschaftlich, sondern bestand aus harter, körperlicher Arbeit. So sehr er sich als Kind gesträubt hatte, die Bekanntschaft mit dem Wasser zu machen, umso mehr sehnte er sich als erwachsener Mann nach sauberer, ansehnlicher Kleidung.



Thomas blickte an sich hinab. Es war ihm, als würde sein Gewand ihn verspotten und davon zeugen, dass er sich nicht im Mindesten mit den maßgeschneiderten Anzügen von Stephan oder den anderen Adligen messen konnte. Auch wenn er bedeutend bessere Kleidung trug als der Großteil des Gesindes.



Der Haflinger tänzelte und Thomas fasste ihn etwas kürzer. »Scht …« Er strich über den prachtvollen Kopf des Tieres und versuchte, nicht nur das Ross zu beschwichtigen, sondern sich selbst. Eine vertraute Wärme durchdrang seine Handflächen. Er starrte auf den geschlossenen, hölzernen Einlass, der mit Abbildungen von Pferden und dem Familienwappen verziert war und wartete darauf, dass sich die dunkle Tür endlich öffnen würde.







Meine Einladung zum Tanz







»Sara Böhmer«, las ich meinen Namen auf der Karte. Ich strich mit den Fingerspitzen über das feine Papier. Stephans Einladung zum Tanz erfüllte mich mit einer sanften Erregung. Es konnte nur mehr Minuten dauern, bis er mich abholen würde. Wartend ging ich in meiner Stube auf und ab. Unter mir knarrten die alten Dielenböden, die an manchen Stellen etwas nachfederten.



Alles, was Rang und Namen hatte, würde sich auf diesem Ball einfinden. Mein Stiefvater Carl freute sich vor allem auf die Gespräche mit dem Prinzregenten Luitpold. Erst vor Kurzem waren die beiden zu einem Jagdausflug unterwegs gewesen. Ich erinnerte mich, wie unser Regent vor der Tür gestanden hatte. In seiner Kleidung wirkte er wie ein einfacher Mann. Er trug eine kurze Lederhose und dazu einen abgewetzten Janker. Seine Augen leuchteten in ungewöhnlicher Lebendigkeit aus dem von weißem Haar umrahmten, wettergebräunten Gesicht. Nur sein Gamsbart auf dem Hut hob sich von dem schlichten Erscheinungsbild ab. Ich war mir sicher, dass dieser einer selbstgeschossenen Trophäe entstammte, denn Luitpold war ein ausgezeichneter Schütze.



Sicherlich hoffte mein Stiefvater auf eine Gegeneinladung, vielleicht ins Allgäuer Land, wo es nicht nur schöne Jagdgebiete, sondern auch einen besonders aromatischen Käse gab. Meist brachten solche Zusammenkünfte außerdem einen positiven Geschäftsabschluss mit sich.



Doch die Kluft zwischen Arm und Reich blieb deutlich spürbar. Es verwunderte mich nicht, dass neuerlich Bedienstete erwogen, ihr Glück in Amerika zu suchen, da die Überfahrt auf einem Schiff mittlerweile erschwinglich war.



Ich seufzte. Diese Nöte streiften mich nur am Rande. Ich kannte weder Hunger noch Frieren, besaß genügend Kleidung und musste nicht hart für meinen Lebensunterhalt schuften. In meiner Stube war es stets warm und heimelig. Ich schritt zum Spiegel der Frisierkommode und überprüfte mein Aussehen. Dank unser Zofe Anna trug ich eine akkurate Hochsteckfrisur, die mit Kämmen fixiert worden war. Als Schmuck wählte ich ein Smaragd-Collier, zu dem ich ein passendes Armband und Ohrringe angelegt hatte. Mein Gesicht war gepudert, die Lippen rot bemalt und ein lilafarbenes Ballkleid aus exquisiter Seide mit kleinen Puffärmeln umschmeichelte meinen Körper. Darunter verbarg sich ein Mieder, so eng geschnürt, dass es mir fast den Atem raubte. Aber, wie ich zufrieden feststellte, formte es meine schlanke Gestalt an den richtigen Stellen weiblich, was dem gegenwärtigen Zeitgeschmack entsprach. Der Busen hob sich deutlich ab und das Korsett zauberte mir eine schmale Taille. Ich strich flüchtig über die dezente, cremefarbene Spitzenborte am Dekolleté.



