Am Ende siegt die Wahrheit

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Markus spähte zu dem dunkler werdenden Himmel empor. »Ein Krieg, der verändert einen in die unterschiedlichsten Richtungen. Ich weiß gar nicht, weshalb ich davon angefangen habe. Es spielt keine Rolle mehr.«

»Doch, das tut es!«, widersprach sie heftig. »Ich fordere eine Erklärung!«

Markus haderte mit sich. Sollte er es erzählen? Er betrachtete Maria, wie sie kämpferisch das Kinn nach oben reckte. Sie war erwachsen geworden! Von einem Mädchen zu einer wunderschönen Frau. Wie von selbst formten sich die Worte. »Als ich auf Jakob traf, hätte ich ihn beinahe nicht erkannt. Knochig war er geworden. Wir befanden uns kurz vor dem Kriegsende. Eines Abends saßen wir gemeinsam am Feuer, wärmten uns daran und rauchten. Ein bekanntes Gesicht von früher hat seine Emotionen aufgebrochen. Er hat mir von dir erzählt, wie du einst versucht hattest, ihn am Hemd zurückzuhalten, wobei es fast zerrissen wäre.«

»Das stimmt.« Maria wischte sich verstohlen über die Augenlider.

»Dann hat er in die Ferne geschaut, und gemeint, dass er nie mehr in die Heimat zurückkehren würde. Das wüsste er, und du hättest es auch bei seinem Weggang gespürt.«

»Das ist kein Grund, um gar nicht mehr zu schreiben! Seine Zeilen waren am Anfang so liebevoll. Er hat stets eine eigene Nachricht für uns Geschwister beigelegt, die mit meiner lieben kleinen Prinzessin und meinem lieben kleinen Prinzen begann. Ich verstehe das nicht!«

»Damals an der Front wusste ich noch nicht, dass er die Schreiben eingestellt hatte, sondern ich hab es erst von Andreas erfahren. Ich denke, Jakob schaffte es irgendwann nicht mehr, euch eine heile Welt vorzugaukeln. Das Töten hat ihn krank gemacht. Nicht nur ihn, vielen Soldaten ging es ähnlich. Wenn du am Abzug stehst, reagierst du aus purem Überlebensinstinkt heraus. Aber hinterher riechst du das Blut, siehst verstümmelte Leichen, im Zelt stinkt es nach den schwärenden Wunden, hörst die gepeinigten Schreie von Verletzten, siehst deine Kameraden sterben. Stunde um Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, unaufhörlich. Bilder, die dich selbst nachts im Schlaf einholen. Ich denke, Jakob hasste sich dafür, dass er dem Vaterland diente, Menschen erschießen musste, die zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort womöglich Freunde hätten werden können. Er sah sich als Mörder, Feigling und Verräter seiner eigenen Werte.«

»Deswegen ließ er uns im Ungewissen darüber, dass er noch am Leben war?! So hartherzig! Über Monate hinweg! Stattdessen trudelte seine Vermisstenmeldung bei uns ein! Wenn er wenigstens die Wahrheit geschrieben hätte! Alles wäre besser gewesen!«

»Bitte, sieh es ihm nach. Ich weiß von meinem Kameraden Peter, der längere Zeit mit ihm in derselben Einheit diente, dass eine Verletzung an der Schulter ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Wochenlang war nicht sicher, ob er sie überstehen würde. Am Anfang ging es ihm zu schlecht, um verlegt zu werden, aufgepäppelt wurde er in einem kleineren Lazarett. Doch den Heimaturlaub hat er abgelehnt, bald hielt er wieder die Waffe in der Hand, um seinen Kameraden beizustehen. Aber die Verletzung hatte ihn verändert. Zu sich selbst konnte er beinhart sein. Doch Peter erzählte mir, dass Jakob in ein tiefes Loch fiel, wenn er die gestrickten Socken oder andere liebevoll ausgesuchte Mitbringsel von euch erhielt. Sie erinnerten ihn wohl an eure Wärme und Herzlichkeit. Viele meiner Kameraden hofften auf solche Präsente, um die Bürden durchzustehen. Bei ihm war es andersrum. Er konnte damit nicht umgehen. Hätte nicht durchgehalten. Vielleicht ist das der Grund dafür, weshalb Jakob einen Schreiber beauftragte, die Vermisstenmeldung auszuschicken.«

