Am Ende siegt die Wahrheit

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ONKEL ALFONS MIT GESCHENKEN

Schmucklos und schlicht war das elterliche Haus, ein zweigeschossiger Bau aus schwarzgrau verwittertem Holz. Einen Keller gab es nicht. Wenn man näherkam, sah man, dass einiges einer Renovierung bedurfte, wofür das Geld fehlte. Die kleinen Fenster ließen kaum Licht in die Innenräume fallen. Eine Scheibe war gerissen und notdürftig mit Zeitungspapier und Kleister verklebt, sowie mit dickem Stoff verhangen.

Im oberen Stockwerk standen Eimer und Krüge bereit, die bei Regen das Wasser auffingen, das durch die losen Schindeln tropfte. Der angrenzende Stall war dick gemauert, sodass die Tiere – Kühe, Schweine, Pferde, Schafe und Hühner – einen guten Unterstand hatten, der Schutz vor Wind und Wetter bot. Doch beim aufgesetzten Holzteil fehlten Bretter, machten durch die vielen Lücken die Tenne, in der das Futter für das Vieh lagerte, zugig. An das Stallgebäude angebaut, verbarg sich Georgs Unterkunft, eine Holzbaracke.

»Was ist das für ein Auto?« Andreas bemerkte zuerst den Wagen, der vor dem Anwesen abgestellt war. Dunkelblauer Lack glitzerte ihnen entgegen, der durch die Sonne reflektiert wurde. Im Dorf gab es drei Familien und diesen Briten, die sich einen fahrbaren Untersatz leisten konnten. Die kannte er. Aus der Gegend stammte der Wagen nicht!

Maria versuchte, mit den eiligen Schritten des Bruders mitzuhalten. Ob das Walter ist? Hoffentlich bekommen die Eltern keine Probleme, weil ich ihn abgewiesen habe!

In der Hofeinfahrt wurden sie beide von Mutter abgefangen. »Halt, nicht so schnell!«, rief Margarethe und versperrte ihnen den Weg.

Andreas umkreiste den Wagen, wie es ein Tier bei seiner Beute tun würde. Obwohl es in seinen Fingern prickelte, fasste er nichts an. Auf der Motorhaube schimmerten Tausende winzige Sterne.

Gott sei Dank, es ist nicht Walter! Maria betrachtete respektvoll dieses Wunderding. Schade, dass wir nicht so einen Wagen haben, könnten so viel Zeit damit einsparen!

»Das ist ein Mercedes Benz 170V, schau dir den imposanten Kühlergrill an!« Das Chrom glänzte wie poliertes Silber. »Wer ist zu Besuch?«, hakte Andreas nach.

»Onkel Alfons.« Margarethes Stimme klang sonderbar matt.

»Unser Onkel!« Andreas ballte seine Hände zu Fäusten. Der Enthusiasmus bezüglich des Wagens war wie weggeblasen. »Was will der hier? Sonst hat es ihn auch nie geschert, wie es uns geht!«

Maria wich einen Schritt von ihrem Bruder zurück, mochte es nicht, wenn er so angriffslustig wirkte. Seine Stirn glänzte verschwitzt nach dem steilen Aufstieg, das Haar stand verstrubbelt zu den Seiten ab. Die Augen hatte Andreas zusammengekniffen. Sie kannte diesen Ausdruck. Entschlossen, stur, zu allem bereit und Dummheiten nicht abgeneigt. Hoffentlich stürmt er nicht hinein!, bat Maria stumm.

»Bleibt ja heraußen und stört die Unterredung nicht!«, befahl Mutter im herrischen Ton. »Ich bringe euch das Trinken und Essen ausnahmsweise zur Bank.«

»Ich kann dir helfen, die Teller herauszutragen, damit …«

»Nein!«, unterbrach Margarethe die Tochter, rauschte davon.

Verwundert sah Maria ihr nach. Normalerweise bestand Mutter stets auf Hilfe! War sie wegen Onkel Alfons so angespannt? Diesem Kriegsgewinnler? Sie schielte zu dem protzigen Wagen. Ob er sein Herz entdeckt hat, und uns helfen möchte? Immerhin war er Vaters Bruder, hier aufgewachsen.

Andreas ließ neben sich den schweren Ranzen auf den Boden plumpsen, stieß zischend Luft aus.