Mein Blick wanderte weiter über das Interieur. In der äußeren Ecke befand sich ein freistehender Ofen, dessen weiße Kacheln schüsselartig wirkten und als Motive Lorbeerkränze zeigten. Das abschließende gerade Gesimse wies güldene Verzierungen in Form von Blattwerkgirlanden auf. Ich schritt heran, streckte die Hände aus, ließ die Finger über die feinen Erhebungen gleiten und hoffte, dass mein Galan bald eintreffen würde.





Es klopfte an der Tür.



»Ja, bitte?«



Erna trat ein. Trotz ihres Alters stellten die vielen Stufen im Schloss kein Hindernis für sie dar. Ich blickte in ihr faltiges Gesicht. Unter der Haube lugte ein Teil des grauen Haupthaars hervor. Erna war einst eine Küchenmagd, doch seit dem Tode der vormaligen Hofmeisterin Magdalena übertrug mein Stiefvater ihr diese Aufgabe. Sie bewohnte mit ihrem Mann Jonas die Dienstbotenkammer im Erdgeschoss.

 



»Entschuldigt die Störung, Baronesse Sara. Herr Stephan Krüger ist soeben eingetroffen.«



»Fein.« Ich lächelte der Hofmeisterin dankend zu. »Bitte, teil ihm mit, dass er bald mit mir rechnen darf.«



Erna nickte und zog sich zurück.



Rasch legte ich mir einen Chinchilla-Pelz um und streifte die langen Handschuhe über. Ich ging die steinerne Haupttreppe hinunter. Der blaue Teppich dämpfte meine Schritte. Da ich nicht allzu hastig wirken wollte, hielt ich mich aufrecht und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, begleitet vom leisen Rascheln des Rockes.





»Bis zur letzten Sekunde hatte ich gehofft, meine Schwester würde mich zum Narren halten. Aber wie ich sehe …«



»Alma, so lass dir erklären«, fiel Stephan ihr ins Wort.



»Was willst du mir erklären? Seit Wochen meidest du mich! Unsere Zusammenkunft scheint für dich bedeutungslos gewesen zu sein! Ich könnte mich ohrfeigen dafür, dass ich deinem Ansinnen nachgekommen bin, mich aus dem Hause gestohlen habe und deinem romantischen Gewäsch auch noch glaubte!«



»Ich brauchte Zeit zum Nachdenken.«



»Und da hast du dich an meine Schwester erinnert?«



»Psst. So beruhige dich doch.«



»Das sagst ausgerechnet du! Meine Liebe und Tugendhaftigkeit gab ich einem gemeinen Schuft. Du hast meine Gefühle schamlos ausgenutzt!«



»Du irrst! Wenn ich könnte, wie ich wollte … Aber deine Mutter und unsere Väter … Wer bin ich schon?«



»Das wusstest du vordem und hattest keinerlei Hemmungen, deine Tändelei fortzuführen.«



»Ich bitte dich, Alma, verzeihe mir. Ich wollte dich weder kränken noch dir Schmach bereiten. Meine Gefühle zu dir sind von einer nie gekannten Heftigkeit. Zürne mir nicht, dass ich denen nicht standhalten konnte, denn sie waren und sind zu jeder Zeit ehrlicher Natur.«



»Ich zürne dir, da du dich von mir abgewendet hast. Mich mit der Schande alleine lässt!«



»Wovon sprichst du?«



»Mein Monatsfluss ist ausgeblieben«, zischte sie ihm zu.



Ehe Stephan eine Entgegnung finden konnte, tauchte Sara am oberen Treppenabsatz auf, und beide verstummten.





Noch ein paar Stufen trennten mich von Stephan und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester. Die beiden tuschelten angestrengt miteinander. Als sie mich bemerkten, waren sie plötzlich still.



Alma trug ihr beigefarbenes Tageskleid, doch die Frisur ähnelte bereits der meinen. Sie bedachte mich mit einem missfälligen Blick. War der verspätete Ballbesuch die Ursache für ihre schlechte Laune, oder dass ich heute Stephans Begleitung sein durfte? Ich wendete mich Stephan zu und reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für Eure Einladung.«



»Baronesse.« Seine Lippen streiften meinen Handrücken.