Marias Augen flackerten. »Er hat mit sich und mit uns abgeschlossen.«

»An der Front denkt man ohnehin, dass jede Sekunde die letzte sein könnte. Jeder von uns hat im Krieg an Selbstmord gedacht. Es war wie ein langsames Vergehen der Kräfte. Kameradschaft, Treue, Vertrauen und Gehorsam galten nur mehr dort etwas, wo man sich kannte. Wir kämpften lange Zeit bloß deshalb, um nicht in Kriegsgefangenschaft zu gelangen und um zu vermeiden, einen weiteren Freund zu verlieren. Es war unsere Familie, fern jeglicher Blutsverwandtschaft. Jakob litt zudem an Depressionen, verstärkt wohl durch das Pervitin, das man ihm, seit der Verwundung, verschrieben hatte. Die Schulter machte ihm arge Probleme.«

»Pervitin? Was soll das sein?«

»Unter der Hand hieß es bei uns Panzerschokolade. Dieser Name war passend, denn wie ein Stahlschild hüllte es all die Emotionen, Schmerzen und den Hunger ein, gaukelte einem Wagemut vor. Ein Teufelszeug, weil es süchtig machte, man stets höhere Dosen benötigte. Und wenn der Nachschub ausblieb, fühlte man sich wie ein elendes Wrack.«

»Hast du auch davon genommen?«

»Ich habe es probiert. Aber zum Glück für mich entschlossen, den Krieg ohne dem durchstehen zu wollen. Außerdem wurde es immer rarer. Anfangs hatten die Obersten es in riesigen Mengen eingekauft und für die Stärkung der Moral unter den Soldaten großzügig ausgeteilt.« Markus’ Stimme klang bitter.

Maria presste betroffen die Lippen aufeinander, sie drückte mitfühlend seine Hand.

»Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes erzählen. Dennoch war Jakob ein Held, hat Jahre den Krieg durchgestanden, gekämpft, und dadurch Leben in den eigenen Reihen gerettet. Es tut mir im Herzen weh, dass es ihm nicht vergönnt war, heimzukehren. Gefallen im letzten Gefecht.«

»Ich weiß«, flüsterte Maria rau. »Eine Granate hat nichts mehr übriggelassen, was man beerdigen hätte können. Irgendwo auf einem Feld in Gerasdorf, westlich von Sankt Pölten.«

»Bitte, verurteile ihn nicht dafür, dass er in seiner Not zweifelhafte Dinge getan hat. Vergessen hat er euch nie, da bin ich sicher.«

Maria schüttelte traurig den Kopf. »Was hat er leiden müssen!«

»Bitte, verzeih, dass ich es für mich behalten habe. Die ersten Monate wollte ich den gesamten Krieg und die schrecklichen Bilder in meinem Kopf vergessen. Wenigstens habt ihr die offizielle Mitteilung über Jakobs Ableben erhalten, sodass ihr nicht im Ungewissen bleiben musstet. So oft habe ich angesetzt, um es Andreas zu erzählen. Um dann die Worte hinunterzuschlucken, Jakob sollte in seinen Erinnerungen der Held bleiben dürfen. – Und wir beide hatten kaum Kontakt. Zu euren Eltern ging ich damit nicht, weil …«

»Bei der Ablehnung, die sie dir entgegenbringen, wäre ich ebenso nicht hingegangen«, bemerkte Maria fest, ehe er es aussprechen konnte. »Erzähl es Andreas besser nicht. Er wäre zutiefst enttäuscht. Selbst mir fällt es schwer, zu begreifen, dass sich ein Mensch derart verändern kann. Dass sich Jakob so verändern konnte! Es passt so gar nicht zu meinem Bild von ihm. Jakob war so lebensfroh, lustig, humorvoll, umsichtig – all das hat er verloren? Das ist so schlimm, dass es mir ganz eng in der Brust wird.«

»Es tut mir leid. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.«

Marias Augen schimmerten, sie hakte sich bei Markus’ Arm unter. »Nein, ich danke dir für dein Vertrauen. Und bewundere dich dafür, dass du trotz der Lebenslasten hier und heute da bist.«

Schweigend stapften sie den restlichen Weg nebeneinanderher.