Oje, er sah genauso aus wie vor einem Jahr, als er trotz heftigen Regens, und nach einem Streit mit dem Vater, losgezogen war, um nach einem verschollenen Tier zu suchen. Damals kam er zurück, ohne den kleinen Stier, dafür völlig durchnässt mit einem gebrochenen Arm und Prellungen am gesamten Körper! Ob er über einen Felsen gestürzt war? Über den Hergang schwieg er sich bis heute aus, das Tier wurde nie gefunden.

Seine Schmerzen standen ihm jedoch ins Gesicht geschrieben. Im Krankenhaus bekam er einen Gips. Wochen später wurde festgestellt, dass der Bruch falsch zusammengewachsen war und er die Hand bloß eingeschränkt verwenden konnte. Mutter traute den Ärzten nicht mehr. Vater schimpfte, weil Andreas’ Arbeitskraft am Hof fehlte, und Maria sorgte sich, dass der Arm nie mehr heil werden würde. Doch die Kräuterfrau, zu der sie ihn mehrmals begleiten musste, mischte eine spezielle Mixtur, die den Knochen weich und verschiebbar machte. Mit festen Bandagen wurde sein Arm umwickelt, und es heilte – wie durch ein Wunder – aus.

»Das hat nichts Gutes zu bedeuten«, bemerkte Andreas.

»Was meinst du damit?« Maria schob die Taschen Richtung Hauswand. Onkel Alfons war wie ein Mysterium. Sie hatten ihn seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Den letzten Kontakt gab es, als ihr Vater seinen Bruder gebeten hatte, an höheren Stellen Auskünfte über Jakobs Verbleib einzuholen. Als Bittsteller aufzutreten, war Adam nicht leichtgefallen. Alfons hatte für sein Bemühen ein geschlachtetes Rind gefordert, bekam das gesamte Fleisch geschenkt. Und was brachte es? Nichts!

»Was weiß ich.« In Andreas’ Stimme lag etwas Aggressives, als hätte er doch eine Ahnung. »Sag Mutter, dass ich zu Markus gegangen bin.«

»Ich möchte nicht, dass du zu – zu diesem Schurken gehst!«

Andreas lachte bitter. »Das muss ich Markus sagen, dass du ihn für einen Schurken hältst.«

»Untersteh dich. Das war nicht so gemeint.« Maria krallte verärgert ihre Fingernägel in die Innenseite der Handfläche. Sie verdrängte den Schmerz, den sie dabei verspürte.

Andreas wurde ernst. »Markus ist mein bester Freund. Er ist der einzige Mensch, außer dir, dem ich zu einhundert Prozent vertraue. Also, warum willst du nicht, dass ich zu ihm gehe? Du hast vorhin schon so komisch reagiert. Und ich halte dich für schlau genug, dass du Vaters Worte nicht ohne Grund nachplapperst.«

Maria schoss das Blut in die Wangen. Sie wich dem prüfenden Blick des Bruders aus. Es stimmte, Vater hielt Markus für einen Halunken. Das fand sie nicht, denn er war fleißig, ging als Holzknecht einer kräftezehrenden sowie gefährlichen Tätigkeit nach. Freunde hatte er wenige. Die Jahre im Krieg hatten ihn vorsichtig und zu einem Einzelgänger gemacht. Bloß die Freundschaft zu Andreas überdauerte die beschwerliche Zeit. Manchmal traf sie Markus zufällig im Dorf. Auch da war meist der Bruder an ihrer Seite, sodass sie bisher kaum ein Wort mit Markus gewechselt hatte. Seine blauen Augen! Es ist, als würden sie tief in meine Seele hineinschauen.

»Also?« Andreas langte mit dem Zeigefinger unter ihr Kinn, drehte Marias Gesicht ihm zu, damit sie ihn anschauen musste.