»Sara. Wir haben uns schon vor geraumer Zeit auf diese Ansprache geeinigt«, bemerkte ich. Als Stiefkind des Barons hatte ich ohnehin keinen Anspruch auf die förmliche Anrede, da sie nur leiblichen Töchtern vorbehalten war.



»Sara. Ihr seht bezaubernd aus.«



»Das höre ich sehr gerne.« Ich spürte eine leichte Hitze unter meiner Puderschicht aufsteigen. Mein Gegenüber war sehr gutaussehend. Die Augen erstrahlten im tiefsten Braun und wurden von dichten, schwarzen Wimpern umrahmt. In den Wangen lagen kleine Grübchen eingebettet, die sich beim Lachen verstärkten. Sein brünettes Haar war mit einem Mittelscheitel akkurat geteilt. Heute wirkte Stephan allerdings ein bisschen fahrig. Er entfernte einen imaginären Fussel vom dunklen Jackett. Der Anzug war unübersehbar aus teurem Stoff geschneidert und brachte seine männliche Statur vorzüglich zur Geltung.



Alma schnaufte ungehalten. Sie starrte Stephan missgünstig an. Offensichtlich war meine Schwester mehr in ihn vernarrt, als ich bisher angenommen hatte. Ein feines Schuldgefühl schlich sich in mir ein, da sie nicht dieselben Freiheiten genießen durfte wie ich.

Soll ich sie zur Seite nehmen und ihr versichern, dass ich für Stephan keine Amourösitäten hege? Aber hier, in seinem Beisein?

 Nein, das kam mir unpassend vor. Außerdem hatte Alma die elterliche Weisung, sich von Stephan fernzuhalten. Die Besitztümer von Carl Königshofer von Eichstätt lasteten auf den Schultern meiner Schwester. Mutter und Vater dachten über eine Verbindung zur Familie von Rothschild nach, die zu den reichsten Bürgern im Umkreis zählten. Meine Schwester hatte sich gefügt und ich dachte, sie wäre über Stephan hinweg. Ich irrte, denn in ihren Augen erkannte ich ganz klar Eifersucht.



Weshalb hat sie keinen Ton zu mir gesagt? Dann hätte ich ablehnen können!

Für mich als Stieftochter gab es den Druck, einen geeigneten Anwärter auswählen zu müssen, nicht. Zwar tauchten seit meinem sechzehnten Lebensjahr immer wieder Männer auf, die mir den Hof machten und sich vor dem Baron profilieren wollten, aber weder Carl noch Mutter drängten mich, eine eheliche Verbindung einzugehen. Sie forderten auch ihr Mitspracherecht nicht ein. Das freute mich. Nur manchmal fragte ich mich, ob ihnen in Wahrheit mein Leben einerlei war.



»Wir sehen uns ja bald auf dem Ball, wenn du mit den Eltern nachkommst.« Ich schaute Alma an und versuchte, meine Stimme mitfühlend klingen zu lassen.



»Sicher«, brummte sie. Merklich verärgert drängte Alma an uns vorbei. Ihre Hüften wiegten über Gebühr aufreizend hin und her. Meine Schwester legte auf ihr Äußeres großen Wert und verdrehte etlichen Männern den Kopf. Niemals würde sie ohne Puderschicht im Gesicht das Haus verlassen. Mit Wasserfarbe zeichnete Alma die Äderchen im Dekolleté nach, sodass ihre Haut transparenter wirkte. Sie kleidete sich in die schönsten und teuersten Stoffe, die natürlich Carl finanzierte. Manchmal war ihr Gehabe zu sehr aufgesetzt, und die imaginäre Hilflosigkeit weckte den männlichen Beschützerinstinkt. Mit ihrem blonden Haar und den hellgrünen Augen glich sie einem Engelchen. Nichtsdestotrotz wusste ich, wie störrisch und aufmüpfig Alma sein konnte, wenn sie ihren Querkopf durchzusetzen gedachte. Obgleich wir zwei grundverschiedene Charaktere waren, fühlten wir uns auf eine innige Art geschwisterlich verbunden. Das konnte keiner von uns leugnen. Nur daran würde Alma sich im Augenblick bestimmt nicht erinnern mögen.