TAUSENDE SPLITTER

April 1948

Tag für Tag rückte die Schneegrenze Richtung Bergspitzen hinauf. Grün und erste Blumen kämpften sich empor, vertrieben das triste Weiß-Grau des Winters mit ihren Farben. Maria saß bebend unter dem Ahorn. Es war nicht die Kälte, die sie erzittern ließ, sondern stille Wut. Aus dem Wasserhahn im Gebäude tropfte eine bräunliche Brühe. Offenbar hatte der Regen letzte Nacht die Quelle für das Haus zugeschüttet und sie gehörte neu gefasst. Doch niemand war da, den sie um Hilfe bitten konnte. Die Knechte befanden sich auf der Alm, richteten die Zäune und würden erst am Abend wiederkehren. Onkel Alfons war mit Mirko auswärts bei irgendeinem Geschäftstermin unterwegs. Rückkehr ungewiss!

Und Andreas! Der war wie ein Vagabund, strich in der Gegend umher, amüsierte sich, wie es ihm beliebte, und blieb meist sogar zu den Essenszeiten fern! Dabei wartete auf Maria die Wäsche, sie wollte einen Kuchen backen und das Abendbrot vorbereiten! Dafür brauchte sie gutes Wasser und keine braune Suppe! Maria zog die Strickjacke enger um ihre Schultern. Wenn er nicht bald käme, musste sie selbst nachsehen! Was sollte sie noch alles machen! Schwere Erde schippen war keine Frauenarbeit!

Verärgert stand sie auf, um in der Werkstatt nach einer Schaufel und Harke zu suchen. Bald hatte sie die passenden Werkzeuge gefunden, da nahm sie beim Hinausgehen eine Bewegung wahr.

Endlich! »Oh, der gnädige Herr taucht auch schon auf?!«, rief Maria ihrem Bruder entgegen, als sie ihn den Steig hochkommen sah. »Wir hatten eine feste Abmachung, nie hältst du dich!«

»Bist du neuerdings meine Mutter?«, spottete Andreas.

»Du solltest dir am Abend weniger den Kopf wegsaufen, wenn du am nächsten Tag nicht aus den Federn kommst und dazu mit schlechter Laune gesegnet bist! Oder hast du dich mit einer willigen Frau amüsiert? Nein, dann wärst du besser drauf. Eher hat dir deine Auserkorene den Laufpass gegeben! Somit wären wir wieder beim Alkohol! Ich rieche noch jetzt deine Fahne!«

»Hat Alfons dich mit verlogenen Geschichten gegen mich aufgestachelt?«

»Ach, und du darfst ihm gegenüber voreingenommen sein? Wieso siehst du nicht, was er alles für uns tut?«

Mit blitzenden Augen schielte er zu den Werkzeugen in ihrer Hand. »Du kannst dich noch so sehr für ihn ins Zeug legen, du wirst mich nie von meiner Meinung abbringen!«

»Er gibt uns alles, was wir benötigen! Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Er hat die Begräbniskosten der Eltern übernommen! Der Neubau und die zusätzlichen Arbeitskräfte sind ebenso nicht gratis, dafür müssen wir nicht aufkommen. Doch du bist ein richtiger Querulant, stellst all seine Entscheidungen infrage. Fällt es dir so leicht, deine Familie auszublenden? Mich auszublenden!« Anklagend blickte sie ihn an.