Was sollte sie jetzt sagen? Dass Markus ihr gefiel? Sich ihr Herzschlag beschleunigte, wenn sie ihn sah? Sie am liebsten mitkommen würde, wenn Andreas den Freund besuchte, aber Angst vor der Schelte der Eltern hatte? Es war so ungerecht, dass sich Andreas alle Freiheiten nehmen durfte, während sie wie ein kleines Kind ihre Erlaubnis einholen musste, obwohl sie gleich alt waren! »Er – er«, stotterte sie, »er sieht mich immer so seltsam an. Das macht mich nervös.«

Maria wappnete sich davor, dass ihr Bruder sie auslachen würde. Nein, stattdessen legte er sanft einen Arm um ihre Schulter. »Markus findet dich sehr nett. Ich hab ihm gesagt, dass du trotz deiner achtzehn Jahre zu unschuldig für eine Liebelei bist.«

»Eine Liebelei?«, echote Maria. Sie errötete heftig. »Du machst dich über mich lustig!«

Andreas’ Augen blitzten amüsiert. »Ich muss los.« Er drückte seiner Schwester einen Schmatz auf die Wange, ließ sie stehen und lief die Wiese hinab.

Sein Freund Markus Forcher wohnte etwa zwanzig Minuten per Fußmarsch von ihnen entfernt in einer Hütte am Waldrand. Andreas hatte ihm tatkräftig beim Bau der Baracke geholfen, die er auf dem heimischen Grund errichtet und gemütlich eingerichtet hatte. Sie bestand aus einem einzelnen Raum, den ein Holzofen wärmte. Es gab einen Tisch mit zwei Stühlen, ein paar Schränke, und einen Diwan, der als Schlafstätte diente. Wenn Vater üble Laune hatte, flüchtete er gerne zu seinem Freund. Das Plätzchen dort fühlte sich für ihn wie ein Stückchen Heimat an!

Als Andreas aus dem Sichtfeld entschwunden war, schlenderte Maria zu dem Ahornbaum, und ließ sich auf der Holzbank nieder. Neben ihr schlängelte sich ein Bächlein vorbei, es plätscherte unablässig über die Steine. Ihr Bruder war heute übergeschnappt! Zuerst trug er die Tasche, dann redete er von einer Liebelei. Jetzt der Abschiedsschmatz! Markus würde mich weniger brüderlich küssen! Wie es sich wohl anfühlt, wenn sich zwei Menschen lieben und einander zugetan sind? Allein der Gedanke daran ließ Marias Herz heftig klopfen. Ob ich das einmal erleben darf?

»Ist Andreas zu seinem Freund gelaufen?«, ertönte Margarethes Stimme.

Maria zuckte zusammen, war froh, dass Mutter nicht in ihren Kopf hineinschauen konnte. »Ja.« Sie stand rasch auf, um den für sie bestimmten Teller entgegenzunehmen.

»Das wird Vater gar nicht gefallen!«

Maria betrachtete verblüfft das Essen. Auf dem Holzteller befand sich Geselchtes und Sauerkraut. An einem normalen Wochentag! Normalerweise gab es Kartoffeln in den verschiedensten Variationen: Als Suppe, Knödel, Schmarren, mit Salz und Butter, oder mal als Salat. »Heute gibt es Fleisch?«

Das Gesicht der Mutter wirkte versteinert. »Mahlzeit.« Margarethe wandte sich ohne weitere Erklärung ab. Die zweite Portion, die für Andreas gedacht war, nahm sie mit.

Maria verharrte mit dem Teller in der Hand, sah verwirrt der Mutter nach, die Richtung Bauernhaus eilte. Sie realisierte erst jetzt, dass Margarethe das Sonntagsdirndl trug, das sie früher mehr ausgefüllt hatte und ein paar Abnäher an den Seiten vertragen würde. Dick war sie nie gewesen. Es schien, dass jedes Kilogramm, was der Vater mehr ansetzte, bei ihr verloren ging. Das Haar der Mutter war wie üblich unter einem Stofftuch versteckt und tief im Nacken zusammengebunden. Nur seitlich ragten vereinzelte graue Strähnen hervor. Maria seufzte. Vieles ging ihr durch den Kopf: Andreas, Markus, der sonderbare Besuch des Onkels.

 

Gerade jetzt sehnte sie sich danach, mit jemanden über ihre Bedenken und Sorgen zu reden! Aber Andreas war bei seinem Freund, und zu Dorli kam sie nicht. Mit Glück konnte sie mit ihr am Sonntag nach dem Kirchgang kurz quatschen.

Maria ließ sich auf der Bank nieder, platzierte den Teller auf ihrem Schoß. Viel Hoffnung hatte sie nicht auf ein solches Gespräch, denn auch da fehlte oft die Zeit, um sich ausführlicher auszutauschen. Und seit sich Dorli mit dem Briten traf, schwärmte sie ohnehin für den, wie eine liebestolle Kuh, wo kein anderes Thema Platz fand. Marias Eltern würden ihr nie erlauben, mit einem Mann auszugehen. Schon gar nicht mit einem von einer anderen Nationalität! Wobei, Markus würden sie noch weniger gutheißen!