Meine Schwester war aus dem Sichtfeld verschwunden und Stephan bot mir seinen Arm an. »Dürfte ich Euch nach draußen bitten?«



»Sehr gerne.«





Wir schritten über die steinerne Außentreppe hinab und gelangten zu der wartenden Droschke. Dabei traf ich auf Thomas, der eines der vorgespannten Rosse am Halfter hielt. Ich löste mich von Stephan.



»Grüß dich, Sara.« Sein Blick wirkte bewundernd.



»Schön dich zu sehen.« Mein Herz klopfte heftig in der Brust. Um meine Unsicherheit zu überspielen, bedachte ich die Rosse mit ein paar Streicheleinheiten. Warum konnten wir nicht mehr so unbeschwert wie früher sein? Als Kinder tobten wir gemeinsam umher, kletterten auf Bäume, hielten uns im Heu versteckt oder wachten bei den Tieren im Stall, um dort eine Pferdegeburt zu verfolgen, die sich oftmals über Stunden hinziehen konnte. Eines der Fohlen, Herkules, durfte ich schließlich mein Eigen nennen und war mittlerweile zu einem wunderschönen Hengst herangewachsen.



Körperliche Arbeit hatte mich nie abgeschreckt. So half ich bei der Pferdefütterung und schleppte Wassereimer zur Tränke, bis Schwielen von dieser Anstrengung zeugten. Niemals würde ich deshalb derart feine Hände und perfekt gefeilte Fingernägel wie Alma haben, die schon als kleines Mädchen sich lieber von den Stallungen fernhielt. Wenn der Ball nicht Abendgarderobe vorgeschrieben hätte, wäre ich am liebsten auf dem Rücken von Herkules dorthin aufgebrochen, nur mit einer Hose und einem Männerhemd bekleidet. Obgleich das absolut verpönt war.



»Ich wünsche dir einen unterhaltsamen Abend.« Thomas schaute mich noch immer an.



»Danke, den werde ich sicherlich haben.« Ich blickte kurz zu Stephan, der sich im Hintergrund hielt. Bestimmt wollte er seinen teuren Anzug nicht beschmutzen, dennoch wunderte mich seine Schweigsamkeit. Obwohl er ein hervorragender Reiter war, lag ihm nicht sonderlich viel an Tieren, außer wenn sie hübsch gebraten in duftender Soße serviert wurden. Allein deshalb könnte er nie mein Herz erobern.



Ich atmete tief den vertrauten Geruch nach Pferden und Leder ein, den ich seit jeher mit Thomas verband, da dieser stets an ihm haftete und mich in den Studierstunden umfing. Schon als Knabe verfügte Thomas über eine enorme Wissbegierde und mein Stiefvater bewilligte seine umfassende Ausbildung. Natürlich schürte das den Neid einiger Bediensteter, aber vor allem den meiner Mutter. Doch sie wagte es nicht, sich hier Carls Anweisung zu widersetzen.



So lernten wir Lesen, Schreiben und den Umgang mit den Zahlen. Auch die Religion wurde uns nähergebracht. Dem voran standen Fleiß, Gehorsam, Ordnung und Sauberkeit. Die gerade, angelehnte Sitzhaltung war eine Tortur für Thomas. Darüber hinaus vergaß er oftmals, auf seine Hände zu achten, die sichtbar am Tisch bleiben mussten und auf die Füße, die parallel nebeneinander am Boden zu stehen hatten. Thomas war ständig in Bewegung und wurde aufgrund dieses Missverhaltens bestraft. Geschrien hatte er nie. Doch die Rute herabsausen und aufklatschen zu hören, mit der Gewissheit, wie schmerzhaft diese Züchtigungen für ihn sein mussten, ließen mich nach all den Jahren noch erschauern. Fordernd stupste mich ein Kutschenpferd an. »Tut mir leid, ich habe weder eine Karotte noch einen Apfel für dich.« Als Entschädigung kraulte ich den Haflinger hinter dem Ohr.



»Bei solchen Zuneigungsbekundungen wird das Ross keine Nascherei vermissen«, warf Thomas leise ein.



»Mag sein.« Ich registrierte Stephans Blick auf die Taschenuhr. »Wir können gerne los.« Ich bedachte meinen Galan mit einem entschuldigenden Lächeln, riss mich von Thomas und den großen Vierbeinern los.