 

»Familie!« Verächtlich spuckte er dieses Wort aus. Auf seiner Stirn stand eine senkrechte Zornesfalte. »Wie blind bist du? Er will unseren Hof, nix anderes! Den gebe ich nicht kampflos her!«

»Wo kämpfst du denn? Niemals hat er von dir verlangt, dass du die Schulden sofort zurückzahlen musst. Es ist vielmehr so, dass du bei ihm einen zinsenlosen Kredit auf zwanzig Jahre hast. Wenn wir ihn nicht hätten, wäre der Hof längst in anderen Händen, womöglich in denen eines Unbekannten. Wir würden chancenlos sein, unser Eigentum jemals zurückzubekommen! Wie müssten wir dann hausen? Wir wären höchstens ein einfacher Knecht und eine einfache Magd!«

»Zwanzig Jahre! Bis dahin hat er alles zunichtegemacht. Mehr wie seine Dienstleute sind wir auch so nicht!« Andreas verschränkte abwehrend die Arme, hielt die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. »Die Schulden je abzubezahlen, ist mit meinem mageren Verdienst im Sägewerk unmöglich! Und in der Zwischenzeit lässt er den Wald abholzen. Keinen Groschen sehen wir davon! Bald ist unser Hof nicht mehr zur retten! Woher denkst du, hat er sein ganzes Vermögen, während in Österreich die Mehrheit am Hungertuch nagt?«

»Onkel Alfons hat sich bisher korrekt verhalten.«

»Wie kannst du da sicher sein? Die aufbewahrten Schuldscheine der Eltern wurden durch das Unwetter unleserlich. Jene, die Alfons dem Gericht für die Bürgschaft und Vormundschaft vorgelegt hat, haben wir nie zu Gesicht bekommen. Es wäre ein Leichtes für ihn, sich unter diesen Voraussetzungen an uns zu bereichern. Außerdem …«

»Somit zweifelst du unsere Rechtsprechung an?«, fiel sie ihm ins Wort.

»Jeder ist bestechlich, wenn genügend Geld dafür fließt.«

»Was hast du vorzuweisen, außer ihn auf abenteuerliche Art und Weise zu beschuldigen? Statt zu helfen, streifst du in der Gegend herum, machst dich aus dem Staub wie ein feiger Hund!«

Andreas schnappte nach Luft. »Wie naiv bist du?! Vater hat ihm misstraut. Bestimmt macht Alfons etwas Illegales!«

»Hast du irgendwelche Beweise?«

Andreas raufte sich das schwarze Haar. »Zumindest hat er mehr Holz geschlagen und verkauft als nötig. Das weiß ich von Fritz, meinem Vorarbeiter im Sägewerk! Ihn hab ich gestern Nacht getroffen. Er hat mir unter der Hand Einsicht in die Abrechnungen gegeben. Die Gebäude und die Einrichtung haben nicht einmal die dreiviertelte Summe ausgemacht!«

»Du vergisst, die Arbeiter, die zu bezahlen sind. Und die anderen Kosten, ob Kleidung, oder Essen! Interessanter wäre doch, wie es überhaupt zu den Forderungen gekommen ist! Vater verließ selten den Hof, Spielschulden können es demnach nicht gewesen sein, das hätte sich herumgesprochen! Ja, es ist alles teurer geworden, doch niemals so, dass wir den Hof deswegen verlieren würden! Er hat weder in die Gebäude noch in die Tiere große Summen investiert!«

»Markus dachte daran, dass es womöglich ein uneheliches Kind geben könnte, für das er bezahlt.«

Maria gluckste auf. »Ich kenne keine Frau, die sich auf diesen alten Grantler einlassen würde.«

»Er war einmal jünger. Sonst hätte Mutter ihm wohl kaum das Ja-Wort gegeben.«

»Mutter war die Tochter einer Magd! Sie besaß nichts, außer ihre Schönheit! Die perfekte Ergänzung für die beiden. Du hast selbst zu mir gesagt, dass man wegen einer Absicherung heiratet, während er im Gegenzug auf Erben hoffte.« Maria schüttelte unwillig den Kopf. »Beim besten Willen, Vater und ein uneheliches Kind, das halte ich für ausgeschlossen! Eher hat er das Geld Alfons wegen der Suche nach Jakob in den Rachen geworfen. Und uns haben sie erzählt, es wäre bloß das Stück Rind gewesen!«