In den Baumkronen zwitscherte ein Vogel sein Lied. »Si-si-si-si-süh«, erklang es trotz der heutigen Schwüle. Maria suchte nach ihm, entdeckte ein goldgelbes Köpfchen.

Ein Goldammer, wie schön! Sie kannte seinen Singsang gut. Jetzt in den heißen Sommermonaten, wo die Brutzeit der anderen Vögel vorbei war, verstummten viele Lieder, da sie nicht ihre Jungen und das Revier verteidigen mussten. Beim Goldammer verhielt es sich andersrum, er schien da zur Höchstform aufzulaufen.

Maria stocherte lustlos in ihrem Essen umher, schob das Fleisch von einer Ecke in die nächste. Sie lebte an so einem herrlichen Ort und fühlte sich dennoch eingesperrt! Könnt ich bloß einen Tag von meinen Verpflichtungen befreit sein, einmal neue Kleider statt diesem zerlumpten Gewand tragen! Tun und lassen was ich möchte! – Oje, schon wieder füllen mich all die neidigen Gedanken aus! Sei dankbar, sonst musst du bei der Beichte Abbitte tun!

Ihr Blick verschwamm, als sie zwischen den dichten Ahornblättern zu dem tiefblauen Himmel hindurchschaute. Jakob! Bist du da oben? Wachst du über uns? Was würde ich jetzt für deine Ruhe und Besonnenheit geben. Oder dafür, dass du zur steirischen Harmonika greifen könntest, um ein Lied zu spielen, das mich aufheitert. So wie früher, zwischen all den Knechten und Mägden, als ich mich heimlich in die Stube geschlichen habe. Dort war es lustig, ihr habt gesungen und getanzt!

Mit seinem Weggang verschwanden die fröhlichen Melodien, die zuvor unablässig gesummt wurden. Bis heute waren sie nicht mehr wiedergekehrt. Maria schob den Teller von sich. Sehnsüchtig hatten sie während des Kriegs auf Lebenszeichen von Jakob gewartet! Auf Briefe oder Postkarten. Insgesamt kamen zehn Stück davon, dann war es still geworden. Über Wochen und Monate zog sich die nervenaufreibende Ungewissheit, ehe eine Nachricht kam, in der er offiziell als vermisst gemeldet wurde. Auch da hofften sie noch.

Gefallen sollst du erst in einer der letzten Schlachten sein. – Wieso hast du nicht mehr geschrieben? Konntest du nicht? Wo warst du all die Zeit? In Gefangenschaft? Verletzt? Irgendwo an der Front, wo du keine Möglichkeit hattest, Nachrichten zu verfassen, oder wurden diese nicht weitergeleitet? Es tut noch immer weh, ohne dich zu sein!

Ob das die Eltern gebrochen hatte und sie noch kühler werden ließ? Zumindest trug Mutter seit damals diesen verbitterten Zug um ihre Lippen. Maria starrte hinüber zu dem Fahrzeug des Onkels. Alfons hatte es besser getroffen als sie! Hatte Vater ihn hergebeten? Was wollte er von ihm? Geld? Einmal hatte Maria das Wort finanzielle Probleme aufgeschnappt. Ihr Blick wanderte hinauf zu dem desolaten Fensterladen über das verwitterte Schwarzgrau des Holzes zur kaputten Glasscheibe im Obergeschoss. Der Kontrast zwischen dem neuwertigen Auto und dem Haus war enorm. Sie schaute an sich hinab, trug eine vergilbte Bluse, dazu den langen Sommerrock, am Saum mehrfach geflickt.

Es öffnete sich die Haustür. Die Eltern und Onkel Alfons traten ins Freie. Steif standen sie sich gegenüber. Sogar aus dieser Entfernung war es Maria bewusst, dass es sich um kein allzu freundschaftliches Gespräch gehandelt hatte. Alfons marschierte zu seinem Wagen, startete ihn. Dunkler Rauch stieg aus dem Auspuff empor.

Indes näherte sich Maria ihrer Familie. Da entdeckte ihr Onkel sie, winkte sie herbei und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, als ob er gar nicht bemerken würde, wie unpassend sie im Vergleich zu ihm gekleidet war.