Stephan saß mir in der Kutsche gegenüber. Ich strich mein Kleid glatt. »Verzeiht, meine Pferdevernarrtheit ist mit mir durchgegangen.«



»Macht Euch darüber keine Gedanken.«



Ich lehnte mich an die Innenwand des Fuhrwerkes und genoss das sanfte Schaukeln. »Alma wirkte ärgerlich. Denkt Ihr, es liegt am späteren Ballbesuch?«



»Schon möglich.«



»Weshalb habt Ihr mich eingeladen?«



»Nun …« Er brach ab und suchte offensichtlich nach den passenden Worten. »Ihr seid eine bemerkenswerte Frau, zudem sehr ansehnlich.«



»Bemerkenswert und ansehnlich, obwohl ich nicht dem gängigen Schönheitsideal mit den ausladenden Rundungen entspreche?«



»Manchmal erfüllt man nicht die vorgefertigten Konventionen.«



»Da kann ich keinesfalls widersprechen, und ich rechne es Euch hoch an, dass Ihr den formvollendeten Kavalier gebt. Dennoch frage ich mich, ob es zwischen Alma und Euch einen Streit gibt?«



Unruhig rutschte Stephan auf dem Sitz hin und her. Er presste seine Lippen aufeinander, ehe er verdrießlich bekannte: »Natürlich kann ich mich nicht mit einer Familie von Rothschild messen. Uns Krügers blieb bisher ein Adelstitel verwehrt, dabei sind wir keineswegs arm. Immerhin hat Vater sich im Bierbraugeschäft längst etabliert, und führt mit Geschick das ortsansässige Bankinstitut.«



»Somit gehen Eure Gefühle für meine Schwester tiefer? Aber ihr hattet über Wochen keinen Kontakt.«



»Von Anbeginn stießen wir seitens der Eltern auf Ablehnung. Dabei entstammt Eure Mutter selbst aus einfachen Verhältnissen!«



»Es gibt weder einen Antrag noch eine geplante Verlobungsfeier. Womöglich findet Mutter nur, dass Alma zu jung ist.«



»Teresa war kaum älter, als sie Euch unter ihrem Herzen trug. Mit sechzehn ehelichte sie Euren Vater.«



»Wie Ihr wisst, brachte ihr die Heirat mit Heinrich Böhmer kein Glück und er starb, bevor ich geboren wurde.«



»Er hinterließ ihr reichlich Güter, Euch Ländereien und sie ging wenige Monate später mit dem Baron den Ehebund ein.«



»Was wollt Ihr damit zum Ausdruck bringen?«, sprach ich empört. »Hat Eure Einladung den einen Grund, da Ihr an meinen zweihundert Morgen Land Gefallen gefunden habt? Dennoch wären die über tausend Morgen an Besitzungen, die Alma einmal ihr Eigen nennen darf, noch verlockender. Nur ehe man leer ausgeht, kann man getrost der Schwester den Hof machen.«



»Ihr irrt!« Stephan klang entsetzt. »Was denkt Ihr von mir? Nur, weil ich den Namen Krüger trage, bin ich keineswegs derart berechnend wie mein Vater, der ausschließlich an seine geschäftlichen Interessen denkt!«

 



Ich schluckte. Stephan hatte sich bisher in meiner Gegenwart stets vorbildlich verhalten und es gab niemals eine Indiskretion seinerseits. Vom Äußeren ähnelte er seinem Vater Mathias. Das braune Haar, die Statur, seine Gesichtszüge …



Leider entwickelte sich dieser Umstand in letzter Zeit für ihn vermehrt zum Nachteil. Man schenkte ihm kein Vertrauen, da er mit seinem Vater verglichen wurde, dessen Auftreten und Gebaren eher Schrecken verbreitete.



»Verzeiht mir bitte meine unbedachten Worte! Sie waren falsch. In mir kommt manchmal der Drang durch, mich rechtfertigen zu müssen, dass ich nicht Carls leibliches Kind bin. Meine Privilegien unterscheiden sich von denen meiner Schwester erheblich, das weiß ich. Alma wurde ständig mit Geschenken überschüttet, und war von klein auf das Lieblingskind.