»Stimmt, daran hab ich gar nicht gedacht! Und als Gegenleistung musste er die Schuldscheine unterzeichnen! Ich wusste es doch! Dieser Schuft hat unsere Not schamlos ausgenutzt! Obwohl, da muss noch etwas anderes dahinterstecken.«

»Letzten Endes war es Vater, der ihn auf den Hof gebeten hat!« Herausfordernd sah Maria ihn an. »Ich bin froh, nicht im Dreck hausen zu müssen. Das ist dir alles egal! Außerdem peinigt mich das schlechte Gewissen, weil unsere Eltern nicht mehr leben. Warum haben wir es geschafft und sie nicht? Wir hätten nicht nur an die Tür klopfen sollen, sondern sie herausholen! Dann wäre es nie so weit gekommen!«

»Das war Schicksal, nicht unser Verschulden. Niemals hätte ich mir ausgemalt, dass eine Verwüstung derart massiv sein könnte.«

»Tod, Hunger und Armut – ich bin es leid! Endlich habe ich das Gefühl, dass es aufwärtsgeht. Aber du, du …« Sie drückte ihm Schaufel und Harke in die Hand. »Bleib doch so egoistisch, wen kümmert’s?! – Mit der Art, die du an den Tag legst, wirst du ohnehin nie hinter das Geheimnis kommen, weshalb Vater vom Onkel so viel Geld geliehen hat! Falls es überhaupt eines gibt!« Eilig raffte Maria den Rock ihres Kleides hoch. »Und zum Essen kriegst du heute auch nichts, denn mit der braunen Brühe aus dem Rohr ist ein Kochen unmöglich!« Sie stürmte davon.

»Maria, Maria!« Andreas machte ein paar Schritte hinterher. Doch so impulsiv, wie sie grad war, war es sinnvoller, ihre Emotionen abkühlen zu lassen. Braune Brühe aus dem Rohr?! Er hatte sich schon gewundert, was sie mit dem Werkzeug wollte. Besser er schaute gleich nach, was es mit der Quelle auf sich hatte, das würde seine Schwester sicher besänftigen.

Maria drehte sich nicht mehr um, sondern hastete ins neuerrichtete Haus. Laut knallend warf sie ihre Zimmertür zu. Zornig zog sie die Halbschuhe von den Füßen, schleuderte diese nacheinander auf den Boden, einer prallte ab, über den Tisch hinaus an die Zimmerwand. Noch im Flug entwich ihr ein entsetztes: »Nein!« Es folgte ein Knall und ein Zersplittern.

Fassungslos starrte sie auf den Spiegel, der ihrer Mutter gehörte und einen Ehrenplatz neben der Kommode gefunden hatte. Zersprungen lag er in lauter Scherben am Boden. »Nein! Sieben Jahre Unglück!« Oder waren es sieben Monate? Sie hockte sich nieder, schichtete die größeren Bruchstücke aufeinander. Es war ihr, als lägen dort Tausende Splitter ihrer Seele verstreut. Hab ich damit den bösen Geistern ein Tor geöffnet?

Sie langte nach dem Rahmen. An der Hinterseite war Pappe zum Schutz befestigt, die sich gelockert hatte. Ein Papier schaute heraus. Maria entfernte den Karton, ein Kuvert fiel auf die Dielen. Was hatte das zu bedeuten?

Maria entfaltete den Papierbogen. Die Handschrift war ihr nicht bekannt, der Brief klar an ihre Mutter gerichtet, datiert November 1946. Unterzeichnet mit Karl! Welcher Karl? Maria setzte sich auf das Bett und begann zu lesen:

Liebste Margarethe,

ich bin verwirrt. Dein Zauber hält mich eng umschlungen. Bitte sag, dass es nicht wahr ist, dass Du alles wegwerfen willst! Du hast etwas Besseres als Adams Jähzorn verdient! Ja, ich weiß, wir sind gefangen in unseren Beziehungen. Noch. Ich werde reinen Tisch machen, wenn Du es möchtest.