»Fein, dass ich dich noch treffe«, meinte er einnehmend. »Ich habe für deinen Bruder und dich ein kleines Geschenk dagelassen.«

»Danke.« Maria war gefesselt von seinem selbstsicheren Auftreten. Der Steireranzug, den er trug, war aus edelstem Stoff. Am Beifahrersitz lag der dazu passende Hut. Eine Linie des akkurat gezogenen Rechtsscheitels im braunen Haar leuchtete hell entgegen. Da gab es keine Strähne, die sich in eine falsche Richtung verirrt hätte. Gegenüber dem Vater wirkte er um Jahrzehnte jünger, dabei war Alfons um drei Jahre älter! Am Handgelenk protzte zudem eine goldene Uhr.

»Ich hoffe«, fuhr ihr Onkel fort, »dass wir in Zukunft mehr Kontakt miteinander haben werden. Du bist ein hübsches Ding geworden. Wie doch die Zeit vergeht!«

Hübsch? Ich? Maria wich zurück. Sah er nicht, wie schäbig sie ausschaute? Sie hatte Schwielen an den Händen durch die harte Hofarbeit! Bestimmt wollte er bloß freundlich sein!

Alfons nickte ihr zur Verabschiedung zu, brauste davon. Die Autoreifen wirbelten eine Staubwolke auf, der Maria versuchte zu entkommen. Sie eilte an die Seite der Eltern. Als sie fragen wollte, was der Besuch auf sich hatte, kam Vater ihr zuvor.

»Das nächste Mal starrst du ihn nicht so unverschämt an!«

»Ich … ich … entschuldigen Sie bitte«, brachte Maria perplex hervor.

Als Kinder siezten sie den Vater. Adam bestand darauf, es war für ihn ein Zeichen des Respekts. Nur widerwillig duldete er, dass seine Frau Margarethe den Kindern eine vertrauliche Anrede gestattete. Breitbeinig stand Adam vor ihr, das Gesicht gerötet. An den Wangen entdeckte sie rot-violette Adern, die darauf hinwiesen, dass sein Herz angeschlagen war. Ein Gürtel hielt seine Hose zusammen, der obere Knopf ließ sich aufgrund der Leibesfülle nicht mehr schließen. Aufregung tat ihm gar nicht gut. Maria senkte den Blick, starrte auf ihre Fußspitzen, wollte keinesfalls den Vater reizen. Zudem stimmte es: Sie hatte Onkel Alfons angestarrt!

»Hol deinen Teller herüber!«, fauchte Mutter einen Atemzug später. »Oder denkst du, ich bin deine Dienstmagd!«

»Ja, Mutter.« Maria lief folgsam los. Ich hab nicht verlangt, bedient zu werden! Sie schnappte sich den Teller, kehrte um, bemerkte, dass Vater mit funkelnden Augen auf sie wartete.

Adams Hände waren zu Fäusten geballt. »Was sehe ich da? Du verschmähst das gute Essen!«

»Ich, ich …«, stotterte Maria. Da klatschte es auf ihrer Wange. Sie taumelte zurück, der Holzteller fiel auf die Erde, die Essensreste verteilten sich im Dreck. Ihre Hand glitt zur brennenden Wange. Sie starrte mit aufgerissenen tränenschimmernden Augen den Vater an, beachtete das Malheur am Boden nicht. Geschlagen hatte er sie seit Jahren nicht mehr!

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte Adam ab. Margarethe folgte, so als ob es diesen Vorfall nicht gegeben hätte. Maria blieb geschockt stehen. Die Eltern wurden ihr zunehmend fremder, während sich Onkel Alfons benahm, als wäre er ein Freund! Was für eine Not musste dahinterstecken, dass sie die Nerven verloren?

Sie halten uns nach wie vor für Kinder! Egal, um welches Geschäft es sich handelte, für Vaters Laune war das keineswegs zuträglich! Maria bückte sich. Über das Geselchte hatten sich mittlerweile die Hofkatzen hergemacht. Mit einem dünnen Ast schob sie das übriggebliebene Sauerkraut auf den Teller zurück, um es später an die Schweine zu verfüttern. Mit dem säuerlichen Essensgeruch in der Nase stand sie auf, hielt kurz inne. Sie blickte hoch zu den Wolken, die dabei waren, sich aufzutürmen. Ob es an der schwülen Hitze lag, dass heute alle durchdrehten? Sie hoffte, ein Regen brächte bald Abkühlung!