Innerhalb der Familie habe ich mich damit arrangiert, aber ich erinnere mich genau an die Blicke so mancher Adeligen, als wäre ich nur ein lästiges Anhängsel. Das ging nicht spurlos an mir vorüber.«



»Ich schwöre Euch, mir sind die Besitztümer einerlei. Mein Interesse liegt rein an Alma. Es demütigt mich, dass Eure Mutter sich vehement gegen eine Beziehung zwischen Eurer Schwester und mir stellt. Vor allem meine ich, dass beim Baron noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Warum misst Eure Mutter hier mit zweierlei Maß?«



»Darauf finde ich selbst keine Antwort. Eigentlich müsste sie wissen, wie belastend eine arrangierte Ehe sein kann, und man sollte meinen, dass sie daraus eine Lehre gezogen hat. Der schicksalhafte Tod meines Vaters führte Carl und Teresa zusammen. Beide haben miteinander ihr Glück gefunden. Vielleicht solltet Ihr darauf vertrauen, dass die Zeit alles weisen wird.«



»Schicksal?« Stephan lachte bitter. »Die Gerüchte, die sich um Eures Vaters Tod ranken, kennt Ihr, oder?«



Ich nickte. »Ich halte nichts davon. Er war ein Mann im fortgeschrittenen Alter und soweit ich weiß, keineswegs bei bester Gesundheit. Ihr müsst zugeben, dass es ungleich dramatischer wirkt, einen vermeintlichen Giftanschlag als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, wodurch sein Ableben pikanter erscheint und die Gerüchte weiter anheizt.«



Stephan brummte unverständlich und richtete seinen Blick zum Seitenfenster hinaus. Ich wollte etwas entgegnen, doch ich entschied mich dagegen. Stattdessen starrte ich auf meine Hände und dachte an meinen leiblichen Vater, den ich nie kennenlernen durfte.



Mutters erster Ehebund mit Heinrich Böhmer war keine Liebesheirat. Ich wusste, dass er einst als Bauunternehmer für

Bethel Henry Strousberg

 arbeitete. Als Strousberg in den Bankrott schlitterte, stieg Heinrich ins Bahnbaugeschäft ein, gründete eine Offene Handelsgesellschaft und war im Laufe der Zeit Betreiber, Eigentümer und Teilhaber an Eisenbahnkonsortien. Mein Vater leitete seine Geschäfte sehr geschickt und erzielte hohe Gewinne, die er zum Teil in einem eigenen Grund investierte.



Heinrich ließ, sobald er von Teresas Schwangerschaft Kenntnis hatte, ein Schriftstück aufsetzen, das mich zur Besitzerin des Böhmer-Hofes auswies. Meine Mutter wurde durch sein Ableben sehr vermögend, und in drei Jahren, mit einundzwanzig Lenzen, sollten die Ländereien rechtmäßig in meinen Besitz übergehen, die Teresa unterdessen verwaltete. Gewöhnlich versuchte Mutter, den Fragen meiner Abstammung auszuweichen. Sie wirkte verbittert, wenn es um meinen leiblichen Vater ging. Nur einmal besann sie sich anders:

»Weißt du, mein Kind, die Zeit mit deinem Vater war zu kurz, sodass ich kaum darüber berichten kann. Stattdessen umfing mich Carl mit Liebe und gab mir Halt nach dem unverhofften Tod von Heinrich.





Trotz meiner Vorgeschichte setzte Carl sich über die Etikette hinweg, nahm keine Frau vom Adel, sondern führte mich nach der Einhaltung einer zehnmonatigen Trauerzeit zum Altar. Da warst du noch kein halbes Jahr alt. Seitdem leben wir gemeinsam in seinem wunderschönen Schloss. Er umsorgte dich wie sein leibliches Kind. Dafür bleibe ich Carl zeitlebens zu Dank verpflichtet.«





Das bestärkte mich in der Annahme, dass meine Mutter Heinrich nie eine innige Herzenswärme entgegengebracht hatte. Ich gab mein Bestreben auf, mehr über meinen leiblichen Vater in Erfahrung bringen zu wollen. Was sollte ich schon fragen? Ich hatte kein Bild von ihm und so vermochte ich nicht einmal festzustellen, ob irgendwelche Ähnlichkeiten vorhanden waren. Viellei

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