Es wird ein Schock für Agnes und Adam sein, und auch für die Kinder, jene, die den Krieg heil überstanden haben. Denkst Du nicht, Markus, Andreas und Maria könnten es verstehen? Oder hast Du Sorge, um Adams angeschlagenes Herz? Das würde Dir ähnlichsehen, Du opferst Dich für diesen Kerl auf, seit Jahren, obwohl er nie ein gutes Wort für Dich oder die Kinder übrighat.

Maria ließ kurz das Blatt sinken. Markus! Agnes hieß die Mutter, Kurt sein Vater! Sein Vater hatte ihrer Mutter geschrieben! Rasch las sie weiter.

Wie lange willst Du noch dieses grausame Spiel mitspielen? So gerne hätte ich Dich schon früher an meiner Seite gehabt, damals ist es an meinen Eltern gescheitert, die von Dir keine Mitgift erhoffen konnten. Da hab ich Agnes genommen, und Du diesen Holzklotz Adam. Fleißig waren beide, da gab es nichts zu meckern. Agnes hat der Tod unserer älteren Söhne zugesetzt, ich denke, ihre Kälte steht der Deines Mannes um nichts nach. Deswegen frag ich mich, ob das alles von unserem Leben gewesen sein soll: Arbeit, Krieg, Armut, Hunger, Einsamkeit … Mit vielem hatte ich mich abgefunden, bis vor einem Jahr der gemeinsame Nachhauseweg nach der Kirche mir gezeigt hat, welches Juwel in der Nachbarschaft wohnt. Noch immer! Meine Zuneigung zu Dir ist mit voller Wucht aufgebrochen. Auch in Dir, sonst hättest Du unseren heimlichen Treffen nie zugestimmt.

Alle Besitztümer der Welt sind im Vergleich zu Dir bedeutungslos. Jetzt, nach dem Schrecken, im Aufbau unseres Landes, hätten wir womöglich eine letzte Chance dafür, etwas Gemeinsames zu beginnen. Wenn es sein muss, ganz woanders. Was hindert uns? Wie viel sollen wir noch entbehren? Wir haben den Krieg überstanden! Ein bisschen Herzenswärme in dieser kalten Zeit! Wie sehr Du Dich danach sehnst, hast Du mir in Deinen schwachen Stunden gestanden. Wir sind keine gutgläubigen Grünschnäbel mehr. Ich bitte Dich, fass auch Du Mut, steh zu uns und zu unserer Liebe!

Lass Dich nicht von diesem Briten irritieren! Warum sollte Walter, oder wie er heißt, es an Adam weitertragen, dass er uns gesehen hat? Er ist nicht hier, um sich in Beziehungen einzumischen!

Ich kann mich nicht so geirrt haben. Ich will nicht, dass unsere Küsse und die Nähe gestohlene Momente bleiben. Und doch fühle ich mich schlecht, weil ich Dich bedränge. Ich möchte Dich lieben, so wie es uns über Jahre verwehrt geblieben war.

Bitte, denk darüber nach.

In tiefer liebevoller Verbundenheit

Dein Karl

Maria legte das Blatt auf ihren Schoß. Karl und Mutter! In Gedanken erwachte Margarethe mit dem grauen Haar, dem verkniffenen Mund. Marias Herz klopfte hart in der Brust. Und Walter hatte sie gemeinsam gesehen! Der Walter, der ihr nachstieg? Sie blinzelte zu dem Datum. Nur zwei Monate, nachdem der Brief verfasst worden war, wurde das Forcher-Haus ein Raub der Flammen. Wusste Vater von der Affäre? Kam daher die plötzliche Aversion gegen Markus? – Ja, so musste es sein! Er wollte wohl nicht auch noch sein Mädchen an einen Forcher verlieren! – Und Walter? Durfte sie wegen des Briten nicht alleine heimgehen und kaum den Hof verlassen? Den protzigen Wagen fuhr Walter auch erst nach dem Brand! Ein sonderbarer bitterer Geschmack breitete sich in Marias Mund aus.

Was ist, wenn Vater das Feuer gelegt hat? Ihr Herz schien einen Moment auszusetzen.

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