Maria hastete in den Flur, sie wollte den Eltern möglichst nicht begegnen. Dabei wäre sie beinahe über zwei große Pakete gestolpert, die mit buntem Papier umwickelt waren. Sind das die Geschenke, von denen Onkel Alfons gesprochen hat? Sie blinzelte ungläubig. Allmählich gewöhnte sie sich an die Dunkelheit im Inneren des Hauses, die hellen Lichtpunkte in den Augen hatten ihr keinen Streich gespielt. Aus der Stube drangen dumpf die aufgebrachten Stimmen ihrer Eltern. Sie stritten, was seit dem letzten Dreivierteljahr häufig vorkam.

Maria las die Etiketten an den Geschenken, eines war für Andreas, das andere für sie. Was sich wohl in ihrem Paket drinnen befand? Zuvor wollte Maria allerdings rasch die Hühner und die Schweine versorgen, dann bräuchte sie nachher nicht mehr in den Stall.

Nach getaner Arbeit nahm Maria ihr Paket ächzend hoch. Es war schwer. Über die Treppe gelangte sie in den oberen Stock, wo ihr Zimmer linksseitig lag. Sie platzierte das Präsent auf ihrem Tisch, fuhr über das glatte Papier, das ein florales Muster aufwies. Achtsam löste sie es an den Klebestellen und versuchte, es möglichst nicht zu beschädigen. Danach faltete sie das Einpackpapier fein säuberlich zusammen, strich dabei die Knicke flach. Erst jetzt öffnete Maria die braune Schachtel, hob den Deckel an.

»Oh!« Es leuchtete ihr ein hellblaues Kleid entgegen. Entzückt nahm sie es hoch, schmiegte den weichen Stoff an ihre Wange. Doch es gab mehr zu entdecken. Maria beförderte neue Schuhe mit Absatz hervor. Am Berg waren die nicht zu gebrauchen, aber ihr Rock würde beim Tanz herrlich damit schwingen! Falls die Eltern sie dorthin gehen ließen! Dazu gab es einen gelben Seidenschal, den sie gleich um den Hals schlang. Ein filigranes Nachthemd ließ ihr die Röte ins Gesicht schießen!

Markus könnte das gefallen! Sie rang nach Atem. Du verrückte Kuh! Der ist an dir Küken sicher nicht interessiert!

Zuunterst lag ein schwarzes Köfferchen. Neugierig drückte sie auf die Schließe, die sogleich aufsprang. Vor ihr breitete sich eine Sammlung aus verschiedenfarbigen Lidschatten, Lippenstifte sowie Nagellacke aus. Ich träum bestimmt! Maria zwickte sich sicherheitshalber in den Arm. Der Schmerz war echt! Die wollte sie später ausprobieren!

Maria schälte sich aus den alten Klamotten, zog das blaue Kleid über, und schlüpfte in die hochhackigen Schuhe, die sich eng an ihre Füße schmiegten. Sie ging kichernd ein paar wackelige Schritte, kam sich wie eine Prinzessin aus einem Märchen vor. Sachte strichen ihre Finger dem seidigen Stoff entlang. Sie drehte sich vor dem Spiegel im Zimmer, der einige blinde Stellen aufwies, ihr dennoch offenbarte, wie hübsch sie im Gewand aussah. An der Taille saß das Kleid etwas zu locker, aber mit einem Gürtel, musste sie es nicht einmal abnähen. Es endete eine Handbreit unter ihren Knien, gewährte einen Blick auf ihre schlanken Fesseln.

Onkel Alfons hatte auf Anhieb die passende Größe getroffen, wie konnte das sein? Maria fand keine Antwort darauf. Sie schlüpfte aus dem herrlichen Kleid, drapierte es über die Stuhllehne, damit es keine Knitterfalten bekam. Stattdessen zog sie das Nachthemd an. Sie fühlte die sanfte Spitze auf der nackten Haut, als ob sie jemand liebkosen würde. Maria glitt unter die Leinendecke ins Bett. Lächelnd schlief sie ein und träumte davon, wie Markus mit ihr über das Parkett wirbelte – sie in ihren hochhackigen Schuhen und dem seeblauen Kleid!